„Ich will noch fortleben auch nach meinem Tod!“

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Vor 80 Jahren starb Anne Frank einen einsamen Tod im Konzentrationslager Bergen-Belsen, aber ihre Botschaft überlebte und bleibt von großer Aktualität.

Von Thomas Tews

In ihrem gerade in deutscher Übersetzung erschienenen Buch „Immer wenn ich dieses Lied höre. Im Versteck von Anne Frank“ beschreibt die Journalistin, Schriftstellerin und Musikerin Lola Lafon die letzten Wochen in Anne Franks Leben im Konzentrationslager Bergen-Belsen wie folgt:

„Das Lager ist überfüllt, ohne Latrinen und ohne Beleuchtung. Überall Haufen von Leichen, mit Schnee bedeckt, nackt. Die Lebenden werden in überfüllte Zelte gestopft. Anne und Margot Frank bekommen dort den schlechtesten Platz: eine Pritsche im eiskalten Wind.
Die letzten Tage der Schwestern Frank kennen wir in Bruchstücken, berichtet von den Deportierten, die sich erinnern, ihnen begegnet zu sein. Alle erzählten von Annes Stimme, von Margots Stimme, die flehten, man möge das Zelt schließen, sie frieren so. Alle sagen, man hörte sie sterben, man hörte ihre Stimmen verebben.
Anne und Margot Frank – ausgemergelt, von der Krätze befallen, von Läusen bevölkert – erliegen dem Hunger, der Kälte und dem Fleckfieber.
Margot verendet zuerst. Annes genaues Todesdatum ist unbekannt, eingetragen wurde es am 31. März 1945.“(1)

An Anne Franks einsamen Tod erinnerte Fritz Bauer, der als Generalstaatsanwalt des Landes Hessen die Frankfurter Auschwitzprozesse initiierte, am 9. Juni 1963, drei Tage vor Anne Franks 34. Geburtstag, auf einer von der Union Deutscher Widerstandskämpfer und Verfolgtenverbände veranstalteten Gedenkfeier:

„Anne starb einsam in Bergen-Belsen. Renate L. A., die im Lager war, sagt: ‚Ich glaube bestimmt, daß Anne am Tod ihrer Schwester gestorben ist. Es läßt sich schrecklich leicht sterben, wenn man allein im KZ ist.‘ Sie starben alle allein. Franz Kafka schreibt, wenn K. im Prozeß hingerichtet wird: ‚Seine Blicke fielen auf das letzte Stockwerk des an den Steinbruch angrenzenden Hauses. Wie ein Licht aufzuckt, so fuhren die Fensterflügel eines Fensters dort auseinander, ein Mensch, schwach und dünn in der Ferne und Höhe, beugte sich mit einem Ruck weit vor und streckte die Arme noch weiter aus. Wer war es? Ein Freund? Ein guter Mensch? Einer, der helfen wollte? War es ein Einzelner? Waren es alle? Wo war der Richter, den er nie gesehen hatte?‘
In Bergen-Belsen war nicht einmal ein Mensch am fernen Fenster, denn keiner, so sagt man uns, wußte Bescheid.“(2)

In ihren Memoiren erinnert sich die Shoahüberlebende Hannah Pick-Goslar, wie ihre Freundin Anne Frank, wenn sie bei ihr übernachtete, einen kleinen Koffer mitbrachte und davon sprach, dass sie die Welt bereisen wolle (3). Auch wenn der Tod, „ein Meister aus Deutschland“ (Paul Celan), die Erfüllung dieses Wunsches verhinderte, verbreitete sich Anne Franks Botschaft posthum auf der ganzen Welt. Ihr Tagebuch wurde zu einem der meistgelesenen Bücher der Welt und entfaltete eine Wirkung wie kein anderes literarisches Werk nach 1945, wozu auch seine Inszenierung am Broadway und Verfilmung in Hollywood beitrugen. Der in Basel ansässige Anne Frank Fonds machte es sich zur Aufgabe, „Anne Franks zeitlose Botschaft von Frieden, Gerechtigkeit und Humanismus in jeder Generation neu in die Welt hinauszutragen“.(4)

Gerade in Zeiten eines bisweilen hoffnungslos erscheinenden Kampfes gegen weltweit grassierenden Antisemitismus ist Anne Franks Resilienz inspirierend. So schrieb sie am 15. Juli 1944, drei Wochen vor ihrer Verhaftung, in ihr Tagebuch: „Es ist ein Wunder, dass ich nicht alle Erwartungen aufgegeben habe, denn sie scheinen absurd und unausführbar. Trotzdem halte ich an ihnen fest, trotz allem, weil ich noch immer an das innere Gute im Menschen glaube.“(5)

Mit der breiten Rezeption ihres Tagebuches erfüllte sich ein Wunsch, den Anne Frank am 25. März 1944, ein Jahr vor Ihrem Tod, ihrem Tagebuch anvertraut hatte: „[…] ich will noch fortleben auch nach meinem Tod!“(6) Zur Erfüllung dieses Wunsches trägt auch jede Form des Gedenkens bei, denn, wie es Fritz Bauer in seinem bereits zitierten Anne-Frank-Gedenkvortrag formulierte: „Solange eines Menschen gedacht wird, ist er nicht tot.“(7)

Anmerkungen:
(1) Lola Lafon, Immer wenn ich dieses Lied höre. Im Versteck von Anne Frank. Aus dem Französischen von Elsbeth Ranke. Aufbau, Berlin 2025, S. 91.
(2) Fritz Bauer, Lebendige Vergangenheit. In: Fritz Bauer, Die Humanität der Rechtsordnung. Ausgewählte Schriften. Hrsg. von Joachim Perels und Irmtrud Wojak. Wissenschaftliche Reihe des Fritz Bauer Instituts, Bd. 5. Campus, Frankfurt am Main/New York 1998, S. 157–165, hier S. 160 f.
(3) Hannah Pick-Goslar/Dina Kraft, Meine Freundin Anne Frank. Die Geschichte unserer Freundschaft und mein Leben nach dem Holocaust. Aus dem Englischen von Elsbeth Ranke. Penguin, München 2023, S. 37.
(4) Anne Frank Fonds, Botschaft und Erbe. In: Anne Frank, Gesamtausgabe. Hrsg. vom Anne Frank Fonds, Basel. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. 3. Auflage. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, S. 7 f., hier S. 7.
(5) Anne Frank, Tagebuch – Edition Mirjam Pressler (Version d) unter Berücksichtigung der Fassung von Otto H. Frank (Version c). In: Anne Frank, Gesamtausgabe. Hrsg. vom Anne Frank Fonds, Basel. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. 3. Auflage. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, S. 11–263, hier S. 260.
(6) Anne Frank, Tagebuch Version a. In: Anne Frank, Gesamtausgabe. Hrsg. vom Anne Frank Fonds, Basel. Aus dem Niederländischen von Mirjam Pressler. 3. Auflage. S. Fischer, Frankfurt am Main 2018, S. 557–708, hier S. 651.
(7) Fritz Bauer (Anm. 2), S. 158.