Verloren in Gaza – Die stille Hoffnung der Familie Neutra

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Omers Großeltern am Platz der Entführten, Foto: M. Khachidze

Tamar Tzohar sitzt auf dem Geiselplatz in Tel Aviv, einem Ort, der seit fast zwei Jahren Symbol für Schmerz, Hoffnung und Durchhaltewillen ist. In der Hand hält sie eine flackernde Kerze und ein Foto ihres Enkels Omer Neutra. Um sie herum versammeln sich weitere Familien – viele von ihnen jeden Abend –, um daran zu erinnern, dass 48 Geiseln weiterhin in Gaza festgehalten werden. Omer Neutra ist einer von ihnen.

Von Mikheil Khachidze, Tel Aviv

Am 7. Oktober 2023 wurde der damals 21-Jährige von der Hamas entführt. Im Dezember 2024 wurde Omer für tot erklärt. Doch ein Beweis wurde nie erbracht. Kein Leichnam, keine Erklärung. Die Familie spricht seither von einem Schwebezustand – zwischen Hoffen und Wissen, zwischen Glaube und Ohnmacht.

„Sie sagten uns, dass er nicht mehr lebt“, sagt seine Großmutter leise. „Aber es ist so schwer zu glauben. Vielleicht ist es ein Irrtum. Vielleicht…“

Omer wurde in Long Island, New York, geboren. Er entschied sich, sein Studium zu unterbrechen, um freiwillig in der israelischen Armee zu dienen. Am Tag des Angriffs kommandierte er einen Panzer in der 77. Einheit der 7. Panzerbrigade nahe dem Kibbuz Nir Oz, der zu einem der Hauptziele der Hamas wurde. Jeder vierte Bewohner des Ortes wurde getötet oder verschleppt.

Tamar und ihr Mann Simcha Tzohar – ein 83-jähriger Holocaust-Überlebender – waren in New York, als die Nachricht sie erreichte. „Ich und mein Mann waren damals in New York bei unserer Tochter“, erzählt Tamar. „Mein Enkel Omer war am 7. Oktober im Dienst. Am Freitag zuvor, am Nachmittag, haben wir noch miteinander telefoniert. Nach einem sehr harten Monat an der Grenze sagte er uns, er freue sich auf einen vergleichsweise ruhigen Schabbat. Wenige Stunden später änderte sich alles – es geschah eine Katastrophe, die bis heute andauert.“

Zwei Geburtstage haben sie seither ohne ihn erlebt. Im Oktober 2024 versammelten sich rund 700 Menschen in Manhattan, um an Omers 23. Geburtstag zu erinnern.

Tamar versucht, die Tränen zurückzuhalten, während sie spricht. „Seine Freunde beschreiben unseren Omer als warmherzigen, fürsorglichen Jungen. Er ist gütig, offen, herzlich – und wenn er nur den Raum betritt, scheint alles heller zu werden. Ohne ihn fällt uns alles unglaublich schwer. Man sagte uns, er sei nicht mehr am Leben, aber es ist so schwer, das zu glauben.“

Auch heute wissen sie nichts genau. Die Internationale Rote Kreuz hat keinen Zugang zu den Geiseln. Die Hamas hat zwar einige Todesfälle eingeräumt, doch konkrete Informationen fehlen. Während viele Namen aus den internationalen Schlagzeilen verschwinden, bleibt der Schmerz für die Angehörigen allgegenwärtig.

Tamar bittet nicht um Mitleid. Sie fordert Sichtbarkeit, Verantwortlichkeit – und vor allem Erinnerung. „Wir wollen nur, dass die Welt Omer nicht vergisst“, sagt sie. „Und all die anderen auch nicht, die noch in Gaza gefangen genommen sind.“

Ihre Stimme ist leise, doch ihre Botschaft ist laut.

Erinnerung auch in New York

Im Februar 2025 ehrte Omer Neutras Heimatstadt Plainview, Long Island, ihren verlorenen Sohn: Ein Abschnitt der Manetto Hill Road wurde offiziell in „Captain Omer Neutra Way“ umbenannt. Entlang dieser Straße liegt das Mid-Island Jewish Community Center, wo die jüdische Gemeinschaft Long Islands seit Beginn des Krieges für die Freilassung der Geiseln eintritt.

Die Entscheidung fiel einstimmig durch die Nassau County Legislatur. „Wir sind den Abgeordneten dankbar für ihre moralische Klarheit und dafür, dass sie Omer in einer Weise ehren, die unsere Nachbarn jedes Mal an ihn erinnern wird, wenn sie am Mid-Island JCC vorbeifahren“, erklärten Omers Eltern.

Ihre Stimme hörbar machen

Der Fall Omer Neutra ist kein Einzelfall. Der Geiselplatz in Tel Aviv erinnert täglich daran, dass hinter jeder Zahl ein Mensch steht – und eine Familie, die zwischen Hoffnung und Verzweiflung lebt. Ebenso zeigen die Gesten in Long Island, dass diese Geschichten nicht auf Israel beschränkt bleiben, sondern auch die jüdische Diaspora tief prägen. Es ist eine humanitäre Aufgabe, ihre Stimmen hörbar zu machen.

Mikheil Khachidze ist ein georgischer Journalist, der seit vielen Jahren über Israel, jüdisches Leben und die Kriege in der Ukraine und im Nahen Osten berichtet. Er schreibt für georgische und internationale Medien und verbindet persönliche Eindrücke mit politischer Analyse.