Der von Corry Guttstadt herausgegebene Sammelband “Antisemitismus in und aus der Türkei” bietet eine umfassende und tiefgehende Analyse der historischen und aktuellen Erscheinungsformen des Antisemitismus in der Türkei. Mit insgesamt 30 Beiträgen von Expert*innen verschiedener Disziplinen auf über 500 Seiten wird das Thema aus unterschiedlichen Perspektiven beleuchtet.
Von Ingolf Seidel
Die Aufsätze decken einen weiten Zeitraum ab, beginnend mit der Spätphase des Osmanischen Reiches bis hin zur Gegenwart. Sie untersuchen die Verbreitung antisemitischer Ideologien in Politik, Medien und Gesellschaft und zeigen auf, wie tief verwurzelt und vielfältig diese Feindbilder in der türkischen Gesellschaft sind. Besonders hervorgehoben wird, dass Antisemitismus nicht nur in rechten und islamistischen Kreisen präsent ist, sondern im gesamten politischen Spektrum bis hin zu linken Gruppierungen sowie in der kurdischen Nationalbewegung.
Ein wichtiges Thema des Buches ist die Rolle von verschwörungsideologischen Erzählungen, die Jüdinnen*Juden für den Untergang des Osmanischen Reiches verantwortlich machen. Solche Narrative sind bis heute in verschiedenen politischen Lagern der Türkei präsent und beeinflussen das gesellschaftliche Klima nachhaltig. Die Autor*innen des Bandes analysieren diese Mythen und deren Auswirkungen auf die heutige Politik und Gesellschaft. Im Bereich von Verschwörungsideologien ist insbesondere das anhaltende Gerücht gegen die Gemeinschaft der Dönme ein türkisches Spezifikum. Die Dönme sind eine religiöse und ethnische Gemeinschaft in der Türkei, die von den Anhänger*innen des jüdischen Mystikers Sabbatai Zvi (1626–1676) abstammt. Sabbatai Zvi erklärte sich im 17. Jahrhundert selbst zum Messias, konvertierte jedoch 1666 zum Islam, nachdem er vom osmanischen Sultan vor die Wahl gestellt wurde: Tod oder Annahme des Islam.
Neben der Behandlung des Antisemitismus im türkischen Nationalismus und in der extremen Rechten wird in mehreren Aufsätzen der Islamismus angesprochen. Dies geschieht unter anderem historisch am Beispiel des 1904 geborenen Vordenkers des Islamismus Necip Fazıl Kısabürek, der, aus gutem Hause stammend, eine westliche Ausbildung an der Sorbonne genoss und in seinem düsteren Verschwörungswahn zuallererst auf die Vertreibung von Jüdinnen*Juden und Dönme zielte, um die Türkei ethnisch zu säubern. Für den sich derzeit zunehmend diktatorisch gebärenden türkischen Staatspräsidenten Recep Tayyip Erdoǧan stellt Kısabürek Autor Svante E. Cornell zufolge eine wichtige und glorifizierte Quelle der Inspiration dar. Dabei wird der Vorwurf, mit Jüdinnen*Juden zu kollaborieren, von rechter Seite auch gegen Erdoǧan und die islamistische Partei für Gerechtigkeit (AKP) erhoben, so Nuray Meret, während die AKP wiederum selbst „Erbin der antisemitischen Ansichten der politisch und intellektuell islamistischen Kreise, aus denen die hervorging“ (222) ist. Dies gilt auch für den in der Regierungszeit der AKP zunehmenden israelbezogenen Antisemitismus. Dabei war die Türkei ursprünglich das „erste mehrheitlich muslimische Land, das den jüdischen Staat anerkannte“ (237), wie Duygu Atlas betont.
Hervorgehoben sei hier noch ein aus drei Aufsätzen bestehendes Kapitel zum „Antisemitismus aus der Türkei in Deutschland“ (403). Sina Arnold gibt einen kompakten Studienüberblick zu antisemitischen Haltungen unter Migrant*innen und Muslimen. Hervorzuheben ist hier die Erkenntnis, dass Antisemitismus „weniger Auswirkung der Religion als vielmehr von konservativ-autoritären Einstellungen“ (408f.) ist. Mit der Diyanet İşleri Türk Islam Birliǧi, der Türkisch-Islamischen Union der Anstalt für Religion, kurz und bekannter als DİTİB, befasst sich Jan Rübel. Der in Köln eingetragene Verein, dem in Deutschland nahezu 1000 Moscheegemeinden angehören, ist der verlängerte Arm des türkischen Präsidiums für Religionsangelegenheiten (Diyanet İşleri Baskanliǧi), das unmittelbar dem Präsidenten unterstellt ist. Trotz dieser Konstruktion gibt es Rübel zufolge in der DİTİB einen „Binnenpluralismus“ sowie „Gemeindemitglieder, die sich aktiv gegen Judenfeindlichkeit wenden“ (424). Daneben stehen Äußerungen wie die von Mustafa Keskin, langjähriger Gemeindevorsitzender in Göttingen, auf Facebook, der nicht nur „israelische Soldaten als ‚jüdische Hunde‘“ (425) bezeichnete, sondern auch die Ritualmordlegende anführte, Jüdinnen*Juden und Israelis würden absichtlich Kinder töten. Rübel führt verschiedene solcher Beispiele an, spricht aber nichtsdestotrotz von DİTİB als „Verband der Einzelfälle“ (424), dem sich zwar kein institutioneller Antisemitismus konstatieren ließe, der aber den Antisemitismus eher „abstrakt“ (429) und formal von sich weise.
Der dritte Text dieses auf Deutschland bezogenen Kapitels stammt von Kemal Bozay und hat die „Geschichte und Aktualität des Antisemitismus der rechtsextremen Grauen Wölfe“ zum Thema. Die Grauen Wölfe, auch Ülkücü (Idealisten) genannt, sind eine aus der Türkei stammende ultranationalistische und rassistische Partei und Bewegung, zu deren Ideologie der Turanismus gehört, der die „Einheit und Überlegenheit aller Turkvölker von Afghanistan/China bis zum Südostzipfel des Balkans“ (435) behauptet. In dem faschistischen Weltbild sind Kurd*innen und Alevit*innen keine Türk*innen. Wie Linke gehören sie zu den zentralen Feindbildern. Neben dem Nationalismus werden auch islamistische Elemente ideologisch synthetisiert. Alparslan Türkeş gründete 1969 die Milliyetçi Hareket Partisi (MHP), Partei der Nationalistischen Bewegung. Neben dem Wolfskopf als gemeinsames Symbol fungiert die Parteifahne der MHP mit drei weißen abnehmenden Halbmonden auf rotem Hintergrund als Erkennungszeichen. Mit über 12.000 Mitgliedern hierzulande sind die Grauen Wölfe keine kleine extrem rechte Gruppierung. Dennoch finden die Grauen Wölfe relativ wenig öffentliche Beachtung. Insbesondere der israelbezogene Antisemitismus, aber auch verschwörungsideologische Elemente dienen Bozay zufolge in den letzten Jahren als Mittel, „neue Zielgruppen anzusprechen und zur Verbreitung antisemitischer Einstellungen innerhalb der türkeistämmigen Milieus“ (449) beizutragen. Eine zentrale Rolle spielen dabei neben sozialen Medien türkische Fernsehsender und Zeitungen sowie rechte Netzwerke. Der Antisemitismus hat dabei im Weltbild der Grauen Wölfe die Funktion eines „‘flexiblen Code(s)‘“(450).
Besonders wertvoll ist der interdisziplinäre Ansatz des Sammelbandes, der historische Analysen mit aktuellen Beobachtungen verknüpft und dabei auch die Perspektiven von Aktivistinnen und Aktivisten einbezieht, die sich gegen Antisemitismus engagieren. Dies ermöglicht einen umfassenden Blick auf das Phänomen und dessen Auswirkungen sowohl in der Türkei als auch in Deutschland, ohne dass der Eindruck entsteht die Judenfeindschaft würde zu einem spezifisch und wesentlich muslimischen Problem gemacht.
Die Relevanz des Bandes wird durch aktuelle Ereignisse unterstrichen. So zeigt sich der Antisemitismus in der Türkei seit dem Massaker der Hamas vom 7. Oktober 2023 in aller Offenheit: Regierungsnahe Medien rufen zur Vernichtung der Juden auf, und Politiker bejubeln Hitler und den Holocaust. Erdoǧan tat sich erst kürzlich in einer Istanbuler Moschee mit der antisemitischen Aussage hervor „Möge Allah das zionistische Israel zerstören“.
Insgesamt stellt “Antisemitismus in und aus der Türkei” ein wichtiges Grundlagenwerk dar, das nicht nur für Fachleute, sondern auch für ein breiteres Publikum von Interesse ist. Es leistet einen bedeutenden Beitrag zum Verständnis der tief verwurzelten antisemitischen Strömungen in der Türkei und deren Auswirkungen auf die Gesellschaft.
Corry Guttstadt, Antisemitismus in und aus der Türkei
Unter Mitarbeit von Sonja Galler
Herausgeber: Interkulturelle Werkstatt (ikw e.V.), TürkeiEuropaZentrum an der Universität Hamburg und der Landeszentrale für politische Bildung Hamburg, 2023
Das Buch ist gegen 5 € Schutzgebühr für Selbstabholer erhältlich im
Infoladen der Landeszentrale für Politische Bildung
Dammtorwall 1, 20354 Hamburg (Nähe Dammtor)
Tel.: 040-42823-4802 // E-Mail: politischebildung@bsb.hamburg.de
Bestellungen (5 € plus Versandkosten) an: gegen-antisemitismus@ikw-hamburg.de