Die Geschichte der Assyrer:innen ist eine Geschichte, die nie richtig zu Ende erzählt wurde. Sie ist geprägt von Flucht, von Verlust, aber auch von einem unbeirrbaren Willen, zu bleiben – wenn schon nicht geografisch, dann wenigstens im Gedächtnis. In Syrien droht diese Erinnerung zu verblassen. In Israel beginnt sie, langsam wieder aufzuleuchten. Und irgendwo dazwischen steht ein Volk, das sich selbst nie aufgegeben hat.
Von Marline Younan
Was bleibt in Syrien?
In Syrien war das Leben der Assyrer:innen über Jahrhunderte fest verwurzelt. Vor allem im Nordosten, rund um den Khabur-Fluss, lebten sie in Dörfern, die sie selbst aufgebaut hatten. Sie sprachen Aramäisch, hielten ihre Gottesdienste auf Syrisch, blieben ihren Traditionen treu. Doch mit dem Ausbruch des Kriegs 2011 begann etwas zu zerbrechen. Nicht nur Häuser und Kirchen wurden zerstört, sondern auch die Hoffnung, bleiben zu können.

Als der sogenannte Islamische Staat 2015 die assyrischen Dörfer am Khabur überfiel, war es, als würde eine ganze Welt untergehen (Mauvais/Amin 2023). Familien wurden verschleppt, Kirchen niedergebrannt, die meisten flohen ins Ausland. Von ehemals über 15.000 Assyrer:innen, die dort lebten, sind nur wenige Hundert geblieben (al-Ajeel 2024). Und auch sie wissen: Die Zukunft ist unsicher. Viele Jugendliche träumen von einem Leben in Europa oder Kanada. Wer geblieben ist, ist oft zu alt zum Gehen – oder zu verbunden, um sich zu lösen.
Trotz allem gibt es Stimmen, die nicht verstummen wollen. Verschiedene politische Parteien setzen sich weiterhin für die Anerkennung der Assyrer:innen als ethnische Minderheit ein. Auch bewaffnete Einheiten wie die Sutoro entstanden aus dem Wunsch heraus, sich selbst zu schützen. Aber das Überleben allein reicht nicht. Ohne Sprache, ohne Kultur, ohne junge Menschen, die bleiben, verschwindet ein Volk nicht mit einem Knall, sondern ganz leise.
Und was wächst in Israel?
In Israel ist die assyrische, oder genauer gesagt aramäische, Gemeinschaft viel kleiner. Vielleicht ein paar Tausend Menschen. Und doch haben sie es geschafft, sich sichtbar zu machen. Im Jahr 2014 erkannte der Staat Israel die Aramäer:innen offiziell als ethnische Minderheit an (Berman 2014). Für die Betroffenen war das mehr als ein Verwaltungsakt. Es war die Anerkennung einer Geschichte, die bis in die Antike zurückreicht.
In Orten wie Gusch Halav im Norden Israels sprechen Kinder wieder Aramäisch, lernen die Sprache ihrer Vorfahren nicht nur in der Kirche, sondern auch in der Schule. Aktivist:innen wie Shadi Khalloul kämpfen für mehr Rechte, für mehr Sichtbarkeit, für mehr Stolz. Sie sagen: Wir sind keine Araber. Wir sind Aramäer. Unsere Wurzeln liegen in Syrien, im Libanon, im Irak. Aber unsere Heimat ist hier.
Das stößt nicht überall auf Verständnis. Viele palästinensische Christ:innen sehen die Abgrenzung kritisch. Sie werfen den Aramäer:innen vor, sich aus dem arabischen Kollektiv herauszuziehen, um näher an den Staat Israel zu rücken. Doch Khalloul und andere sagen: Wir ziehen uns nicht zurück. Wir treten nur endlich heraus. In unsere eigene Geschichte. In unsere eigene Identität.
Verbindung trotz Ferne
Und genau hier, zwischen dem drohenden Verschwinden in Syrien und dem leisen Erwachen in Israel, liegt die Kraft dieser Geschichte. Denn trotz aller Unterschiede – die Sprache verbindet. Der Glaube verbindet. Und auch das Wissen, dass man etwas bewahren muss, das größer ist als man selbst.
Kirchen in Jerusalem und Damaskus bleiben im Gespräch. Familien schicken Geld von Israel nach Syrien. Und über alle Grenzen hinweg gibt es dieses stille Band: Wir gehören zusammen. Auch wenn wir getrennt leben. Auch wenn wir ganz verschieden politisch denken. Die assyrisch-aramäische Identität lässt sich nicht einfach auflösen. Sie wandert. Sie verändert sich. Aber sie bleibt.
Politisch dazwischen
In Israel sind die Aramäer:innen heute politisch aktiv. Viele engagieren sich in konservativen Parteien, sehen sich als loyale Bürger:innen des Staates. Manche melden sich freiwillig zum Militär. Andere kämpfen um Schulrechte, um Sprache, um kulturelle Autonomie (Jackson 2019). Sie wollen nicht mehr übersehen werden – und nicht mehr fremd bestimmt. Ihre Loyalität zu Israel ist nicht Unterwerfung, sondern eine bewusste Entscheidung. Weil sie sagen: In diesem Staat bekommen wir zumindest eine Chance.
In Syrien hingegen zerfällt die politische Kraft. Viele Organisationen sind im Exil. Vor Ort fehlt es an Strukturen, an Sicherheit, oft auch an Zuversicht. Die Vision eines föderalen Syrien mit Minderheitenschutz bleibt genau das – eine Vision.
Ein Volk, zwei Wege
Die Assyrer:innen in Syrien und die Aramäer:innen in Israel gehen heute unterschiedliche Wege. Der eine führt durch Ruinen und Schweigen. Der andere durch politische Kämpfe und neue Möglichkeiten. Und doch treffen sich diese Wege in einem Punkt: im Wunsch, nicht unterzugehen.

Die assyrisch-aramäische Identität lebt. Nicht, weil sie konserviert wurde, sondern weil Menschen sie neu leben. In Galiläa und Qamishli. In kleinen Kirchen, in Wohnzimmern, in Klassenzimmern, wo Kinder wieder Aramäisch schreiben. Sie lebt, weil sie weitergegeben wird. Nicht perfekt, nicht überall, aber mit Liebe.
Und vielleicht ist das das Einzige, was zählt: Dass es weitergeht.
Literaturhinweise:
al-Ajeel, Fadi (2024): Vanishing Neighbours: Christians of Northeast Syria after ISIS
Berman, Lazar (2014): Israel recognizes Aramean minority
García, Marta (2025): Die Sprache Jesu lebt: Aramäer in Galiläa
Glioti, Andrea (2013): Between Identity and Survival: Assyrian Political Activism in Syria
Hasso, James (2018): Assyrians, Zionism and the Middle East
Jackson, Eliana (2019): Aramean Pupils and the Israeli School System
Mauvais, Camille / Amin, Hanaa (2023): Cultural Erasure: The Khabur Christians Post-ISIS
Nowak, Elias (2025): Die Aramäer zwischen Israel und Syrien
Seeley, David (2024): Linguistic Identity and Minorities in Israel
World Council of Arameans (2023): Annual Report
Marline Younan ist Politikwissenschaftlerin mit dem Schwerpunkt vergleichende politische Systeme und Frauenrechte im Nahen Osten. Aktuell absolviert sie ihren Master in Internationaler Strafjustiz und strebt eine Promotion an. Als Kommunalpolitikerin und Mentorin in einem Programm der Bundeszentrale für politische Bildung engagiert sie sich für die politische Stärkung von Frauen. Darüber hinaus setzt sie sich auf zivilgesellschaftlicher Ebene für den Aufbau und die Vertiefung diplomatischer Beziehungen zwischen Syrien und Israel ein – aus tiefer Überzeugung und mit dem Blick auf eine gemeinsame Zukunft, getragen von meiner eigenen Fluchtgeschichte und den engen Verbindungen zu assyrischen und israelischen Freund:innen, die in Israel leben.
„Zwei alte Völker, zwei überlebende Seelen“
Eine Botschaft des assyrischen Volkes an das jüdische Volk und an Israel