Der Friedensplan von US-Präsident Donald Trump hat trotz der Angriffe von Hamas-Terroristen auf israelische Soldaten weiter Bestand. Dennoch kehrt in Israels Gesellschaft nach über zwei Jahren Ausnahmezustand keine Ruhe ein. Dafür gibt es gleich mehrere Gründe.
Von Ralf Balke
Einigkeit ist normalerweise keine Stärke der Haredim. Denn eigentlich sind sich die Anhänger der zahlreichen Rabbinerdynastien und Studenten der unzähligen Yeshivot mit ihren verschiedenen Auslegungen von Torah und Religionsgesetzen untereinander spinnefeind. Wenn es aber um ein Thema geht, und zwar die Beendigung der faktischen Befreiung von der Wehrpflicht, zeigen sie plötzlich einen beeindruckenden Zusammenhalt. So auch am Donnerstag, als etwa 200.000 ultraorthodoxe Männer den Zugang zu Jerusalem blockierten, um gegen die Reform dieser Ausnahmeregelung auf die Straße zu gehen. Im Verlauf ihrer Demonstration griffen sie Journalisten an und belästigten Passanten – auch mit der Polizei kam es zu gewalttätigen Auseinandersetzungen. Einige junge Haredim erklommen Baukräne, Tankstellendächer sowie ein sich im Bau befindliches Hochhaus im Zentrum von Jerusalem. Dabei stürzte ein 20-jähriger Mann in die Tiefe und starb, weshalb die Demonstration ein rascheres Ende als geplant nahm. Später stellte sich heraus, dass er wohl Suizid beging.
Der Protest war zugleich auch als Reaktion auf das verschärfte Vorgehen gegen junge Haredim angekündigt, weil in den vergangenen Monaten rund 870 von ihnen, die der Einberufung zum Militär nicht gefolgt waren, Ärger mit der Justiz bekamen. Dabei spiegeln diese Zahlen die sehr zurückhaltende Sanktionierung von Wehrdienstverweigerern wider. Denn es sind nur knapp über zehn Prozent der etwa 7.000 Männer, die ihrem Einberufungsbescheid derzeit nicht Folge leisten wollten. Auch ist der Streit keinesfalls neu, sondern beschäftigt die Politik und die Gesellschaft seit Jahren – bereits im Juni 2023 ist die entspreche Klausel im Gesetz über den Wehrdienst abgelaufen, weshalb im Jahr darauf der Oberste Gerichtshof entschieden hatte, dass die Regierung dazu verpflichtet sei, mit ihrer Einberufung zu beginnen. Und weil diese Woche im Außen- und Verteidigungsausschuss der Knesset einen weiterer, überarbeiteter Gesetzentwurf zur Regelung der Wehrpflicht zur Diskussion steht, beschlossen die Anführer der verschiedenen ultraorthodoxen Gruppierungen, gemeinsam im Vorfeld dagegen zu protestieren.
Genau diese Reform der Ausnahmeregelung versucht Ministerpräsident Benjamin Netanyahu aber seit Jahren zu verhindern, wohl wissend, dass seine beiden haredischen Koalitionspartner, die Shass-Partei sowie das Vereinigte Torah-Judentum ihm ansonsten den Laufpass geben. Und es war nicht zuletzt der Dissens in dieser Frage mit dem Premier, warum angefangen von Verteidigungsminister Yoav Gallant bis hin Yuli Edelstein, der im Verteidigungsausschuss der Knesset saß, alle ihren Hut nehmen mussten, weil der Status quo aus ihrer Sicht unhaltbar geworden ist. Gleichzeitig – und das verleiht dieser Diskussion zusätzliche Relevanz – gibt es aufgrund des seit zwei Jahren geführten Kriegs im Gazastreifen oder Südlibanon nicht nur einen erhöhten Bedarf an Soldaten, weil durch Todesfälle, Verletzungen oder sonstigen Gründen Tausende junger Israelis nicht mehr für Einsätze zur Verfügung stehen. Zudem haben auch viele Reservisten in dieser Zeit kaum die Uniform ausziehen können, befinden sich quasi im Dauereinsatz und sind damit enormen wirtschaftlichen, sozialen und psychischen Belastungen ausgesetzt. Hatte man vor dem 7. Oktober 2023 die seit Jahrzehnten existierende Ausnahmeregelung zähneknirschend hingenommen, ist ein großer Teil der israelischen Gesellschaft nicht mehr bereit, diese zu akzeptieren.
Geradezu emblematisch zeigt sich dieser Konflikt in einem Video, das ein Reservist am Donnerstag im Yitzhak-Navon-Bahnhof in Jerusalem aufgenommen hatte: Auf der Rolltreppe abwärts sieht man zahlreich Soldaten in Uniform, links von ihnen fahren aber gerade unzählige junge Haredim hoch, beide Gruppen blicken irritiert aufeinander. Yair Golan, Vorsitzender der Partei „Die Demokraten“ teilte das Video in den sozialen Medien und forderte, dass die Militärpolizei erscheinen sollte, um zu überprüfen, wer von Demonstranten gerade einer von denen ist, die ihre Einberufungsbescheide ignorieren. Man solle die jungen Männer „wählen lassen, Teil der Nation zu sein, oder den Preis dafür zu zahlen“.
Teilnehmer des Protests dagegen trugen Schilder mit der Aufschrift: „Hier ist Russland“ oder „Stalin ist hier“, skandierten Slogans wie „Verdammte Zionisten“ und machten auch ansonsten über ihre ablehnende Haltung zu dem Staat, der ihre Stipendien bezahlt, keinen Hehl. Darüber hinaus waren einige mit Transparenten unterwegs, die sie wohl von den Protesten gegen die Regierung seitens der Angehörigen der Geiseln entwendet hatten, auf denen „Bringt die Geiseln zurück, bringt Hoffnung zurück“, um so gegen die Inhaftierung haredischer Wehrdienstverweigerer zu mobilisieren. Dieses Kapern von Slogans und Symbolen der Bewegung, die sich über zwei Jahre für eine Befreiung der Geiseln aus der Gewalt der Hamas stark gemacht hat, könnte einer Yeshiva, die dabei besonders auffällig war, nun teuer zu stehen kommen: Das Forum der Familien der Entführten hat sie auf einen Schadensersatz von 400.000 Schekel, umgerechnet über 100.000 Euro, verklagt.
Das Thema Wehrpflicht für Haredim wird weiterhin für Unruhe sorgen und birgt enormen politischen Sprengstoff. Denn die absolute Mehrheit der Israelis ist dafür, dass die Ausnahmeregelung abgeschafft wird und junge Ultraorthodoxe sanktioniert werden, wenn sie nicht zum Wehrdienst erscheinen: Laut einer Umfrage des Israel Democracy Institute vom Juli wollen das 84,5 Prozent aller Israelis, fragt man säkulare Israelis, sind es sogar 98 Prozent. Selbst traditionell-religiös eingestellten sind es 51,5 Prozent. Des Weiteren sorgen aktuelle Personalentscheidungen für weitere Irritationen. So wurde Yuli Edelstein in dem Gremium, dass wichtige Entscheidungen in dieser Frage vorbereitet, und zwar dem Außen- und Verteidigungsausschuss der Knesset, ausgerechnet durch Tally Gotlib ausgetauscht. Diese Likud-Abgeordnete im Parlament ist nicht nur für ihre verbalen Ausfälle und ein extrem erratisches Verhalten bekannt wie auch berüchtigt, sie hat auch ein flexibles Verhältnis zur Schweigepflicht. So machte sie den Namen eines hochrangigen Shin Bet-Agenten öffentlich, nur weil dieser mit einer Aktivistin der Anti-Regierungsproteste, Shikma Bressler, liiert ist, weshalb sie sich ein Untersuchungsverfahren einhandelte. „Niemand im Ausschuss wird mehr frei sprechen können, und die für das Verteidigungswesen so wichtige zivile Kontrolle wird nicht mehr existieren“, erklärte dazu stellvertretend für viele andere Naftali Bennett. „Diese Entscheidung muss sofort rückgängig gemacht werden.“
Nicht nur deshalb ist Naftali Bennett, der ebenfalls gegen die Ausnahmeregelung für Haredim ist und gerade an seinem politischen Comeback arbeitet, ebenfalls in die Schusslinie der Regierung geraten. Vor einigen Tagen wurde eine Gesetzesinitiative auf den Weg gebracht, die dem ehemaligen Ministerpräsidenten, der eine neue Partei gegründet hat und in den Umfragen aus dem Stand heraus gute Ergebnisse erzielen konnte, quasi als Konkurrenten von Benjamin Netanyahu neutralisieren soll. Demnach sollen Vorsitzende von Parteien, die in den vergangenen Jahren aufgelöst wurden, persönlich für eventuell noch bestehende Altschulden bezahlen, bevor sie Gelder für den Wahlkampf ihrer neuen Partei mobilisieren dürfen. Yamina und HaBeit HaYehudi, zwei Parteien, denen Naftali Bennett in der Vergangenheit vorgestanden hat, haben noch Altschulden in Höhe von 17 Millionen Schekel, umgerechnet etwa 4,3 Millionen Euro, beziehungsweise drei Millionen Schekel, ungefähr 800.000 Euro. Als Reaktion auf das geplante „Anti-Bennett-Gesetz“ betonte der Vorsitzende von Blau-Weiß, Benny Gantz, dass es zwar „richtig sei, das Gesetz so zu ändern, dass ein Parteivorsitzender nicht unter einem anderen Namen kandidieren und Millionen an Schulden auf Kosten der Öffentlichkeit hinterlassen kann, wie es bei Naftali Bennett und anderen vor ihm der Fall war, es aber keinesfalls in Ordnung ist, ein solches Gesetz rückwirkend und in persönlicher Weise zu erlassen.“ Gleichzeitig gibt es eine weitere Gesetzesinitiative, die Verfahren gegen einen Ministerpräsidenten oder Minister deutlich erschweren soll. Und die Einrichtung einer von der Bevölkerung sowie dem Sicherheitsapparat geforderten staatlichen Untersuchungskommission, die die Umstände, die zu den Ereignissen vom 7. Oktober 2023 führten, auf den Grund gehen soll, wird seitens Benjamin Netanyahu weiter blockiert.
Last but not least gibt es eine Personalie, die mehr als nur Stirnrunzeln verursachte. So wurde bekannt, dass man Yair Netanyahu, Sohn des amtierenden Premiers, einen hohen Posten in der World Zionist Organisation verschaffen möchte, und zwar als Direktor der Informationsabteilung. Netanyahu junior, der seit geraumer Zeit in Florida residiert, ist bis dato weniger durch die Übernahme politischer Verantwortung aufgefallen als durch seine Parteinahme zu rechtsnationalen Gruppen in den Vereinigten Staaten und anderswo, weshalb er eher als ein Internet-Troll gilt. „Als sein Name bekannt gegeben wurde, verstummten alle Diskussionen auf dem Kongress der World Zionist Organisation. Alle waren schockiert über diese Entscheidung, und alle Absprachen sind derzeit in Gefahr“, hieß es dazu aus dem Umfeld der Yesh Atid-Partei. Denn sollte diese Personalie Realität werden, würde Yair Netanyahu auf Kosten des israelischen Staates ein Büro mitsamt Mitarbeiterstab sowie eine Limousine erhalten.
Es sind genau diese Debatten, die Israel in naher Zukunft nicht zur Ruhe kommen lassen und dafür sorgen, dass der gesellschaftliche Heilungsprozess in Gang kommt, den das Land so dringend bedarf. Sehr wahrscheinlich ist dies erst nach den nächsten Wahlen zur Knesset und einem Wechsel an der Spitze der Regierung möglich.



