Plattling an der Isar ist ein lebendiges niederbayerisches Städtchen. Es war einst ein Bahn-Knotenpunkt, weshalb um 1940 rund 2000 der 7000 Einwohner Eisenbahner waren. Heute ist die Bahn geschrumpft, die Isarstadt aber mit unterschiedlichen Gewerben gut bestückt. Doch in der so überschaubaren Kleinstadt ist es bis heute nicht gelungen, der Opfer des einstigen KZ Plattling und der verfolgten jüdischen Bürger würdig zu gedenken. Der Realschullehrer und Freie-Wähler Stadtrat Stefan Fisch will das ändern – und stößt bei Bürgermeister und CSU-Fraktionsvorsitzendem auf Zurückhaltung und Widerstand.
Von Michael Westerholz/Deggenau
Da wo heute die Süddeutsche Zuckerfabrik zahlreiche Menschen beschäftigt und vielen Rüben-Bauern den Lebensunterhalt sichert, befand sich in der NS-Zeit ein geheimer Flugplatz, der von KZ-Häftlingen unter unmenschlichen Bedingungen gebaut und mitten im Krieg für Starts und Landungen der ersten Düsenjäger erweitert wurde: Am Gedenken für die mindestens 187 ermordeten Häftlinge entzündet sich neuerdings ein Streit. Denn eine kaum sichtbare, flach auf dem Boden liegende Gedenkplatte am Standort des KZ Plattling inmitten der Stadt verschweigt reale Daten, soll aber jetzt nach dem Verlauf der Diskussion im Stadtrat nach Vorstellungen von Stadtmitarbeitern womöglich textlich unverändert zumindest so aufgestellt werden, dass sie jedermann sichtbar ist! Strittig ist, wo wird sie aufgestellt?
Stadtrat Stefan Fisch brachte die Diskussionen in Gang: Wie so viele Plattlinger infolge der frühzeitigen Verdrängung unzureichend über die NS- und KZ-Geschichte ihrer Stadt informiert, trugen er und Schüler der Realschule alle greifbaren Informationen zusammen: Es erwies sich, dass die Verdrängung bereits 1948 mit dem Buch: „Geschichte der Stadt Plattling“, begonnen hatte. Der einheimische katholische Prälat Franz Xaver Zacher als Verfasser hatte kein Wort über die NS- und KZ-Verbrechen geschrieben, sondern nur das Leiden der Bevölkerung durch Krieg und Bombardierungen beklagt. Dabei war das KZ für jedermann sichtbar in der Knabenschule inmitten der Stadt zwischen Rathaus und Kirche betrieben worden, in der zu der Zeit täglich auch noch Unterricht erteilt wurde.
Die Vorgeschichte
Die Gedenkplatte nennt neben Stadt- und Schulgeschichtsdaten den 20. Februar 1945: An jenem Tag wurden 500 KZ-Häftlinge des überfüllten KZ Flossenbürg, davon rund 300 jüdische, von 52 mörderischen SS-Bewachern vom Bahnhof durch die Stadt in die Schule getrieben. Dort trafen sie aber auf KZ-Häftlinge, die unter Anleitung der NS-Organisation Todt, der Regensburger Baufirma Klug sowie der 1. SS-Eisenbahn-Baubrigade mit Häftlingen der KZ Buchenwald und Sachsenhausen den sogenannten „Schattenflugplatz“ zwischen Plattling und dem Bauerndorf Michaelsbuch bauten. Und sie trafen auf Schüler, die ungeachtet der stetig enger belegten Räume weiterhin in ihren Klassen unterrichtet wurden. Theo Krümpel, einer der lebenslang traumatisierten Schüler Jahrzehnte später: „Die Erinnerungen bin ich nie mehr losgeworden. Wir sahen und hörten ja, wie Häftlinge gequält und ermordet wurden. Die am 20. Februar 1945 ins Haus getriebenen waren geschwächt, halb verhungert; es war grauenhaft!“
Auch Krümpel schwieg nach dem Krieg bis kurz vor seinem Tod: „Niemand wollte uns anhören, Zeugen ließ man konsequent stehen, es waren ja auch in Plattling viel zu viele Mitbürger in das Terrorsystem verstrickt!“
Doch der erste Nachkriegsbürgermeister Michael Weise schwieg nicht. Der integere, aus christlicher Überzeugung widerständige Orgelbaumeister informierte 1946 die Regensburger Journalistin der MITTELBAYERISCHEN ZEITUNG, Martina Hammer, dass der ursprüngliche Stützpunkt der Organisation Todt in der Knabenschule bereits 1944 in ein KZ umgewandelt worden sei.
Nachdem US-Soldaten im April 1945 die Stadt besetzt hatten, waren Militärärzte und –Sanitäter sowie die mit der Betreuung von Displaced Persons beauftragte UNRRA ausgerückt und hatten überlebende KZ-Häftlinge in die Plattlinger Knabenschule, in das örtliche Krankenhaus und in das nahe Psychiatrie-Krankenhaus Mainkofen einquartiert. Eine rasch gegründete Kultusgemeinde erreichte zuletzt bis zu 330 Mitglieder. Durch Abwanderung nach Palästina und das neue Heimatland Israel, in die USA und andere Länder auf nur noch 40 Mitglieder geschrumpft, wurde sie 1950 aufgelöst und der alten und neuen niederbayerischen Synagogen-Gemeinde Straubing zugeschlagen.
Erste und weitere Gedenksteine
Bürgermeister Weise, der NS-Gegner und Ex-KZ-Häftling Hans Hefele (später ein bedeutender Unternehmer und Arbeitgeber in Plattling!), sowie SPD-Stadtrat Lasser gewannen 1946 den eben freigewählten Stadtrat zu dem einstimmigen Beschluss, am 13. Oktober 1946 im neu errichteten KZ-Friedhof am Stadtrand einen Gedenkstein zu Ehren der dort beerdigten 185 Opfer zu errichten.
Weil Jahre später die Opfer umgebettet, der Friedhof aufgelöst wurde und der Gedenkstein spurlos verschwand, erreichte 2. Bürgermeister Hermann Sterr die Zustimmung zu einem neuen Ehrenmal. Es wurde am 30. Oktober 1987 nicht im, sondern auf einem einstigen Abfallplatz am Plattlinger Friedhof enthüllt. Der Granitstein mit Judenstern und christlichem Kreuz fokussiert sich auf das Datum 20. Februar 1945 für die Ankunft von KZ-Häftlingen in der Isarstadt. Seither werden die Opfer, die bereits 1944 eingetroffen und deren viele ermordet wurden, völlig missachtet.
Die zur Diskussion gestellte Anregung des Stadtrates Fisch, endlich ein rundherum zutreffendes Gedenken zu ermöglichen, stieß beim CSU-Bürgermeister auf verhaltene Reaktionen. CSU-Fraktionschef Markus Schmid plädierte dafür, die Gedenktafel an ihrem Platz zu belassen. Seine unsägliche Begründung: Es sei schon so viel um das Gedenken diskutiert worden, „was ist, wenn in zehn Jahren dann wieder einer daherkommt?“
Es kam, wie in Deutschland gerade im Umgang mit der einzigartigen Schuld einer industriell organisierten Vernichtung der Juden nicht unüblich: Der Bürgermeister setzte einen Kompromiss durch – die Bildung eines Arbeitskreises, in dem mitzuwirken auch Experten gebeten werden sollen, zum Beispiel der eloquente Leiter der KZ-Gedenkstätte Flossenbürg, Professor Dr. Jörg Skriebeleit und Vorstände der Israeltischen Kultusgemeinde für Niederbayern in Straubing. Eine Stadtratsmehrheit allerdings ist sich einig: Da, wo die Gedenkplatte liegt, kann sie nicht bleiben! Denn das SPD-Mitglied des Stadtrates, Herbert Petrilak-Weißfeld, dessen ungarischer Vater ein auch in Flossenbürg inhaftierter Häftling war, entsetzte sich im Stadtrat: „Ich habe die Gedenkplatte gesucht, sie aber nicht gefunden. Ein unhaltbarer Zustand!“
Völlig vergessen: Die einheimischen jüdischen Familien
Stadtrat Fisch, in sozialen Netzwerken teils heftig niedergemacht, weiß inzwischen, dass das mangelhafte KZ-Gedenken nicht die einzige Peinlichkeit Plattlings ist. Bis heute wird der einstigen jüdischen Bürger überhaupt nicht gedacht. Es geht dabei um Moritz Schilling, *1859, den Vater der Julie, verheiratete Behr, *1894, ihren Mann Max Behr, *1889, und die Kinder Heinz, *1921, Gerda, *1924, und Helmut, *1934, ferner um Oskar, *1877, und Eugenie Kohn, *1882.
Schilling starb vermutlich in einem Plattlinger Versteck, die Familie Behr entkam 1937 nach New York, die Eheleute Kohn zogen 1936 nach Regensburg um. Ihr Besitz und ihre Vermögen waren den Familien entzogen worden, in der Stadt wurden sie brutal angefeindet. Dabei hatten die Familien Kohn und Behr in Erfüllung jüdischer Religionsgesetze über Jahrzehnte hinweg arme Mitbürger unterstützt und jedes Jahr zahlreiche Weihnachtsgeschenke in den von Ordensfrauen geleiteten Kindergarten getragen. Heinz Behr war 1945 unter den ersten US-Soldaten, die Plattling besetzten. Eine Rückkehr kam für ihn und seine Familie nie infrage. Er erinnerte sich aber ungeachtet seiner Verbitterung gerne jener Plattlinger, die ihm und seiner Familie trotz aller Verfolgung nahe blieben. Stefan Fisch: „Ja, auch über Stolpersteine muss gesprochen werden. Auch diese Menschen dürfen nicht einfach vergessen werden!“
Dass junge Plattlinger dem Gedenken und der Würdigung einstiger jüdischer Bürger aufgeschlossen begegnen, dass auch Schüler der Realschule den Anregungen ihres Lehrers Fisch gerne folgen, verwundert nicht. Seit einiger Zeit steigt das Interesse junger Mitbürger an den historischen Ereignissen. In Plattling lautet die häufigste Begründung des Interesses: „Ich finde, wenn wir jetzt etwas tun, was seit Jahrzehnten überfällig war, ist das ein Teil unserer Loyalität dem Staate Israel gegenüber – und die braucht es gegenwärtig mehr als je zuvor seit der Staatsgründung im Jahre 1948!“ Sagt Ilse B. (17).
Welch wunderbarer Beitrag. In Niederbayern wird alles, was danals passiert ist, negiert.