Berlin (4. Juni 2024): Der heute veröffentlichte Jahresbericht des Bundesverbands RIAS erfasst für 2024 insgesamt 8627 antisemitische Vorfälle – ein Anstieg um 77% im Vergleich zum Vorjahr. Erstmals beziffert der Bericht die langfristigen Folgen des 7. Oktobers 2023. Deutlich wird: Die Lage für Jüdinnen_Juden in Deutschland hat sich weiter verschärft.
Antisemitismus betrifft alle Lebensbereiche – Jüdisches Leben unter Druck
In Leipzig wurde eine Frau, die Hebräisch sprach, auf offener Straße antisemitisch beleidigt und sexualisiert bedroht; in Hamburg schmierte man Hakenkreuze an die Wohnungstür eines jüdischen Ehepaars – antisemitische Vorfälle sind für viele Jüdinnen_Juden allgegenwärtig. Antisemitisch motivierte Terroranschläge wie auf das Stadtfest Solingen oder das israelische Generalkonsulat München sowie Anschläge auf jüdische Institutionen, etwa die Synagoge in Oldenburg, verschärfen die ohnehin angespannte Sicherheitslage und verstärken das Gefühl von Verunsicherung. Der zivilgesellschaftliche Aufschrei blieb dagegenverhalten.
Israelbezogener Antisemitismus prägt 2024
Die Reaktionen auf den 7. Oktober 2023 und der Krieg in Gaza bestimmen die Vorfallslage. 68% aller dokumentierten antisemitischen Vorfälle 2024 hatten einen Bezug zu Israel und zum anhaltenden Krieg in Nahost. Auffällig war die Zunahme von Antisemitismus in politischen Auseinandersetzungen, etwa durch Demonstrationen, Schmierereien und Aufkleber. Bundesweit wurden so 1802 Versammlungen erfasst, bei denen Antisemitismus verbreitet wurde: So wurden etwa die Schoa relativiert, antisemitische Gewalt verherrlicht, oder Terrororganisationen wie Hamas oder Hisbollah gefeiert. Auch Gegendemonstrant_innen wurden angegriffen, bedroht und beleidigt.
Mehr Vorfälle an Hochschulen und Schulen
Antisemitische Vorfälle traten 2024 deutlich häufiger an Bildungseinrichtungen auf. An Hochschulen stieg ihre Zahl von 151 auf 450 – eine Verdreifachung zum Vorjahr. Neben Protestcamps, in denen antisemitische Stereotype verbreitet wurden, wurden Studierende und Mitarbeitende beleidigt, bedroht und angegriffen. An Schulen wurden in 284 Fällen Jüdinnen_Juden ausgegrenzt, beschimpft und für den Krieg in Nahost verantwortlich gemacht. In mindestens 19 Fällen kam es zu Angriffen.
Anstieg rechtsextremer Vorfälle und verbreitete Relativierung der Schoa
2024 wurden 28% mehr antisemitische Vorfälle mit rechtsextremem Hintergrund dokumentiert als im Vorjahr – ein neuer Höchstwert. In zwei Dritteln dieser Fälle wurde die Schoa relativiert oder verherrlicht. In Thüringen etwa bedrohte ein AfD-Kommunalpolitiker eine Frau mit den Worten, sie käme „nach Buchenwald“, nachdem sie einen AfD-Infostand vor ihrem Wohnhaus kritisiert hatte. Die Relativierung der Schoa ist zentraler Bestandteil des rechtsextremen Antisemitismus – sie reicht allerdings weit über dieses Milieu hinaus: Auch im links-antiimperialistischen und antiisraelisch-aktivistischen Spektrum wurden solche Vorfälle erfasst.
Der Bericht kann ab sofort unter report-antisemitism.de/documents/04-06-25_RIAS_Bund_Jahresbericht_2024.pdf eingesehen werden.
Benjamin Steinitz, Geschäftsführer des Bundesverbands RIAS e. V.:
„Antisemitische Vorfälle in Deutschland sind seit dem 7. Oktober massiv angestiegen – ein tiefer Einschnitt in das Leben von Jüdinnen und Juden. Gerade jetzt dürfen jüdische Perspektiven durch politische Grabenkämpfe nicht wegdefiniert und weiter marginalisiert werden. Dringend notwendig sind die Anerkennung der IHRA-Arbeitsdefinition als kleinster gemeinsamer Nenner der Antisemitismusbekämpfung sowie nachhaltige Investitionen in Wissenschaft und Zivilgesellschaft zur wirksamen Eindämmung antisemitischer Einstellungen und Handlungen.“
Ron Dekel, Präsident der Jüdischen Studierendenunion in Deutschland:
„Die Zahlen des aktuellen RIAS-Jahresberichts bestätigen, was jüdische Studierende bundesweit seit langem erleben: An deutschen Hochschulen können sie sich nicht sicher fühlen. 450 dokumentierte antisemitische Vorfällewurden 2024 an Bildungseinrichtungen gemeldet – an 56 verschiedenen Standorten. Besonders alarmierend ist der weitverbreitete israelbezogene Antisemitismus, der ideologischer Kern vieler Vorfälle ist. Deshalb braucht es ein Ende des Wegduckens an deutschen Universitäten. Nötig sind zertifizierte Antisemitismusbeauftragte – Fachpersonen, die mehr sind als ein symbolisches Feigenblatt und tatsächlich in der Lage sind, Betroffene zu unterstützen. Ein Zustand, in dem jüdische Studierende ihre Lehrveranstaltungen nicht nach Interesse, sondern nach dem Sicherheitsgefühl am Campus auswählen müssen, darf nicht hingenommen werden.“
Karin Prien, Bundesministerin für Bildung, Familie, Senioren, Frauen und Jugend:
„Der Jahresbericht 2024 vom Bundesverband RIAS macht deutlich, wie stark antisemitische Vorfälle im vergangenen Jahr bundesweit und in allen Lebensbereichen zugenommen haben – ob auf der Straße, im öffentlichen Nahverkehr, in Schulen und Hochschulen oder im Internet. Diese Entwicklung ist alarmierend und zeigt klar, dass wir dringend handeln müssen. Antisemitismus ist ein gesamtgesellschaftliches Problem. Umso wichtiger sind Projekte gegen Antisemitismus, die seit Jahren ein fester Bestandteil des Bundesprogramms „Demokratie leben!“ des BMBFSFJ sind. Sie setzen auf neue pädagogische Ansätze, um verschiedenen Formen von Antisemitismus wirksam vorzubeugen. Genauso entscheidend ist es, Betroffene antisemitischer Gewalt konkret zu unterstützen und zu begleiten.“
Julia Bernstein, Roglit Ishay, Ilja Kogan, Vorstand jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz:
„Seit dem 7. Oktober 2023 ist eine drastische Zunahme von Antisemitismus an Hochschulen zu beobachten – insbesondere in Form von israelbezogenem Antisemitismus. Die Vorfälle reichen von antisemitischen Schmierereien bis zu schwerer Sachbeschädigung und physischer Gewalt. In der Folge ziehen sich jüdische Studierende zunehmend zurück, jüdische Dozierende erleben einen deutlich erschwerten akademischen Alltag. Hochschulleitungen reagieren häufig nicht angemessen. Antisemitische Äußerungen und Handlungen unterhalb der Strafbarkeitsgrenze werden oft toleriert und statt wirksamer Maßnahmen gegen Antisemitismus dominieren allgemein gehaltene Stellungnahmen.“