
In wissenschaftlichen Publikationen ist der von SS- und Polizeiführer Jürgen Stroop verfasste Bericht „Es gibt keinen jüdischen Wohnbezirk in Warschau mehr“ häufig als Quelle genannt, die darin enthaltenen Fotos sind in zahlreichen Schulbüchern, aber auch in Filmdokumentationen über den Nationalsozialismus zu finden. Als Beweismittel wurde der NS-Report im Internationalen Militärtribunal gegen die Hauptkriegsverbrecher in Nürnberg eingeführt und 1960 erstmals in Buchform veröffentlicht. Ein bekanntes und wichtiges Dokument, das die Niederschlagung des Ghettoaufstandes aus der Sicht der Täter dokumentiert.
Im Unterschied dazu beleuchtet die soeben erschienene Neuedition der vom 20. April bis zum 16. Mai 1943 verfassten Tagesmeldungen die Ereignisse im Vergleich mit jüdischen Quellen, die den vielschichtigen Widerstand und den verzweifelten Kampf der Ghettobewohner belegen. Zum ersten Mal wird das Täterdokument mit den Augen der Opfer gelesen, wie nachfolgendes Beispiel verdeutlich: „Im Verlauf der heutigen Aktion wurden mehrere Häuserblocks niedergebrannt. Dieses ist die einzige und letzte Methode, um dieses Gesindel und Untermenschentum an die Oberfläche zu zwingen“, schrieb Stroop am 26. April 1943. In einem Bericht von Mordechaj Anielewicz vom gleichen Tag ist zu lesen: „Die Zahl unserer Opfer, also der Opfer der Erschießungen und Brände, in denen Männer, Frauen und Kinder umkamen, ist riesig. Es nahen unsere letzten Tage. Doch solange wir die Waffen in der Hand zu halten vermögen, solange werden wir Widerstand leisten und kämpfen. Das deutsche Ultimatum über die Kapitulation lehnen wir ab.“
Es sind solche kommentierenden Einträge von Mordechaj Anielewicz, Zivia Lubetkin und anderen Zeitzeugen, die Martin Cüppers zusammengetragen hat, Widerstandskämpfer, die sich entweder mit der Waffe in der Hand gegen ihre Mörder erhoben oder mit anderen Formen der Selbstbehauptung gegen ihre Vernichtung stellten. Denn durch die Ergänzung des Täterberichts mit den Zeugnissen der Opfer und Überlebenden lassen sich die Ereignisse angemessen darstellen. Diese Anmerkungen spiegeln mithin die Breite und den verzweifelten Mut der Warschauer Juden facettenreich wider und dokumentieren damit erst die ganze Wahrheit über den Ghettoaufstand. Der viel zitierte – und leider immer wieder verkürzt wiedergegebene – Aufruf von Abba Kovner, den er ein Jahr zuvor im Ghetto Wilna formulierte „Lassen wir uns nicht abschlachten wie Schafe“ ging nämlich noch weiter: „Ja, wir sind schwach und hilflos, aber die einzige Antwort an unsere Feinde lautet – Widerstand!“
Der von Martin Cüppers hervorragend editierte und kommentierte Stroop-Bericht enthält neben den vielen Quellen des jüdischen Widerstands auch zahlreiche biografische Angaben zu Stroop und anderen deutschen Tätern. Damit vermittelt die Neuauflage einen Gesamteindruck, der die deutsche Darstellung aus dem Frühjahr 1943 nachhaltig ergänzt und entlarvt. Zusätzlich umfasst die Publikation weitere Fotos, die teilweise erstmals veröffentlicht werden. Nach Jahrzehnten ist der Stroop-Bericht nun auch wieder in Buchform erhältlich – Dank sei dem engagierten Berliner Metropol Verlag. Der Band sollte in keiner Bibliothek fehlen, ermöglicht er doch einen differenzierten und objektiven Blick auf den Warschauer Ghettoaufstand und vermittelt zudem neue Erkenntnisse. – (jgt)
Martin Cüppers (Hg.), Ghetto Warschau: Aufstand und Vernichtung im Stroop-Bericht, Neuedition mit Zusatzdokumenten, Metropol Verlag Berlin 2025, ISBN: 978-3-86331-786-7, 280 Seiten; 200 Abb., 29,90 €, Bestellen?