Der Jahrestag des Mordes an Ministerpräsident Yitzhak Rabin jährt sich nun zum 30. Mal. Mit ihm verschwand ein Politiker, der einen Politikstil pflege, den man aus heutiger Perspektive schmerzlich vermisst: Glaubwürdigkeit und eine Abneigung, die echte und vermeintliche Erfolge prahlerisch zu feiern, sowie die Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Handeln zu übernehmen.
Von Ralf Balke
„They Ain’t Making Jews like Jesus Anymore“, lautet der Titel eines Songs von Kinky Friedman, dem berühmt-berüchtigten jüdischen Countrysänger und Schriftsteller aus Texas. „They Ain’t Making Politicians like Yitzhak Rabin Anymore“ dagegen könnte der Titel eines Klagelieds lauten, gesungen von vielen Israelis, die entweder entsetzt oder nur noch frustriert über das Agieren der meisten Mitglieder in der Regierung, aber auch in der Opposition sind. Angesichts von Inkompetenz, Hybris sowie einer Selbstbedienungsmentalität und der weit verbreiteten Haltung, über allen Gesetzen zu stehen, blickt man geradezu nostalgisch auf Politiker zurück, die für ihr Fehlverhalten irgendwie noch Verantwortung zu übernehmen bereit waren.
Yitzhak Rabin gehörte definitiv dazu. 1977 trat er als Ministerpräsident zurück, nachdem bekannt wurde, dass seine Frau Leah noch zwei Dollar-Konten in den Vereinigten Staaten besaß, und zwar aus der Zeit, in der Yitzhak Rabin Botschafter Israels in Washington war. Damals waren solche Devisenkonten im Ausland für Israelis verboten. Damit war sein erster größerer Ausflug an die Spitze der Politik vorzeitig vorbei. Seine zweite Amtszeit als Ministerpräsident, die 1992 begann, endete dagegen tödlich. Am 4. November 1995, also vor genau 30 Jahren, wurde Yitzhak Rabin von Yigal Amir, einem extremistischen Anhänger der nationalreligiösen Siedlerbewegung, nach einer Rede in Tel Aviv ermordet.

Eine andere Episode aus seiner Biografie verdeutlicht ebenfalls die Grundhaltung von Yitzhak Rabin, sich nicht prahlerisch selbst zu inszenieren – unabhängig davon, welche Erfolge oder auch Niederlagen er persönlich erlebte. Denn der 1922 in Jerusalem geborene Yitzhak Rabin war im Mai 1967 Generalstabschef der israelischen Streitkräfte, also zu einer Zeit, in der die politische und militärische Lage in Region mehr als nur angespannt schien. Ägyptens Präsident Gamel Abdel Nasser hatte damals Truppen in den Sinai verlegt, woraufhin UN-Generalsekretär U Thant anordnete, dass die UN-Waffenstillstandsbeobachter sich aus dem israelisch-ägyptischen Grenzgebiet zurückziehen sollten. Yitzhak Rabin berichtete 1992 in einem Gespräch mit der Zeitung „Hadashot“, dass er in diesen Tagen unter massiven Druck stand. So habe die Verantwortung dafür, dass die israelische Armee jederzeit kampfbereit zu sein habe, vollständig auf seinen Schultern, sagte er. Eines Nachts in diesem Monat bestand seine Frau Leah darauf, dass er sich dringend ausruhen müsse. Sie rief einen Militärarzt, der ihm ein Beruhigungsmittel verabreichte. Rabin sagte, er habe die nächsten 24 Stunden geschlafen, um wieder zu Kräften zu kommen. Kurzum, er hatte einen kurzzeitigen Nervenzusammenbruch erlitten. Yitzhak Rabins 24-stündiger Aussetzer war zwar seit 1974 bekannt, weil General Ezer Weizman, der 1967 stellvertretender Generalstabschef war, diesen öffentlich gemacht hatte. Ezer Weizman versuchte damals, die Arbeitspartei davon zu überzeugen, Shimon Peres anstelle von Yitzhak Rabin als ihren Vorsitzenden zu wählen, kam aber nicht damit durch. „Erstens war Rabin ein Humanist, ein Soldat, für den der Gedanke, dass er einen Krieg ausgelöst haben könnte, der Tausende von Todesopfern fordern würde, Anlass für einen Nervenzusammenbruch war“, lautet auch das Urteil des prominenten Journalisten Amotz Asa-El in der „Jerusalem Post“. „Und zweitens war Rabin bescheiden. Macht war für ihn kein alleiniges Ziel, und als er der Meinung war, dass die Umstände seinen Rücktritt erforderten, war er bereit, die Bühne zu verlassen, sei es als Armee-Kommandeur im Mai 1967 oder als Premierminister im Mai 1977.“
Im krassen Gegensatz zu dem Führungsstil, an den sich Israel in den vergangenen Jahren – freiwillig oder unfreiwillig – gewöhnen musste, war ihm die bombastische Selbstinszenierung absolut fremd. „Sogar als er sich an der gerade erst befreiten Klagemauer von Mikrofonen, Kameras und bewundernden Soldaten umgeben sah und die Welt ihn plötzlich zu einem der größten Militärführer der Geschichte erklärte, ließ sich Rabin nicht zu prahlerischen Aussagen wie „Soldaten! Ihr habt eure Adler mit ewigem Ruhm geschmückt!<, wie Napoleon nach Austerlitz sagte, hinreißen. Stattdessen zitierte Rabin Jesajas zeitlose Worte des menschlichen Mitgefühls und der jüdischen Erinnerung: >Tröstet, tröstet mein Volk<.“ Für ihn gab es kein Siegestaumel, auch in der Stunde des Triumphs gedachte er der Gefallenen in den eigenen Reihen, aber auch denen der Gegner.
Worte wie Benjamin Netanyahus Ankündigung von Ende 2023, bis zum „totalen Sieg“ zu kämpfen, wären ihm nie über seine Lippen gekommen – was aber keinesfalls an Yitzhak Rabins Fähigkeiten Zweifel aufkommen lassen sollte, dass nicht auch er zu entschlossenem Handeln, militärischer Initiative und Ähnlichem fähig war. Angesichts der Tatsache, dass in Artikeln, TV-Sendungen oder sonstigen publizistischen Beiträgen, die anlässlich des Jahrestags seiner Ermordung erscheinen, immer wieder auf Yitzhak Rabins Rolle als Gestalter eines Neuen Nahen Ostens und als mutigen Wegbereiter hin zu einer Versöhnung zwischen Palästinensern und Israelis verwiesen wird, scheint es vor dem Hintergrund der Ereignisse der vergangenen zwei bis drei Jahre um so wichtiger, noch einmal auf den Politikstil zu verweisen, der mit seiner Person verbunden war.
Ein weiteres Beispiel für seine Integrität und Bereitschaft, bei Fehlentscheidungen Verantwortung zu übernehmen: die Befreiung der israelischen Geiseln 1976 in Ugandas Hauptstadt Entebbe. Für den Fall, dass die Operation schiefgelaufen wäre, hatte ein Ministerpräsident Yitzhak Rabin sein Rücktrittsschreiben bereits vorformuliert in der Schublade liegen. Bekanntermaßen verlief das Ganze erfolgreich.
30 Jahre nach der Ermordung von Yitzhak Rabin ist Israel ein anderes Land geworden. Dafür gibt es ganz banale Gründe. Zum einen kennt mehr als die Hälfte der Bevölkerung den legendären Ministerpräsidenten nur noch aus Erzählungen oder den Geschichtsbüchern. Sie waren im Jahr 2005 entweder noch nicht geboren oder aber kleine Kinder. Auch die meisten politischen Wegbegleiter von Yitzhak Rabin aus dieser Epoche sind mittlerweile verstorben, beispielsweise Shimon Peres oder Ariel Sharon, oder haben sich in den Ruhestand verabschiedet. Nur einer aus dieser Zeit ist weiterhin präsent, und zwar der aktuelle Ministerpräsident Benjamin Netanyahu, der bereits wenige Monate nach der Ermordung von Yitzhak Rabin im Alter von 46 Jahren diesen Posten übernommen hatte. Heute ist er 76 Jahre alt und denkt immer noch nicht ans Aufhören. Geht es nach Benjamin Netanyahus Vorstellungen, will er auch im kommenden Jahr bei den für Oktober geplanten Wahlen zur Knesset noch einmal antreten und natürlich gewinnen, und das mit allen Mitteln.
Benjamin Netanyahu war es auch, der mit zu dem Klima der Gewalt beigetragen hatte, das letztendlich zur Ermordung von Yitzhak Rabin führte. So stand der damalige Shooting Star der Opposition am 4. März 1994 eine Demonstration gegen den Friedensprozess von Oslo vor, wobei ein Sarg mit der Aufschrift „Rabin tötet den Zionismus“ mitgetragen wurde. Ob der Sarg für den Zionismus oder für Rabin stand, das war eine Frage der Interpretation. Aber die Formel, dass ein Ministerpräsident, der den Zionismus tötet, ein Verräter ist, wurde auf diese Weise mitgeprägt. Yitzhak Rabin-Mörder Yigal Amir begründete jedenfalls später so seine Tat auch. Zudem verglich Benjamin Netanyahu in der „New York Times“ im Oktober 1994 Yitzhak Rabin mit Neville Chamberlain, und zwar unmittelbar nach einem Terroranschlag mit 21 israelischen Opfern in Tel Aviv. „Premierminister Rabin hat sich dafür entschieden, Arafat und das Wohlergehen der Menschen in Gaza über die Sicherheit der israelischen Bürger zu stellen.“ Angesichts der Geldkoffer, die mit Benjamin Netanyahus Genehmigung über viele Jahre hinweg aus Katar über Israel in der Hamas im Gazastreifen gelangten, haben diese Zeilen aus heutiger Perspektive einen besonderen Beigeschmack.

Und noch etwas war in Israel im Jahr 1995, aber selbst vor fünf Jahren, als man dem 25. Jahrestag der Ermordung von Yitzhak Rabin gedachte, noch anders: Sogar in der pessimistischen Dystopie hätte sich kaum jemand vorstellen können, dass Extremisten, die damals Jagd auf den Ministerpräsidenten gemacht hatten, heute in einer israelischen Regierung sitzen können. Gemeint damit ist Itamar Ben Gvir, der bereits als Jugendlicher politisch so auffällig geworden ist, dass die Armee ihn nicht zum Militärdienst einziehen wollte. Wenige Wochen vor der Gewalttat von Yigal Amir präsentierte ein damals 19-jähriger Itamar Ben Gvir vor laufenden Kameras das abgebrochene Emblem des Cadillacs des Ministerpräsidenten und erklärte: „Wenn wir seinen Wagen kriegen, dann kriegen wir ihn bald auch.“ Eine offene Morddrohung, die bald Realität werden sollte. Heute sitzt Itamar Ben Gvir als Minister für Nationale Sicherheit im Kabinett von Benjamin Netanyahu. Auch so eine Personalie wäre vor dem 4. November 1995 undenkbar gewesen, erst recht in einem Kabinett mit Yitzhak Rabin an der Spitze.



