Ein Offener Brief des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz
Offener Brief
Wir, jüdische und nicht-jüdische Hochschullehrer:innen und Antisemitismusforscher:innen, erklären unsere Solidarität mit unserer Kollegin Prof. Dr. Haya Schulmann. Sie hat kürzlich eine Diskriminierungserfahrung öffentlich gemacht und wird dafür nun in unzulässiger Weise an den Pranger gestellt.
Prof. Schulmann berichtet, dass sie im Vorgespräch zur hr-Sendung Hallo Hessen am 28. Januar 2025 von der Moderatorin diskriminiert wurde. Nachdem sie auf Nachfrage erklärt hatte, dass ihr Vorname israelischer Herkunft ist, habe die Moderatorin – so Prof. Schulmanns Aussage – laut „Bääh“ gerufen, ihr die Zunge herausgestreckt und die Kommunikation abrupt abgebrochen. Prof. Schulmann wurde anschließend stummgeschaltet. Eine Entschuldigung für dieses Verhalten erhielt sie weder unmittelbar nach der Sendung noch später, weder von der Moderatorin noch von deren Arbeitgeber, dem hr. Statt einer Entschuldigung wurde lediglich ihre Wahrnehmung bedauert. Der Vorfall dauerte weniger als 30 Sekunden – hatte aber weitreichende Folgen.
Frau Prof. Schulmann hat ihre Erfahrung ohne Nennung der Moderatorin thematisiert. Statt sich ernsthaft um Aufklärung dieses Vorfalls zu bemühen, reagierte der hr mit einer internen Untersuchung durch eine Anwaltskanzlei, die über keinerlei Expertise im Bereich Antisemitismus verfügt. In dem Bericht der Kanzlei bleibt die Chronologie des Vorfalls unklar. Das Video des Gesprächs mit der Moderatorin wurde Prof. Schulmann nicht zur Verfügung gestellt, obwohl es für die Aufklärung zentral wäre. In einer Pressemitteilung des hr vom 13. Februar 2025 wurde zudem der Eindruck erweckt, Prof. Schulmann habe ihre Vorwürfe „relativiert“ oder gar „nicht aufrechterhalten“. Dieser Darstellung widerspricht Prof. Schulmann entschieden. In mehreren öffentlichen Stellungnahmen (u.a. vom 16. und 26. Februar) hat sie deutlich gemacht, dass sie zu ihren Aussagen steht.
Besonders gravierend erscheint uns, dass der hr in seiner Mitteilung implizit versucht, Prof. Schulmann des Rassismus zu bezichtigen und ihr eine Mitverantwortung für angeblich Dutzende Hassmails gegen die Moderatorin zuschreibt. Dieses Muster – Antisemitismusvorwürfe reflexhaft zu skandalisieren, zu delegitimieren oder gar zu pathologisieren – ist leider bekannt. Anstatt sich professionell mit der geschilderten Diskriminierungserfahrung auseinanderzusetzen, wurde Prof. Schulmann verdächtigt, ihre eigene Betroffenheit skandalisiert und sie öffentlich diskreditiert. Dies ist ein Beispiel für eine klassische Täter-Opfer-Umkehr: Nicht die mutmaßlich diskriminierende Handlung wird thematisiert, sondern die Person, die den Vorfall benannt hat. Prof. Schulmann wurde nicht ernst genommen, sondern in die Rolle einer diffamierenden Person gedrängt – ein Vorgehen, das ihre Glaubwürdigkeit untergräbt und eine gefährliche Signalwirkung entfaltet: Wer Antisemitismus benennt, riskiert selbst zur Zielscheibe zu werden.
Seit dem 7. Oktober 2023 beobachten wir verstärkt, dass schon das bloße Wort Israel in der Öffentlichkeit als Provokation empfunden wird und starke negative Emotionen auslöst. Diese Emotionen werden oft unreflektiert auf jüdische oder israelische Personen projiziert – im privaten, halböffentlichen und öffentlichen Raum. Die dadurch entstandene Verunsicherung jüdischer Menschen in Deutschland ist keine Einbildung, sondern eine direkte Folge des zunehmend sichtbaren israelbezogenen Antisemitismus. Dieser wird zu häufig verharmlost, nicht erkannt oder nicht benannt – und das nicht nur an den Rändern, sondern oft auch aus der Mitte der Gesellschaft heraus.
Insbesondere Jüdinnen und Juden mit realem oder zugeschriebenem Israelbezug werden in Medien, Hochschulen und anderen Institutionen zur Projektionsfläche politischer Ressentiments. Ihre Teilhabe wird dadurch eingeschränkt, ihre Stimmen abgewertet. Antisemitismuserfahrungen werden häufig vorschnell als „überempfindlich“ oder „übersensibel“ abgetan, wobei Antisemitismus oft auch institutionell relativiert bzw. bagatellisiert wird.
Uns geht es nicht nur um einen einzelnen Vorfall, sondern um die grundsätzliche Frage, wie in Deutschland mit Antisemitismus, mit jüdischer Selbstbehauptung und mit institutioneller Verantwortung umgegangen wird. Wenn eine jüdische Wissenschaftlerin, die offen und differenziert über ihre Erfahrung spricht, mit juristischen Schritten und öffentlicher Delegitimierung konfrontiert wird, dann ist nicht nur sie persönlich betroffen – sondern die demokratische Öffentlichkeit insgesamt.
Wir danken Prof. Schulmann ausdrücklich für ihren Mut, ihre Haltung und ihre Stimme. Es muss möglich sein, Antisemitismuserfahrungen offen zu benennen, ohne dafür diffamiert zu werden. Der hr hätte die Chance gehabt, den Vorfall ernst zu nehmen, professionell aufzuarbeiten und transparent zu kommunizieren. Bedauerlicherweise hat er sie bisher nicht genutzt. Es geht nicht darum, Menschen vorschnell als „Antisemiten“ zu brandmarken – wohl aber darum, Antisemitismus offen anzusprechen und darüber reflektieren zu können. Seine Benennung ist keine Skandalisierung, sondern Voraussetzung für gleiche Teilhabe, demokratische Debatten und den Schutz jüdischer Würde in Deutschland.
Wir fordern:
1. Erfahrungen wie die von Prof. Schulmann müssen ernst genommen und professionell behandelt werden – vergleichbar mit Fällen rassistischer Diskriminierung. Es darf nicht sein, dass Betroffene ohne gründliche Untersuchung zu Täter:innen gemacht werden. Menschen müssen diskriminierende Erfahrungen artikulieren dürfen, ohne institutionell oder juristisch eingeschüchtert zu werden.
2. Der hr muss Prof. Schulmann die vollständige Dokumentation der Untersuchung zugänglich machen und insbesondere das existierende Video des Vorfalls veröffentlichen, um eine professionelle und unabhängige Beurteilung zu ermöglichen.
3. In Fällen wie diesem ist es zwingend erforderlich, Antisemitismusexpert:innen einzubeziehen. Antisemitismus ist ein gesellschaftliches Problem, das über juristisch greifbare Dimensionen hinausgeht. Es braucht eine fundierte, öffentliche Auseinandersetzung – ohne Angst vor Stigmatisierung, aber mit der nötigen Sensibilität für reale Diskriminierung.
Unterzeichnende:
Vorstand des Netzwerks Jüdischer Hochschullehrender:
Prof. Dr. Julia Bernstein, Frankfurt University of Applied Sciences, Professur für Diskriminierung und Inklusion in der Einwanderungsgesellschaft
Prof. Roglit Ishay, Professorin für Klavier-Kammermusik an der Musikhochschule Freiburg i. Brsg.
Dr. Ilja Kogan, TU Bergakademie Freiberg, Honorarlehrkraft für Vertebratenpaläontologie
Der Vorstand des Netzwerks jüdischer Hochschullehrender in Deutschland, Österreich und der Schweiz lädt dazu ein, den offenen Brief zur solidarischen Unterstützung von Professorin Dr. Haya Schulmann zu unterzeichnen:
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