Der ewige Purim

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Purim im Jüdischen Jugendwohnheim und Lehrlingsheim Pankow, 1938, Aufführung zu Purim von Hans Sachs' "Das Narrenschneiden", Foto: Leo Baeck Institute, Heinrich Stahl Collection, AR 7171

Der vorliegende Beitrag zu Purim erschien 1930 in der Jüdischen Wochenschrift „Die Wahrheit – Österreichische Wochenschrift für jüdische Interessen“, eine Zeitschrift, die in Reaktion aufs den wachsenden Antisemitismus gegründet wurde. Autor Binjamin Segel zeigt die Bedeutung der Esther-Erzählung über Purim hinaus und berichtet von kleineren Purimfesten über die Jahrhunderte.

Binjamin Segel wurde 1866 in Rohatyn geboren und wuchs in Galizien auf. Er sammelte ostjüdische Folklore, die er in deutschen, polnischen, hebräischen und jiddischen Publikationen veröffentlichte. Immer wieder widmete er sich auch der sog. Judenfrage und der antisemitischen Verfolgung von Juden. Mit „Die Protokolle der Weisen von Zion kritisch beleuchtet. Eine Erledigung“ (1924) versuchte er erstmals, das antisemitische Werk, das zum Leitfaden alles Verschwörungstheorien werden sollte, zu entkräften. Segel starb 1931.

Der ewige Purim

Von Binjamin Segel
Erschienen in: Die Wahrheit, Wien, 14. März 1930

Kein Buch der Bibel ist so vielen und so scharfen Angriffen einer unfreundlichen Kritik ausgesetzt gewesen, wie das Buch Esther, das die Entstehungsgeschichte des Purim-Festes erzählt. Man hat die Moral des kleinen Buches getadelt und ihm vorgeworfen, daß er Haß und Rachsucht predige, man hat seine Personen, namentlich Mordechai und Esther, im unvorteilhaftesten Lichte geschildert, schließlich hat man sie alle des Daseins beraubt, hat dem Buch die „historische Wahrheit“ abgesprochen und die ganze Erzählung ins Reich der Fabel verwiesen. Von jüdischer Seite stellte man mit Erstaunen fest, daß in dem ganzen Buche der Name Gottes nicht ein einziges Mal vorkommt. Sogar mancher Jude ist unangenehm überrascht, wenn er dies wahrnimmt. Nöldeke hat ausgerechnet, daß das Wort „Mischthe“ (Trinkgelage) im Esther-Buch nicht weniger als zwanzigmal vorkommt, genau so viele Male wie in allen anderen Büchern der Bibel zusammengenommen. Zunz konstantierte nicht ohne Bitterkeit, daß das Wort „König“ darin 187mal, „Königreich“ 26mal, aber Gott nicht ein einziges Mal genannt wird. Man hat auch für die „Schlemmerei und Völlerei“, der sich die Juden am Purim angeblich er ergeben pflegen, das Buch Esther verantwortlich gemacht, hat aber vergessen, einen Blick auf den Karneval zu werden, der um dieselbe Zeit stattzufinden pflegt und an dem auf diesen Gebieten ganz andere Dinge geleistet werden, Dinge, wie sie die Juden in ihrer ausschweifendsten Phantasie nicht geträumt haben.

Im Mittelalter erregte das Fehlen des Gottesnamens im Esther-Buch das Bedenken der Kommentatoren, welche das zu erklären suchten. Am nächsten kommt der Wahrheit der berühmte spanische Prediger aus dem 15. Jahrhundert, Isaak Arama, Verfasser des bekannten Akedat Izchak, der annimmt, das Buch wäre auf Bitten Esthers von den Männern der Großen Versammlung aus dem Persischen ins Hebräische übersetzt worden. Der Stil des Buches unterscheidet sich bekanntlich in der Färbung und im Ton von allen anderen Prosabüchern der Bibel. Uns Heutigen, die wir eine große Anzahl klassischer hebräischer Prosaübersetzungen besitzen, drängt sich dieser Gedanke von selber auf. Viel getadelt (weil gänzlich mißverstanden) wurde es, daß Esther auf Mordechais Geheiß ihre Abstammung verbirgt. Man deutete diesen Zug als Ausdruck der Gesinnung derern, die sich in unserer Zeit „nicht zu erkennen geben“, weil ihnen das zur Karriere nützt oder den Verkehr in nichtjüdischer Gesellschaft erleichtert.

An der Gestalt der Esther fanden die geistes-aristokratischen Kreise, die an ein heroisches Empfinden gewohnt waren, kein sonderliches Gefallen. Erstens war das Errettetwerden durch höfische Frauenprotektion anstatt durch Kampf im Namen Gottes nicht nach ihrem Geschmacke. Man mißbilligte es ferner, daß sie die Gattin eines Nichtjuden, wenn auch eines Königs wurde, und ersann ein Wunder, um diesen Schritt zu rechtfertigen. Von der Gestalt der Esterka, die als Geliebte des Königs Kasimir des Großen von Polen im 14. Jahrhundert ihrem Volke eine Beschützerin geworden sein soll haben sich ja nur bei den Polen, nicht aber bei den Juden Erinnerungen erhalten. Dagegen hat die schöne verheiratete Gräfin Waleska Napoleon I. sich aufgedrängt und hingegeben, in der patriotischen Hoffnung, daß er ihr zum Lohne dafür Polen wiederherstellen werde…

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Doch unbarmherziger als alle die bisher genannten Kritiker verfuhren, wie bereits erwähnt, manche Vertreter der modernen protestantischen Bibelwissenschaft mit dem Esther-Buch, die dessen „historische Wahrheit“ in Abrede stellten und die ganze Erzählung in das Reich der puren Dichtung verwiesen. Als wären sie dabei gestanden, schworen diese Gelehrten Stein und Bein, daß weder Haman, noch Mordechai, weder Esther noch Waschthi je existiert haben.

Das kleine Buch hat für alle diese Verunglimpfungen Revanche genommen, indem es anstatt der ihm von der Professorenweisheit abgesprochenen historischen Wahrheit eine höhere, man möchte sagen eine welthistorische, eine psychologische Wahrheit bewährte. Die Gelehrten verwechselten nämlich Wahrheit mit Wirklichkeit. Wenn man Kindern eine Geschichte erzählt, fragen sie immer: ist das auch wirklich wahr? Sie möchten nämlich wissen, ob Hänsel und Gretel, Rotkäppchen, Aschenbrödel, die Menschenfresser, Rumpelstilzchen und Rapunzel irgendwo wirklich zu sehen, zu greifen und zu haschen wären. Die Kindern können natürlich nicht ahnen, daß eine erdichtete Geschichte, die sich nie zugetragen hat, tausendmal wahrer sein kann, als ein Ereignis, das wirklich stattgefunden, sogar mehrere Male stattgefunden hat, und dennoch tief unter der Wahrheit steht, nämlich kein Element des ursächlich zusammenhängenden Weltgeschehens spiegelt, sondern nur eine zufällige Aufeinanderfolge sinnloser, unbedeutender Vorkommnisse, zusammenhangloser Fragmente aus dem Kaleidoskop des Völkerlebens. Manches Grimmsche Märchen schließt in sich, obwohl es nie wirklich gewesen, tausendmal mehr Wahrheit, als manches Jahrhundert russischer Geschichte voll derber, schreiender Tatsachen, die aber doch nur ein wüstes Durcheinander sinnlos-roher Missetaten von oben und von unten darstellen. Die moderne Psychologie hat uns aber gelehrt, daß die menschliche Phantasie nie etwas völlig aus dem Nichts schafft. Keine Hervorbringung des Mythos, der Sage, des Märchens oder der Erzählung, zu der nicht der Keim in der Natur oder dem Leben vorhanden wäre!

Ist es nun durchaus verfehlt und unpsychologisch zu meinen, daß der Verfasser des Esther-Buches sich seine Erzählung aus dem Finger gesogen hat, daß sie von keinem wirklichen Ereignis angeregt wurde, so hat die Geschichte des jüdischen Volkes seit Purim nur bewiesen, daß die Purimgeschichte mehr als eine historische, weil eine ewige Wahrheit enthält, die sich immer wieder von neuem wiederholt. Die jüdische Geschichte verzeichnet eine stattliche Anzahl von Fällen, die eine so frappante Aehnlichkeit mit dem Purim-Ereignisse aufweisen, daß diejenigen, die sie erlebt, jeweils einen Gedenktag für „ewige Zeiten“ eingesetzt haben und ihn ebenfalls „Purim“ nannten. Ich habe bisher ihrer 30 festgestellt, aber es dürfte wohl mehrere Dutzend davon gegeben haben. Allein man wurde wegen der großen Zahl es müde, immer von neuem ein Purim einzusetzen.

Unwillkürlich wird man dabei an ein Wort aus unserer Zeit erinnert. Alexander Zederbaum, der berühmte hebräische Publizist und Begründer der „Ha Meliz“ in Petersburg, stand bei Pobjedonoszow in hoher Gunst und hat mehr als ein Verhängnis, das der allmächtige Prokuartor des heiligen Synods plante, von den Köpfen der Juden abgewendet. Einmal fragte ihn Pobjedonoszow halb im Scherz: „Was sagen die Juden dazu, daß ich sie seit Jahren so unbarmherzig verfolge und ihnen keine Ruhe gönne?“ – „Das möchte ich Ew. Heiligkeit sagen, wenn ich nicht fürchtete, Sie zu beleidigen.“ – „Sprich nur frei, ich werde nicht böse sein.“ – „Nun, die Juden sagen: ‚Budjet prazdnik‘ (Es wird ein Fest geben).“ – „Was für ein Fest, da ich sie ausrotte, vertreibe und aushungere?“ „Die Juden sagen, das war immer so. Zuerst kam Pharao und wollte sie ausrotten, jetzt haben wir Pessach, dann kam Antiochus und wollte sie ausrotten, jetzt haben wir Chanukka. Dann kam Haman und wollte sie ausrotten. Jetzt haben wir Purim. Es kamen dann noch viele, die uns ausrotten wollten – aber man kann ja am Ende nicht alle Tage Feste feiern.“ Es wird nicht überliefert, was Podjedonoszow geantwortet.

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Die scharfe Beurteilung des kleinen Buches rührt daher, daß man es nicht in erster Reihe als ein Literaturwerk beurteilte und darum nicht als das nahm, als was es sich gibt, sondern daran mit Maßstäben herantrat, die ganz anders gearteten Büchern der Bibel entnommen waren. Das Buch tritt nicht mit dem Anspruch auf, beglaubigte politische Geschichte neu zu erzählen, sein Verfasser gibt sich auch nicht als Prophet oder Psalmist. Das Esther-Buch will lediglich eine Festlegende sein, es erzählt eine im Volke überlieferte Sage, wie das Purimfest entstanden ist. Als das Esther-Buch in Persien endgültig niedergeschrieben wurde, bestand das Purimfest schon lange. Es ist von Susa, der Hauptstadt Persiens, in der Form eines Briefes nach Jerusalem geschickt worden und will für die Einführung des in den jüdischen Gemeinden des Ostens längst gefeierten Festes werben. Nun war Purim zur Zeit des Josephus, nämlich in den letzten Tagen Jerusalems, schon überall unter den Juden bekannt, aber erwähnt wird es erst im zweiten Makkabäer-Buche, also ungefähr hundert Jahre vor den üblichen Zeitrechnung. Doch die darin erzählte Begebenheit spielt unter dem Perserkönig Xerxes I., der von 486 bis 465 regierte, dessen Namen babylonisch Achschiwarschu, bei den Juden aber Achaschwerosch lautete. Es waren also inzwischen mehr als drei Jahrhunderte verstrichen.

Wir können natürlich nicht feststellen, wann die Erzählung in die jetzige Form gebracht wurde. Aber wir können es verstehen, daß die Judengemeinden in Persien gerade in der Zeit der Bedrückung Palästinas durch die syrischen Griechen das Bedürfnis verspürten, ihren fernen Brüdern in der Heimat Kunde zu geben von einer alten Ueberlieferung, die unter ihnen lebte, wonach sie einmal auf wunderbare Weise aus der Hand eines gefährlichen Todfeindes errettet wurden, ein Ereignis, von dem ein alljährlich gefeiertes, fröhliches Fest seinen Ursprung nahm. Das Buch Esther ist eigentlich die Geschichte eines vereitelten Pogroms, es ist die erste Pogrom-Geschichte, und will als solche beurteilt werden. Der Verfasser hat offenbar im Volke umgehende, vielleicht zum Teil bereits schriftlich fixierte Sagen mit historischem Hintergrund kunstvoll und geschickt verarbeitet und aus der persischen Umgangssprache in ein etwas präziöses literarisches Hebräisch übertragen, gleichwie dies in unserer Epoche so häufig geschieht. Nicht Geschichte wollte er bieten, sondern volkstümliche Ueberlieferung, wie sie im Munde der breiten Massen lebte. Dem Verfasser eigenete nicht eine große schriftstellerische Begabung, sondern bedeutendes künstlerisches Talent und feines psychologisches Verständnis. Die göttliche Führung der Dinge setzt er stillschweigend als selbstverständlich voraus, aber es ist nicht seine Sache, fortwährend Gott im Munde zu führen. Er bemüht sich, das Kolorit der Zeit und des Ortes treu wiederzugeben, und die modernen Forscher, auch solche, die ihn ablehnen, haben anerkannt, daß er die Sitten und Bräuche des persischen Hofes und seine Oertlichkeiten vollkommen zutreffen schildert – offenbar aus eigener Anschauung.

Daß die Geschichte in den Annalen des persischen Reiches nicht verzeichnet ist, braucht uns nicht wunder zu nehmen. Alle die schauerlichen russischen Pogrome von 1881 bis 1883 und 1905/06 wurden in der offiziellen russischen Reichsberichterstattung ja auch nur höchstens mit ein paar Worten in einem Nebensatz abgetan. Wäre nicht die Presse, insbesondere die ausländische, so manche grausige Judenmetzelei wäre ohne Sang und Klang verschollen. Dabei ist der Hamansche Pogrom rechtzeitig vereitelt worden… Austilgung ganze Bevölkerungen kamen im Perserreich vor, das erzählt uns Herodot. Ein solcher Plan muß nicht gleich der ganzen Judenschaft des persischen Reiches gegolten haben. Er mag nur einer der 127 Provinzen zugedacht gewesen sein und die Volkssage vergrößerte die Dimensionen ins Ungeheuerliche.

Vor etwas mehr als 30 Jahren haben wir etwas ähnliches erlebt. Im Juni 1898 brach in einer der größten und schönsten Städte Westgaliziens zum größten Staunen, zur Ueberraschung und zum Entsetzen aller aus völlig heiterem Himmel ein Pogrom los. Pater Stojalowski, ein ein exkommunizierter Priester, der gegen den Episkopat und die Landesregierung Kriegt führte, wühlte die Bauernschaft auf, wobei ihm die Wiener liberale Presse wacker beistand, denn die Wiener Liberalen lagen gerade in Fehde mit dem reichsrätlichen Polenklub, der Galizien im österreichischen Zentralparlament repräsentierte und sie waren froh, im Lande Verwirrung zu stiften und seiner Regierung Verlegenheiten bereiten zu können. In Galizien wußte jeder Einsichtige, daß am Ende die Juden die ersten sein würden, die das Bad ausschütten, wenn die Wühlerei einen genügend hohen Grad erreicht hat, um sich ein Ventil zu suchen. Das wußte man, aber man glaubte es nicht. Keiner konnte sich einen Pogrom in Galizien ausmalen. Aber eines schönen Samstagmorgens zeigten sich in mehreren Dörfern der Umgegen riesenhafte Plakate, die in ungelenker Schirft verkündeten, daß der Kaiser befohlen habe, das Volk solle am nächsten Sonntag mit den Juden in den Städten „anfangen“, da der Tag der großen Abrechnung gekommen sei. Richtig zogen am nächsten Morgen, kaum daß es tagte, Scharen von Bauern mit ihren Fuhren zur Stadt. Im Nu begann die Plünderung. Bald erschien Militär und forderte die Bauern aus, abzuziehen. Vergebens. Nach der dritten vergeblichen Mahnung gaben die Soldaten Feuer und dreizehn Bauern fielen bei der ersten Salve. Panik und Erbitterung bemächtigte sich der Plünderer. Es war der Moment höchster Gefahr. Da machte der jüdische Bürgermeister der Stadt durch eine mutige und kluge Rede der Sache ein rasches Ende. In wenigen Stunden war die Ruhe wiederhergestellt. Aber der Schauplatz sag aus wie ein Schlachtfeld.

Ich war einige Tage darauf in dem ostgalizischen Städtchen Cholojow, das etwa zwölf Eisenbahnstunden vom Tatort entfernt liegt. Dort fand ich schon eine pantastisch ausgeschmückte Legende über den Vorfall: es hatte eine richtige Schlacht stattgefunden, in welcher die Regierungstruppen, kommandiert von dem jüdischen Bürgermeister, der Major der Reserve war, unter dem Stojalowski geführten Bauernheere ein wahres Blutbad angerichtet hatten. Zwischen dem Bürgermeister und dem Bauernführer bestand nämlich seit langem, so erzählte man sich, ein geheimer Kriegszustand, da Stojalowksi die Frau des ersteren zu entführen versucht hatte. Von dem Gatten dafür gezüchtigt, beschloß der ausgestoßene Geistliche, sich an allen Juden dafür zu rächen. (Tatsächlich munkelte man im Lande, daß Stojalowksi einmal bei einem Diner eine jüdische Dame beleidigt habe. Vom Gatten dafür tätlich insultiert, wurde er von seinem Bischof obendrein zu einer schweren Kirchenstrafe verurteilt.) Stojalowksi, dieser Haman, der den Kaiser irregeführt und ihm die Befehle gegen die Juden herausgelockt hatte, sei gefangen genommen, nach Wien gebracht und werde bald gehenkt werden. Der jüdische Bürgermeister sei vom Kaiser zum General ernannt worden…

Noch in anderer Beziehung war jenes Erlebnis für mich lehrreich. Als ich einige Wochen darauf die Pogromstadt aufsuchte, fand ich die Juden mit Veranstaltungen von Geldsammlungen beschäftigt. Es sollte ein Fonds zur Unterstützung der Hinterbliebenen der 13 Bauern geschaffen werden, die erschossen worden waren. „Die Kinder sind jedenfalls unschuldig“, sagten die Juden, auch die Erschossenen selber waren ja nur Opfer dieser wüsten Agitation. „Unsere Bauern sind noch so abergläubig und roh, daß sie solchen Märchen Vertrauen schenken.“ Oftmals war ich in galizischen Städtchen Zeuge von Schlägereien zwischen Juden und Bauern. Nicht immer zogen die Juden den Kürzeren; obwohl sie in der Minderzahl waren, verprügelten sie ihre Gegner manchesmal sehr arg. Aber sobald diese wehrlos waren, überkam sie immer das Mitleid und sie verbanden die Verwundeten, spendeten ihnen noch Speise und Trank.

So wird es wohl auch vor 2000 Jahren in persien bei solchen Vorfällen gewesen sein, auch dort und damals „rächten“ sich die Juden auf diese Art an ihren Feinden, die sie auszurotten planten. Die phantastischen Ziffern von getöteten Judenfeinden, in denen der naive Verfasser schwelgt, gehören ebenso ins Reich der Fabel wie die Blutbäder, von denen mir die Cholojower Juden erzählten. In Susa selber sollen es 500, im ganzen Reiche sogar 75.000 gewesen sein; die Septuaginta sind milder und sagen bloß 15.000. Der Verfasser konnte sich das leisten, denn es kostete keinem Menschen das Leben. Man denke sich, daß die russischen Juden nach einem vereitelten Porgom in Petersburg 500 und in ganz Rußland 75.000 Huligans totschlugen! Der Verfasser vergaß zweierlei, daß Judenfeinde sich nicht so ohne weiteres totschlagen lassen und daß man sie nicht so leicht aus der Masse der anderen heraus erkennen konnte. Das ist eine der schwachsen Seiten dieses über dem Durchschnitt begabten Erzählers.

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Aber alle Mißgriffe und Fehler muß man dem Verfasser verzeihen, wenn man die von ihm vorgetragene Psychologie des Judenhasses erwägt. Hier hat der unbekannte, anspruchslose Schriftsteller im fernen Persien ein Meisterstück ersten Ranges geleistet, welches zweitausend Jahre nah ihm in unserem Europa unter so unsagbar veränderten politischen, wirtschaftlichen und kulturellen Verhältnissen seine volle Geltung behält. Es handelt sich hier offenbar um einen Grundzug der menschlichen Natur, der bei allen Völkern und Rassen unter allen Himmelsstrichen in allen Kulturen sich gleich bleibt. Seit die Juden in die Fremde gehen mußten, war es damals das erste Mal, daß ihnen der Massenhaß entgegenwehte und ihnen zum Verhängnis zu werden drohte. Die Gestalt Hamans ist mit vielen individuellen Zügen ausgestattet und äußerst lebendig gesehen. Gleichwohl ist Haman ein Typus, die Hauptmotive seines Handelns wiederholen sich zu jeder Zeit. Weshalb haßt er alle Juden und will sie ausrotten? Der Verfasser führt das auf ein persönliches Erlebnis zurück. Es ist ja ebenso schwer, ein ganzes Volk zu hassen, wie ein ganzes Volk zu lieben. Liebe und Haß sind höchst individuelle Gefühle. Ein solches höchst persönliches Erlebnis entzündet zuerst in Hamas Brust glühenden Haß gegen Mordechai; dann kommt die Verallgemeinerung, dieser Vernunft-Ersatz, mit dem die platten Durchschnittsmenschen ohne Anstrengung des Denkapparates sich durch Leben fretten und dabei stolz auf ihren Scharfsinn sind. Verletzte Eitelkeit ist das Motiv, die stärkste Triebfeder gewöhnlicher Naturen, die Mutter des Neides und des Hasses. In 99 von 100 Fällen ist das zu allen Zeiten die Ursache des Judenhasses. In einer Republik oder in einer demokratischen Monarchie würde Hamas versuchen, das Volk aufzuwühlen, in einer Despotie wendet er sich an den König. Der machts.

Was sagt nun Haman zum König? Etwa, daß die Juden schlechte Patrioten, unzuverlässige Untertanen sind? Oder daß sie das Volk auswuchern, schwere Arbeit fliehen, unehrlich im Handel, habgierig und hartherzig sind? Ach nein! Das hätte wohl zu vergangen vermocht, es war viel zu leicht zu widerliegen. Hamas spricht nur die Wahrheit, nichts als die Wahrheit, aber er gibt ihr eine Beleuchtung, die schlimmer ist, als die ärgste Lüge. Es gibt da ein Volk, zerstreut und hingesät zwischen den Völkern. Seine Gebräuche und Sitten sind verschieden von denjenigen der anderen Völker, nach Sitte und Brauch des Königs handeln sie nicht. Was hat der König für ein Interesse, sie in Ruhe zu lassen?… Haman ist es nicht um die gewaltigen inneren Gegensätze zwischen der persischen Staatsreligion und dem ethischen Monotheismus der Juden zu tun. Auf solche Subtilitäten läßt er sich nicht ein, er hat wahrscheinlich von ihnen keine Ahnung. Was ihn ärgert, ist das Aeußere, was jeder wahrnimmt, also die besonderen Feste, der Sabbath, die Speisegesetze, welche die Juden von den anderen scheiden, sie als andersartig erscheinen lassen. Der Andersartige ist der Fremde und der Fremde ist der Feind. Der Feind aber steht nach dem Empfinden des antiken Menschen außerhalb jeden Rechtes, ist vogelfrei – ein Empfinden, das noch leider in der Gegenwart lange nicht ausgerottet ist. Und der König hat kein Interesse daran, ihn zu schonen, besonders wenn der Fremde, dieser Feind, eine verschwindende Minderheit bildet, die sich nicht wehren kann und der keiner von außen zu Hilfe kommen wird. Da ist es ja ganz ungefährlich, ihm den Garaus zu machen.

Die zwei Hauptmotive des Judenhasses, welche die Jahrhunderte hindurch an erster Stelle wirksam waren, hat der Verfasser der Esther-Geschichte mit feinem psychologischen Empfinden erfaßt. In ihrem Dekret zur Vertreibung der Juden aus Spanien reden Ferdinand und Isabella nicht etwa von jüdischem Wucher oder jüdischer Ausbeutung, sondern davon, daß die fremde Religion im katholischen Lande nicht geduldet werden könne. Damals war die Religion das konstituierende Element. Heutzutage ist Haman aufgeklärt und gebildet, er hat Anthropolgie studiert und daher sind ihm die Juden die fremde Rasse, die im arischen Lande nicht geduldet werden dürfe. Die Tatsache, daß die Juden stets und überall eine Minderheit bilden, ist das andere konstituierende Element im verhältnis der Juden zu ihrer Umwelt, ein Moment, das sowohl nach innen wie nach außen wirksam ist.

Gorki sagt einmal: „Der Künstler sucht nicht die Wahrheit, er schafft sie.“ Eine solche schöpferische Darstellung der Wahrheit enthält das Esther-Buch. Sein Verfasser hatte das Zeug zu einem großen Dichter in sich. Das jüdische Volk hat die naiv herausgefühlt und hat ihm die denkbar größte Huldigung dargebracht, indem es während zwanzig Jahrhunderten in zahlreichen Fällen jedesmal, wenn es aus der Hand eines feindlichen Menschen oder Schicksals wie durch eine wunderbare Fügung, errettet wurde, das Ereignis in dem Lichte seiner Erzählung gesehen, den aus diesem Anlasse eingesetzten Erinnerungstag nach de in dieser Erzählung verherrlichten Feste benannt und nach seinem Muster das Ereignis in einer Erzählung verewigt, den Stil der Megillath Esther nachgeahmt hat.

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Das jüngste dieser kleinen Purimfeste wurde kürzliche 100 Jahre alt. Es ist dies das Purim von Bobowno, das am 18. Adar Scheni 1829 eingesetzt ward. Vom Jahre 1823 bis 1835 zog sich der Ritualmordprozeß von Welisch (gouvernement Witebsk) hin, einer der fürchterlichsten Prozesse dieser Art, der sogar damals, unter dem Schreckensregiment des Zaren Nikolaus I., da das Schlimmste nicht mehr überraschte, die Juden von ganz Rußland länger als ein Jahrzehnt in ungeheurer Aufregung erhielt. Eine Episode dieses Prozesses spielte in Bobowno. Ein getaufter Jude namens Grudinski bekundete, er habe als kleiner Knabe im Hause eines Verwandten namens Shabbathai Turbowitz der Schlachtung und Entblutung eines kleinen Christenkindes beigewohnt. die Blutspuren seien noch jetzt in dem Talmud-Traktat Pessachim zu sehen, der sich im hause jenes Turbowitz befinde. Eine hochnotpeinliche Untersuchung wurde eingeleitet, die mehrere Tage dauerte, während das Haus von Soldaten umzingelt war. Dem Untersuchungsrichter Rodakowski gelang es, der Wahrheit auf den Grund zu kommen, der Angeber wurde entlarvt. Das war der unmittelbare Anlaß, daß die höheren Behörden auf die Machinationen des Witebsker Gubernators Chowanski, der den ganzen Prozeß eingefädelt hatte, aufmerksam wurden. Im Jahre 1835 entschied der Staatsrat unter persönlichem Vorsitz des Zaren, daß die Anklage sich auf gänzlich unhaltbaren Grund aufbaute. Die Angeklagten wurden in Freiheit gesetzt. Grudinski wurde wegen falscher Zeugenaussage zur Militärstrafkolonie verurteilt. Der ganze Hergang wurde in einer Megillath Sabbathai erzählt, welche die Nachkommen der Verleumdeten aufbewahren. (S. Dubnow hat sie seinerzeit in Luach Achiasaph veröffentlicht. In deutscher Sprache wurde sie im Jahre 1906 in „Ost und West“, Heft 10/11, abgedruckt.)

Am 20. Adar 1616 wurde in Frankfurt a.M das Purim Winz eingesetzt, zur Erinnerung daran, daß an diesem Tage die Juden dieser Stadt wie im Triumphe mit Paukenschlag und Hörnerschall von den Kommissarien Kurmainzens und Darmstadts in ihre Wohnungen wieder eingeführt wurden – nachdem sie am 22. August 1614 auf Betreiben des Lebkuchenbäckers Vinzenz Fettmilch, des „neuen Hamans der Juden“ gegen den Willen der Stadt- und Landesregierung ausgetrieben worden waren.

Das älteste uns bekannte Purim dieser Art dürfte vielleicht das Purim Narbonne von 1236 sein, zur Erinnerung an die Abwehr eines Ueberfalls auf die dortige jüdische Gemeinde, hervorgerufen durch eine Schlägerei zwischen einem Juden und einem Christen auf dem Fleischmarkt. Es ist indessen unwahrscheinlich, daß dieses Purim das erste seiner Art sein sollte.

(Das Charakteristische der meisten dieser Purimfeste ist neben der betreffenden Megillah, daß ihnen stets ein Fasttag vorangeht, wie beim ursprünglichen Purim.)

Es gab auch noch eine ganze Anzahl von Familien-Purimfesten, die nur von einzelnen Familien gefeiert wurden, zur Erinnerung an eine glückliche Errettung eines ihrer Vorfahren aus einer Gefahr eingesetzt: Brände, Erdbeben, Explosionen, räuberische Ueberfälle, Verleumdungen u. dgl. Das berühmteste ist wohl das Purim des gefeierten Jomtow Lippmann Heller, welches er im Jahre 1644 für seine Nachkommen eingesetzt hat zur Erinnerung an die stürmischen Jahre seines Lebens, die aufhörten, als er zum Rabbiner von Krakau erwählt wurde. An diesem Tage sollten die Nachkommen das bekannte Schriftchen Megillath Ebha lesen, das die Geschichte seines Lebens enthält, nach vorhergehendem Fasten eines Festtag halten, Almosen geben und fröhlich sein.

So ist Purim zu einem Typus der jüdischen Geschichte geworden.