
Vor der Machtübernahme der Nationalsozialisten existierten in Frankfurt am Main zwei jüdische Gemeinden mit rund 30.000 Mitgliedern. Hinzu kam eine Vielzahl von Juden, die keiner dieser Gemeinschaften angehörten, wie etwa Ludwig Landmann, der von 1925 bis 1933 das Amt des Oberbürgermeisters der Stadt innehatte. Frankfurt war während der Weimarer Republik eines der wichtigen Zentren jüdischen Lebens und jüdischer Kultur: Rund 500 jüdische Stiftungen, Vereine und Institution zeugen davon. Während des Nationalsozialismus wurden diese Strukturen zerschlagen, die Menschen entrechtet, verfolgt und ermordet.
Von Jim G. Tobias
Zuerst erschienen in: Zeitschrift für Geschichtswissenschaft – 73. Jg., Heft 1 (2025)
Als die 3. U.S. Army im März 1945 einmarschierte, lebten noch etwa 200 Juden in der Stadt; rund 15.000 hatten sich in die Emigration retten können, die anderen waren dem nationalsozialistischen Rassenwahn zum Opfer gefallen. Die einst zweitgrößte jüdische Gemeinde in Deutschland war nahezu vollständig ausgelöscht. Nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus wurde Frankfurt zum Standort des Headquarters der US-Militärverwaltung. Unter ihrem Schutz konnte sich eine neue jüdische Gemeinde gründen; die Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) und auch der Zentralrat ließen sich in der Stadt nieder. Im Ortsteil Zeilsheim wurde in einer Siedlung ein Displaced Persons (DP) Camp für bis zu 3000 Shoa-Überlebende, zumeist aus Osteuropa errichtet, die auf eine Weiterreise nach Palästina oder in eines der klassischen Emigrationsländer wie die USA, Kanada oder Australien warteten.
Darunter befand sich auch der im polnischen Będzin geborene Arno Lustiger, er hatte Auschwitz und Buchenwald überlebt, war von einem Todesmarsch geflohen, im Herbst 1945 in Frankfurt gestrandet und, obwohl er eigentlich in die USA auswandern wollte, blieb er doch aus verschiedenen persönlichen Gründen als Mitglied der jüdischen Gemeinde bis zu seinem Tod in der Stadt. „Für uns jüdische Überlebende hat Auschwitz noch eine zusätzliche Dimension“, erklärte Lustiger im Januar 1985 bei einer Gedenkveranstaltung. „Indem wir das bleiben, was wir waren und unsere jüdische Identität bewahren, verhindern wir den posthumen Triumph Hitlers und seiner Mörder.“ Ihm, der später eine zentrale Rolle bei der wissenschaftlichen Erforschung des jüdischen Widerstands im NS-Regime spielte, ist ein eigenes Kapitel im vorliegenden Sammelband gewidmet. Herausgegeben wurde er von Christian Wiese, Stefan Vogt, Tobias Freimüller, Mirjam Wenzel, Doron Kiesel und Gury Schneider-Ludorff.
Die insgesamt 20 Kapitel umfassende Publikation basiert auf einer internationalen Konferenz, die im Herbst 2022 unter dem Thema „Das jüdische Frankfurt. Zerstörung und fragiler Neuanfang“ an der Goethe Universität stattfand. Neben der erwähnten biografischen Skizze beleuchtet der Band, der sich in zwei große Kapitel (1933 bis 1945 und 1945 bis 1990) sowie einen Prolog („Vor der Katastrophe“) und den Epilog („Wir sind jetzt – Das jüdische Frankfurt heute“) gliedert, verschiedene Aspekte der jüdischen Geschichte Frankfurts. Auf einige sei näher eingegangen.
Den ersten Teil des Bandes – die Zeit des Nationalsozialismus – eröffnet die Frankfurter Lokalhistorikerin Helga Krohn mit einem allgemeinen Überblick. Anfänglich existierten vier Synagogen, drei jüdische Schulen, ein Waisenhaus sowie Senioren- und Erholungsheime in Frankfurt. Krohn befasst sich mit der Ausgrenzung und Verfolgung der Frankfurter Juden, beschreibt ihren Leidensweg bis hin zur Auflösung ihrer „ruhmreichen und ehrwürdigen Gemeinde“. Doron Kiesel, Direktor der Bildungsabteilung beim Zentralrat der Juden in Deutschland, betrachtet die Aktivitäten Martin Bubers im jüdischen Lehrhaus, in dem Vorträge, Seminare und Fortbildungen unter erschwerten Bedingungen stattfanden. Doch Bubers Gebot der Stunde lautete: „Wenn wir unser Selbst wahren, kann nichts uns enteignen. Wenn wir unserer Berufung treu sind, kann nichts uns entrechten“: Nicht flüchten, sondern standhalten. Die Mitarbeiterin des Fritz-Bauer-Instituts, Katharina Rauschenberger, widmet sich der örtlichen jüdischen Kunstgeschichte, während ihre Kollegin Mirjam Schnorr die Boykottmaßnahmen der NS-Verwaltung und die darauffolgenden „Arisierungen“ des jüdischen Eigentums in den Fokus nimmt. Das lange Zeit wenig beachtete Kapitel der Verfolgungspraxis und -erfahrung von Kindern und Jugendlichen beleuchtet die Journalistin Renate Hebauf.
Der zweite Teil des Bandes spannt einen weiten Bogen: von der Befreiung über die bleierne Zeit der fünfziger und sechziger Jahre, die Studenten- und Häuserkampfbewegung, die Auseinandersetzungen um das Fassbinder Theaterstück „Der Müll, die Stadt und der Tod“, die russische Zuwanderung bis hin zur Entwicklung einer selbstbewussten deutsch-jüdischen Gemeinde. Die langjährige Leiterin der Judaica Sammlung der Frankfurter Universitätsbibliothek, Rachel Heuberger, gibt einen Überblick über die Geschichte dieses außergewöhnlichen Buchbestandes, der mit der Literatur zur Wissenschaft des Judentums international zu den bedeutenden Sammlungen seiner Art zählt. Andreas Brämer vom Institut für die Geschichte der deutschen Juden richtet den Blick auf die sehr „kurze Geschichte des Nachkriegsrabbinats in Frankfurt“, das lediglich von 1945 bis 1967 existierte. Dennoch leisteten die Rabbiner, vom Shoa-Überlebenden Leopold Neuhaus bis hin zu Isaak Emil Lichtigfeld, der den Posten von 1954 bis 1967 innehatte, einen wichtigen Beitrag beim Wiederaufbau des jüdischen Lebens in Frankfurt und trugen dazu bei, dass sich ein lebendiges Gemeindeleben entwickelten konnte.
Auch die vielen Juden aus Osteuropa, die sich wie Arno Lustiger nach der Schließung des DP-Camps Zeilsheim in Frankfurt niederließen, spielten eine wichtige Rolle innerhalb der jüdischen Gemeinschaft – trotz aller kulturellen Konflikte zwischen den deutschen und osteuropäischen Glaubensgenossen. Eine der Doyenne der DP-Forschung in Deutschland, Angelika Königseder, beschreibt fachkundig den Alltag in dieser autonomen und temporären jüdischen Stadt am Rande von Frankfurt.
Weitere Aufsätze, die durchgängig von ausgewiesenen Autorinnen und Autoren verfasst sind, beschäftigen sich mit den Themen Erinnerungskultur, dem Auschwitzprozess, der Synagogenarchitektur oder der Kunst- und Geistesgeschichte. Der knapp 450 Seiten umfassende Band bietet eine ausführliche und kompetente Zusammenschau über rund 90 Jahre jüdischer Geschichte in Frankfurt. Die Aufsatzsammlung thematisiert die gesamte Bandbreite jüdischen Lebens und verknüpft die einzelnen Phasen von der Vernichtung über den Neuanfang der Konsolidierung bis hin zur Rückkehr und Sichtbarmachung jüdischen Lebens in der Stadt. Ein solides Überblickswerk, das sich nicht nur an ein Fachpublikum wendet, sondern auch für die breitere Öffentlichkeit von Interesse sein dürfte – wäre da nicht der sehr hohe Preis von 90 Euro.
Christian Wiese/Stefan Vogt/Tobias Freimüller/Mirjam Wenzel/Doron Kiesel/Gury Schneider-Ludorff (Hrsg.): Das jüdische Frankfurt. Von der NS-Zeit bis zur Gegenwart (= Kontexte zur jüdischen Geschichte Hessens, Bd. 3), De Gruyter Oldenbourg, Berlin/Boston 2024, 444 S.