Wohin jetzt?

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Ausstellungsansicht „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“, Rafael Goldchain "I Am My Family". Foto: Eva Jünger / Jüdisches Museum München

Ein künstlerisch-forschender Programmschwerpunkt zu jüdischer Geschichte und Gegenwart

Die Frage „Wohin jetzt?“ stellten sich um die zweihunderttausend europäische Jüdinnen und Juden nach ihrem Überleben und ihrer Befreiung aus Ghettos, Konzentrationslagern und Verstecken im Jahr 1945. Sie nannten sich „Schejres Haplejte“ – „der gerettete Rest“. Große Teile ihrer Familien wurden in den Jahren zuvor von den Nationalsozialisten und ihren Helfern ermordet. Für die Alliierten waren sie schlicht Displaced Persons (DPs). In den ersten Nachkriegsjahren strebten viele DPs in die amerikanische Besatzungszone. Und auch wenn viele Jüdinnen und Juden ab 1948 in den neu gegründeten Staat Israel auswanderten: Aus den DP-Lagern formierte sich nach der Shoah auch eine neue jüdische Gemeinschaft in Deutschland. Doch die Geschichten jüdischer Displaced Persons wurden im Nachkriegsdeutschland kaum erzählt, ihre Perspektive fand keinen Platz im öffentlichen Erinnern. Der Nationalsozialismus war offiziell vorbei – und dennoch ging es für Jüdinnen und Juden weiter darum, in einer mehrheitlich feindseligen Umgebung unter Tätern zu bestehen.

Heute, 80 Jahre nach dem Ende der NS-Herrschaft, stellen wir die Frage „Wohin jetzt?“ neu – in einer Zeit, in der jüdisches Leben in Deutschland zunehmend von israelbezogenem Antisemitismus und Judenfeindlichkeit bedroht ist, in der die Erinnerung an die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden politisch umkämpft und die Demokratie selbst von vielen Seiten unter Druck geraten ist.

Verschiedene Kooperationspartner – erweiterte Perspektiven

Ein Projekt der Münchner Kammerspielen und des Instituts für Neue Soziale Plastik in Kooperation mit dem Jüdischem Museum München und der Monacensia München

Von Oktober bis Dezember 2025 realisieren die Münchner Kammerspiele und das Institut für Neue Soziale Plastik in Kooperation mit dem Jüdischen Museum München, der Monacensia und weiteren Partner*innen den Programmschwerpunkt „Wohin jetzt?“ – ein künstlerisches Forschungsprojekt, gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes. Ziel ist es, das Verhältnis jüdischer Perspektiven, nicht-jüdischer Biografien und öffentlicher Erinnerungskultur neu zu befragen. Wie wird das Wissen über 1945 – diesen fundamentalen Umbruchsmoment – heute und insbesondere an die junge Generation vermittelt? Welche Brüche, Leerstellen und Umdeutungen zeigen sich in der Gegenwart? Welche Stimmen fehlen – und wie lassen sie sich hörbar machen?

Dabei ergänzen Theater, Museum und Literaturarchiv gegenseitig ihre Perspektiven und spannen damit einen weiten Blickwinkel auf:

„Seit Beginn ihrer Intendanz befassen sich Barbara Mundel und ihr Team mit der Geschichte und Verantwortung der Münchner Kammerspiele – insbesondere in Bezug auf die Geschichten einstiger Mitarbeiter*innen jüdischer Herkunft (schicksale.muenchner-kammerspiele.de). Erinnerung wird nicht nur dokumentiert, sondern performativ, digital und diskursiv neu verhandelt. In der Reihe „Schreiben über die Situation“ werden Texte von Autor*innen und Dramatiker*innen jüdischer Herkunft präsentiert, die sich mit der aktuellen Lage, insbesondere nach dem Terrorangriff der Hamas auf Israel, auseinandersetzen.“ (Viola Hasselberg, Münchner Kammerspiele)

„Seit der präzedenzlosen Eskalation des Judenhasses im Nachgang zum Hamas-Massaker am 7. Oktober 2023 treibt die Frage „Wohin jetzt?“ immer mehr Jüdinnen und Juden in Deutschland, Europa und Nordamerika um. Auch die Menschen in Israel fragen sich zunehmend, ob ihr Land noch eine sichere Heimstatt ist. Das Programm „Wohin jetzt?“ erzählt von den Erfahrungen jüdischer Displaced Persons, die sich nach der Schoa fragten, wo ein Leben in Freiheit und Sicherheit überhaupt möglich sein könnte – und setzt sie in Beziehung zur jüdischen Gegenwart.“ (Stella Leder, Institut für neue Soziale Plastik)

„Für das Jüdische Museum München ist die Nachkriegszeit ein zentrales Forschungsthema. München war nach 1945 eine inoffizielle Hauptstadt der jüdischen Überlebenden aus Osteuropa. In vielen Ausstellungen wurden ihre Geschichten erzählt. Auch gerieten Orte der Überlebenden in München und Umland wie zum Beispiel Föhrenwald und St. Ottilien in den Fokus der Recherche. Wir freuen uns das Projekt „Wohin jetzt?“ begleiten zu können, in dem das DP-Camp in Feldafing und die Persönlichkeit Philipp Auerbach, Überlebender und „Staatskommissar für rassisch, religiös und politisch Verfolgte“, auf der Theaterbühne erinnert werden. Das jüdische Museum spannt den Bogen dann mit der aktuellen Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ weiter in die Gegenwart. Und wie damals stellt sich die Frage „Wohin jetzt?“. (Jutta Fleckenstein, Jüdisches Museum München)

„Jüdisches Leben und Schreiben in München nach 1945 stehen im Mittelpunkt unseres Programms. Von unserem Sitz in Bogenhausen aus richten wir den Blick auf internationale Zusammenhänge und persönliche Hintergründe dieser Rückkehr. Wir stützen uns auf Erkenntnisse aus der Erforschung der Geschichte unseres während der NS-Zeit enteigneten Hauses sowie auf Bestände des Literaturarchivs der Monacensia – allen voran das Archiv Salamander. Im Programm „Wohin jetzt?“ übersetzen wir dieses Wissen in Stadtspaziergänge, Lesungen, Workshops und Gespräche – hörbar, erfahrbar, nachvollziehbar.“ (Anke Buettner, Monacensia München)

Das Programm

Zwischen Oktober und Dezember 2025 finden in den Münchner Kammerspielen, dem Jüdischen Museum, der Monacensia und verschiedenen anderen Orten vielseitige Veranstaltungen statt.

–> Zum vollständigen Programm

Darunter:

URAUFFÜHRUNGEN

Zeit ohne Gefühle I Do, 30.10.2025, 19.30 Uhr I Therese-Giehse-Halle
Eine Erzählung aus Feldafing über uns alle von Lena Gorelik
Regie: Christine Umpfenbach 

Play Auerbach I Do, 4.10.2025 I Schauspielhaus
Eine Münchner Erinnerungsrevue
Von Avishai Milstein
Regie: Sandra Strunz

FILME

Aus der ehemaligen Sowjetunion nach Deutschland
Kurzfilme von Mila Zhluktenko, Dina Velikovskaya, Evgenia Gosterer, Arkadji Khaet mit anschließendem Artist Talk

„Jüdische Perspektiven auf Nachkriegsdeutschland“
Dokumentarfilme von Jeanine Meerapfel, Yael Reuveny, Alexa Karolinski mit anschließendem Artist Talk

„Aus Äthiopien und der ehemaligen Sowjetunion nach Israel“
Filme von Salomon Chekol, Aäläm-Wärqe Davidian,  Margarita Linton, Yaniv Linton, Yael Kipper, Ronen Zaretsky und anschließendem Artist Talk

KONZERTE

„Die Goldberg-Variationen“ – Orchesterkonzert des Jewish Chamber Orchestra

LITERATURLESUNGEN UNG GESPRÄCHE U.A.

„Mir zenen do!“ Lesung aus Texten der „Schejres Haplejte“ mit Rachel und Beno Salamander in jiddischer und deutscher Sprache

„Alte Verstrickungen – wie das Schweigen der Nachkriegsgesellschaft den Blick auf die Ukraine prägt“ – Lesung und Diskussion mit Marko Martin und Francesca Melandri

„Russische Spezialitäten“ Lesung und Gespräch mit Dimitrij Kapitelman und Erica Zingher

„On the situation of the Jews after October 7“ Eva Illouz und Rachel Salamander im Gespräch zur Situation der Juden nach dem 7.  Oktober

AUSSTELLUNGEN UND SPARZIERGÄNGE

Die Ausstellung „Die Dritte Generation. Der Holocaust im familiären Gedächtnis“ setzt sich mit der Frage transgenerationaler Traumata und dem emotionalen Erbe der Überlebenden auseinander

Ein Stadtspaziergang mit Lilly Maier „Jüdisches Leben im Nachkriegs-Bogenhausen“ zeichnet die historische Entwicklung jüdischen Lebens im Nachkriegs-Bogenhausen nach.

WORKSHOPS UND MITMACH FORMATE

Herbstcamp- „Deine Geschichte zählt“ für Jugendliche von 14-18 Jahre u.a. mit Burak Yilmaz, Dana von Suffrin

Workshops über den Deutschen Nachkriegsfilm u.a. mit Tucké Royale

Rechercheworkshop zu „Der Nationalsozialismus in Familie und Gesellschaft“ mit Dr. Johannes Spohr

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