Woher kommt der Drang, den Krieg im Gazastreifen als Genozid zu bezeichnen?

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Statt darüber zu diskutieren, ob in Gaza nun ein Genozid stattfinde oder nicht, sollte man vielmehr die Frage stellen, warum so viele den Krieg als Völkermord darstellen wollen.

Von Thomas von der Osten-Sacken
Zuerst erschienen bei: Mena-Watch, 29. Juli 2025

Im Juni lud die Evangelische Erwachsenenbildung Thüringen (EEBT) zu einem Streitgespräch, das ursprünglich so angekündigt war: »Das gibt es nur einmal! Der Chefredakteur der Jüdischen Allgemeinen diskutiert mit Hamad Abdul Samad über den Genozid (in Gaza).« An anderer Stelle wurde von den Veranstaltern eine wirklich »spannende Veranstaltung zum Nahost-Konflikt« versprochen.

Mit dieser Ankündigung, die sie später ein wenig abschwächte, entstellte die EEBT pointiert zur Kenntlichkeit, worum es leider viel zu oft längst geht, wenn Israel vorgeworfen wird, es begehe einen Genozid im Gazastreifen: Es ist ein Thema für Talkshows, Social-Media-Debatten und andere Formen öffentlicher Diskussionen geworden, bei dem dann bevorzugt eine Pro- auf eine Contra-Seite stößt, ganz so, als ginge es um den Nutzen von Kernenergie oder Wehrpflicht.

Wenn aber so über Genozid diskutiert wird, kann ganz grundsätzlich etwas nicht stimmen. Genozide sind schlicht kein Thema für konträre Debatten, in denen dann ein Für und Wider – im Falle des EEBT auch noch mit »neutralem Experten« in der Mitte – abgewogen werden sollte.

Allein in den letzten drei Dekaden musste, wer sie als Erwachsener erlebte, nicht nur Zeuge sein von unzähligen blutigen Kriegen, Flüchtlingskatastrophen und Gräueltaten, sondern auch von drei Ereignissen, die sowohl von zuständiger Justiz als auch der viel zitierten Weltöffentlichkeit ohne große Widerworte als Genozide klassifiziert wurden: Ruanda 1994, Darfur im Sudan 2003 und im Irak der Überfall des Islamischen Staates auf die Jesiden im Jahr 2014.

Mit reinem Entsetzen verfolgte man damals, was jeweils an diesen Orten geschah. Diskutiert wurde nicht, ob es sich dabei um Genozide handelte oder nicht, sondern einzig, wie man den Tätern, obwohl es jeweils schon zu spät war, noch in den Arm fallen könne und wie den Überlebenden Hilfe leisten. Angesichts eines Genozids fehlen nämlich selbst den sonst eloquentesten Menschen die Worte, oder sie bleiben ihnen im Hals stecken. Das gilt keineswegs nur für die unmittelbare Zeugenschaft, für die Zeit also, in der man fast völlig ohnmächtig gezwungen ist, dem Morden als Zuschauer beizuwohnen, sondern auch noch lange danach: Für Jahre verfallen Überlebende oft in völliges Schweigen oder sind unfähig zu beschreiben, was ihnen widerfuhr.

Sprache der Sprachlosigkeit

Deshalb sei daran erinnert, dass das Wort »Genozid«, das Raphael Lemkin – ein polnisch-jüdischer Jurist, der gemeinhin als geistiger Vater der Convention on the Prevention and Punishment of the Crime of Genocide der Vereinten Nationen gilt – entwickelte, um die Verbrechen der Nationalsozialisten begrifflich zu fassen, genau aus einer solchen Sprachlosigkeit entstand.

Lemkin reagierte damit auf eine der berühmten Radioansprachen des britischen Premierministers Winston Churchill, der schon 1941 das »barbarische Wüten der Nazis« als »Verbrechen ohne Namen« bezeichnete. Was Churchill meinte, war, dass selbst in der Menschheitsgeschichte, die ja auch bis dahin an Kriegen, Massakern, Vertreibungen und unendlichem Leid keineswegs arm gewesen war, das, was die Nazis systematisch taten, mit den Begriffen, die bislang in Gebrauch waren, nicht mehr beschreibbar sei.

Lemkin war sich damals völlig bewusst, dass seine Idee, diesen Verbrechen einen Namen zu geben und sie fortan »Genozid« zu nennen, einen sehr technischen Begriff wählte, den er vorschlug, weil das lateinische Wort »gens« am besten ganz unterschiedliche Gruppen fasst, die von Völkern bis zu religiösen Gemeinschaften reichen. (Völkermord ist deshalb nur eine sehr unzulängliche Übersetzung ins Deutsche.)

Was die Verbrechen der Nationalsozialisten ausmache und von anderen unterscheide, schrieb Lemkin, sei, dass es ihnen gezielt um die komplette Auslöschung ganzer Kollektive gehe – was nicht nur konkrete Menschen, sondern Religion, Kultur und Grabstätten einschließe, also selbst die Erinnerung an die Vernichteten. Auch wenn Lemkin dabei ausdrücklich auch Polen und Sowjetbürger unter deutscher Besatzung, Roma und Sinti einbezog, wurde der systematische Massenmord an den Juden Europa, der Holocaust, bald zum Inbegriff dessen, was ursprünglich mit Genozid gemeint war.

Wer nach 1945 deshalb dieses Wort in den Mund nimmt, spricht immer, ob gewollt oder nicht, auch über den Holocaust, und jedes als Genozid klassifizierte Massenverbrechen wird immer am Holocaust gemessen werden.

Das lag zwar keineswegs in Lemkins Intention, denn er betonte in seinen Schriften immer wieder, dass es nicht um die schiere Anzahl von Opfern gehe, die Kriege, Vertreibungen und andere Gräueltaten zuvor auch gekostet hätten, sondern einzig um die Intention der Täter. Trotzdem steht noch immer, trotz unzähliger anderer Massenverbrechen, die seitdem begangen wurden, der Holocaust einmalig als der Genozid schlechthin da.

Was also, wenn Juden beziehungsweise der jüdische Staat auch als Zufluchtsstätte der Überlebenden genau dieses Holocausts, nun selbst einen Genozid verübten? Würde das nicht die Einmaligkeit des Holocausts relativieren, ihn quasi zu einer Tat in einer langen Abfolge von Menschheitsverbrechen machen? Das sind Fragen, die sich stellen, sieht man, wie verbissen seit Monaten von so vielen insistiert wird, dass das, was die israelische Armee im Gazastreifen mache, ein Genozid sei.

Wenn selbst Juden dazu in der Lage seien – das ist seit langer Zeit zumindest in Deutschland auch ein Subtext, denn man sollte nicht vergessen, dass der Vorwurf keineswegs neu ist, sondern erstmals schon in den 1950er Jahren erhoben wurde und seitdem immer wieder, etwa von Politikern der Grünen während des Libanonkriegs 1982 –, dann reiht sich der Holocaust an den Juden nur ein in eine ganze Kette von Genoziden. Und als zusätzlicher Mehrwert entspringt der Behauptung noch die Frage, auf die es den Genozid-Lügnern letztlich am meisten ankommt: Wenn nun die Nachfahren der Opfer eines solchen Genozids selbst einen verüben, ist das dann moralisch nicht ganz besonders verwerflich?

Sprache der Redseligkeit

Und so drängt sich der Verdacht auf, dass hier von interessierter Seite Genozid nicht nur zu einem Thema unter vielen für »spannende Talks« missbraucht wird, sondern, statt in Sprachlosigkeit zu erstarren, er förmlich herbeigeredet wird: Sprache schafft sich ihre Realität.

Wenn also möglichst viele möglichst oft und laut den »Genozid in Gaza« anprangern, muss irgendwann der Eindruck entstehen, dass wirklich ein Genozid stattfindet. Jede Pro-und-Contra-Debatte verstärkt diesen Eindruck, denn wer mit Argumenten versucht, darzulegen, warum es sich im Gazastreifen »nur« um einen fürchterlichen Krieg, aber eben um einen Krieg mit zwei kämpfenden Seiten und mit allen furchtbaren Folgen für die Zivilbevölkerung handle, anerkennt ja indirekt schon die These des Gegenübers, es könnte sich in Wirklichkeit um einen Genozid handeln.

Stattdessen müsste die Frage eigentlich lauten, warum und aus welcher Motivation heraus mit solcher Energie darauf bestanden wird, die Katastrophe unbedingt als Genozid klassifizieren zu wollen. Eine weitere Frage müsste lauten, ob diejenigen, die so lautstarke Advokaten dieses Begriffs sind, anderswo je derart insistierten, dass es sich um einen Genozid gehandelt habe – und ob sie es derart tun würden, ginge es nicht um Israel.

Und zuletzt könnte man sie fragen, woher sie eigentlich diese Redseligkeit nehmen und ob ihnen bewusst sei, dass angesichts der Genozide, die sich auch während ihrer Lebenszeit ereigneten, also die eingangs genannten in Ruanda, dem Sudan und dem Irak, Entsetzen und Sprachlosigkeit herrschten, niemand nach Talk-Runden zumute war und ja, es eigentlich allen Beteiligten sogar recht egal war, welchen Namen man nun dem Grauen jeweils gab.