Der Oberste Gerichtshof spricht eine einstweilige Verfügung gegen den Rausschmiss von Inlandsgeheimdienstchef Ronen Bar aus. Ob die Regierung dieser Folge leistet oder nicht, scheint offen. Es ist nicht das erste Mal, dass die politisch Verantwortlichen auf diese Weise die Autorität der Richter untergraben wollen.
Von Ralf Balke
Seine Gegner im Ungewissen lassen, ist eine beliebte Strategie. Auch Benjamin Netanyahu scheint sie gerne anzuwenden. Denn als am 9. April Israels Oberster Gerichtshof entschied, dass Ronen Bar, der vom Ministerpräsidenten wenige Wochen zuvor geschasste Direktor des Inlandsgeheimdienstes, vorerst im Amt bleiben soll, wollte er sich nicht festlegen lassen, ob seine Regierung den Vorgaben der Richter Folge leisten würde oder vielleicht doch nicht. Am 20. März 2025 bereits war die Entlassung von Ronen Bar vom Obersten Gerichtshof Israels erst einmal aufgehoben worden, nachdem mit Yesh Atid, Nationaler Einheit sowie „Die Demokraten“ und Jisrael Beiteinu gleich vier Oppositionsparteien gemeinsam eine Petition dagegen eingereicht hatten, der weitere folgen sollten – daher der zweite Termin. Der Entscheidung vom 9. April vorangegangen war eine äußerst chaotische, elf Stunden andauernde Anhörung. Immer wieder wurde diese aufgrund von Störungen durch Demonstranten wie der Likud-Abgeordneten Tali Gottlieb unterbrochen, einige von ihnen, darunter auch die Politikerin, mussten von Beamten zwangsweise aus dem Gerichtssaal entfernt werden.
Das Oberste Gericht hatte am 9. April zugleich eine einstweilige Verfügung ausgesprochen. Weder dürften die Kompetenzen von Ronen Bar eingeschränkt werden, noch habe die Regierung das Recht, einen Nachfolger zu ernennen, hieß es darin. Das gelte bis zum 20. April – in dieser Zeit soll Politik zusammen mit der Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara einen Kompromiss finden. Zwar hatte der Shin Bet-Chef kurz nach der Verkündung des Urteils erklärt, dass er in einigen Wochen ohnehin von seinem Posten zurücktreten wolle. Die aktuellen Auseinandersetzungen um seine Person würden dem Inlandsgeheimdienst ansonsten Schaden zuführen, so seine Begründung. Doch die Diskussionen halten an, und das aus vielerlei Gründen.
Denn der ganz Fall hat einen politischen Hintergrund. Als am 20. März das Kabinett mit Wirkung zum 10. April Ronen Bar entlassen hatte, waren die Beziehungen zwischen Ministerpräsident und Inlandsgeheimdienstchef bereits stark belastet – Netanyahu war wenig begeistert davon, dass der Shin Bet gegen Mitarbeiter in seinem Büro zu ermitteln begann, weil diese in der Vergangenheit gegen Bezahlung für Katar – einem Israel gegenüber feindlich eingestellten Staat – „Lobbyarbeit“ betrieben und wohl auch Informationen weitergereicht hatten, was nicht ganz zu deren Aufgabenbereichen zählte. Daraus wurde die „Katargate-Affäre“, die die Regierung noch weiter in Bedrängnis bringen könnte. Aus Benjamin Netanyahus Sicht war es zudem ein Vergehen, dass Ronen Bar die Idee einer staatlichen Untersuchungskommission befürwortete, mit der endlich die Versäumnisse auf israelischer Seite aufgearbeitet werden sollten, die zum 7. Oktober führten. Ohnehin neigt der Ministerpräsident dazu, den Shin Bet zum Sündenbock für alle Sicherheitspannen zu machen, um von seinen eigenen Verfehlungen abzulenken.

Nun beschuldigt das Büro des Ministerpräsidenten Generalstaatsanwältin Gali Baharav-Miara, die die Regierung gleichfalls gerne loswerden möchte, sie würde versuchen, mit dem Hinweis auf die laufenden Ermittlungen rund um die „Katargate-Affäre“, die Demission Ronen Bars zu blockieren, nur um ihre eigene Entlassung zu verhindern. „Es ist undenkbar, dass die israelische Regierung daran gehindert wird, einen gescheiterten Shin Bet-Chef seines Amtes zu entheben, nur weil eine Untersuchung eingeleitet wurde, die nichts mit einem ihrer Minister zu tun hat“, hieß es dazu. Der Ministerpräsident, so erklärte man ferner, werde sich weiter nach geeigneten Kandidaten als Nachfolger von Ronen Bar umschauen – eine klare Verletzung der einstweiligen Verfügung des Obersten Gerichtshofes.
Auch seine Minister kommentierten die Entscheidung der Richter kritisch, nannten sie nicht rechtskonform und sprachen sich dafür aus, sie schlichtweg zu ignorieren. „Nein!“, schrieb unter anderem Kommunikationsminister Shlomo Karhi auf X, vormals Twitter, als Reaktion auf die einstweilige Verfügung. „Die Regierung muss sich an das Gesetz halten! Eine Loyalitätspflicht gegenüber dem Staat Israel und seinen Gesetzen (!), aber nicht gegenüber einer illegalen Anordnung ohne Autorität.“ Folgt man seinen Worten, so ist der Oberste Gerichtshof für den Minister bereits irrelevant. „Was ist demokratisch an der absoluten Herrschaft von Isaac Amit????“, so Shlomo Karhi weiter, wobei er den Präsidenten des Obersten Gerichtshofs ins Visier nahm.
Etwas pragmatischer dagegen verhielt sich Finanzminister Bezalel Smotrich. Er forderte auf X, dass Ronen Bar „aufgrund der einstweiligen Verfügung des Obersten Gerichtshofs dem Namen und dem Gehalt nach der Leiter des Shin Bet bleiben wird. Aber nichts darüber hinaus“. Sein Vorschlag: Man solle ihn von allen Gesprächen fern halten und jegliche Zusammenarbeit beenden – so würde formell dem Obersten Gericht Folge geleistet, de facto aber den Inlandsgeheimdienstchef kaltgestellt. „Die Arroganz der Richter darf uns in Kriegszeiten nicht die Hände binden.“ Und Itamar Ben Gvir, Minister für nationale Sicherheit, erklärte, dass „die fortschreitende Aushöhlung der Autorität einer demokratisch gewählten Regierung durch ein nicht gewähltes Gremium ohne Kontrolle und Gegengewicht, das sich selbst Befugnisse verleiht, die völlig gegen das Gesetz verstoßen, jeden beunruhigen sollte, der um die Demokratie fürchtet.“ Also müsse man das, was die Regierung Justizreform nennt, mit allen Mitteln endlich als Projekt vollenden, so seine Forderung.
In der Opposition dagegen herrscht blankes Entsetzen über das Verhalten der Regierung. „Sie müssen sich an das Gerichtsurteil halten“, twitterte der Chef der Partei der Nationalen Einheit, Benny Gantz, und fügte hinzu: „Den Chef des Shin Bet nicht an Gesprächen zu beteiligen und ihn zu boykottieren, gefährdet Leben.“ Auch Yair Golan, Chef der Partei der Demokraten, zeigt sich besorgt: „Eine Regierung, die sich nicht an das Gesetz hält, kann nicht einen einzigen Tag länger im Amt bleiben.“ Denn das bewusste Ignorieren einer Entscheidung des Obersten Gerichtshofs wird von vielen als Überschreiten einer „roten Linie“ bewertet. Bereits im März erklärte das Israel Business Forum, ein Zusammenschluss der etwa 200 größten israelischen Unternehmen: „Wenn die Regierung beschließt, Israel sehenden Auges in eine Verfassungskrise zu führen, werden wir die Betriebe schließen und gemeinsam mit allen Kräften in der israelischen Gesellschaft eine öffentliche Kampagne starten. Wir fordern Netanjahu auf, im letzten Moment zu bremsen, bevor er über den Abgrund stürzt.“ Und der Histadrut-Vorsitzende Arnon Bar-David betont: „Wir befinden uns am Rande der Anarchie, die von der Regierung verursacht wird.“ Und Aharon Barak, ehemaliger Vorsitzender des Obersten Gerichts spricht sogar von einem „Bürgerkrieg“, der drohe, wenn die Regierung weiterhin so agieren sollte, in dem sie die Judikative entmachtet.
Sollte die Regierung die Autorität des Obersten Gerichtshofs durch bewusstes Ignorieren seiner Entscheidungen weiter beschädigen, so kann das schwer einzuschätzende Folgen für die israelische Gesellschaft haben. Zudem droht eine Staatskrise, sagen Experten. Denn wenn die Politik den Anordnungen der Gerichte nicht mehr Folge leisten will, bringt das auch die Polizei und die Armee in Schwierigkeiten. Gerät die Gewaltenteilung in Schieflage, stellt sich ihnen die Frage, wem sie letztendlich verpflichtet sind, dem Rechtsstaat und seinen Gesetzen oder aber einzelnen Politikern? Und wenn selbst der Justizminister, in diesem Fall Yariv Levin, ankündigt, dass man den Chef des Shin Bet munter boykottieren werde, wenn der Oberste Gerichtshof nicht so entscheidet, wie er und die Regierung es wollen, dann gibt es ein Problem. Kurzum, es droht ein Konflikt zwischen Exekutive und Judikative.
Und es ist nicht das erste Mal, dass die Politik diese schweren Geschütze auffährt. Bereits im September 2023 gab es eine ähnliche Situation, als der Oberste Gerichtshof zusammenkam, um über Petitionen gegen die im Juli von der Knesset beschlossenen Maßnahmen bezüglich des Umbaus des Justizwesens zu beraten. Auch damals drohte eine schwere Staatskrise, weil Mitglieder der Regierung erklärten, dass sie einem Urteil, wenn es ihnen nicht passt, keinesfalls Folge leisten wollen. Manche wie Itamar Ben Gvir drohten den Richtern sogar ziemlich unverblümt, dass sie „keine Fehler begehen“ sollten, und ihr Vorhaben irgendwie blockieren. Doch zur Staatskrise, verursacht durch den Versuch der Exekutive, die Judikative zu schwächen, kam es nicht. Der Grund: Es ereignete sich der 7. Oktober und die „Justizreform“ wurde erst einmal auf Eis gelegt. Die Ereignisse rund um die Demission von Ronen Bar zeigen, dass die Regierung ihr Projekt nun mit allen Mitteln umsetzen will.