Die jüdische Religions-, Kultur- und Traditionsgemeinschaft wird nicht allein als das Volk des Heiligen Buches, sondern auch als das Volk des Buches schlechthin betrachtet. „Die Nationalhelden Israels sind nicht die Helden des Schwertes, sondern die Helden der Feder“, konstatierte der jüdisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Louis Ginzberg. Das gedruckte Wort, auch in Form von jüdischen Presseerzeugnissen, blickt auf eine lange Tradition zurück.
Im soeben erschienene Jahrbuch „nurinst 2024“ des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts zeichnen Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, den USA und Israel unter dem Schwerpunktthema „Jüdische Zeitungen und Autoren“ die Aktivtäten von Journalisten sowie Schriftstellern im 20. Jahrhundert nach und beleuchten deren Medien.
Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hg.): Nurinst 2024. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Jüdische Zeitungen und Autoren, Antogo Verlag 2024, 153 S., 16 Abb. schw./w., Euro 16,50, Bestellen?
EDITORIAL
Das Judentum definiert sich im Wesentlichen durch die Thora und die rabbinischen Schriften und ist dem geschriebenen Wort bis heute eng verbunden. Die Religions-, Kultur- und Traditionsgemeinschaft wird daher »nicht allein als das Volk des Heiligen Buches, sondern auch als das Volk des Buches schlechthin« betrachtet. »Die Nationalhelden Israels sind nicht die Helden des Schwertes, sondern die Helden der Feder«, formulierte der jüdisch-amerikanische Literaturwissenschaftler Louis Ginzberg durchaus treffend.
Das gedruckte Wort, auch in Form von jüdischen Presseerzeugnissen, blickt auf eine lange Tradition zurück. So wurde die erste jiddische Zeitung bereits Ende des 17. Jahrhunderts in Amsterdam verlegt; zahlreiche solcher Blätter, die neben allgemeinen Informationen Bildung vermitteln wollten und sich als »moralischer Wegweiser« verstanden, erschienen vor allem in Osteuropa. Diese jiddischen, aber auch deutschsprachigen Zeitungen und Zeitschriften waren zum Ende des 19. Jahrhunderts in den vielen jüdischen Lesehallen zu finden. Diese öffentlichen Einrichtungen dienten »der Stärkung des jüdischen Selbstbewusstseins und nicht zuletzt der Abwehr des Antisemitismus«. In Berlin lagen in den Lesehallen im Jahr 1910 zwölf allgemeine deutsche und 85 jüdische Blätter in zehn Sprachen aus – davon allein 14 in Hebräisch, 14 in Jiddisch, 36 in Deutsch, der Rest in Englisch, Französisch, Russisch, Rumänisch, Polnisch und Ungarisch. Für viele jüdische Autoren und deren Publikationsorgane war ihre jüdische Identität von großer Bedeutung; sie spiegelte sich dementsprechend in den Texten wider, die zudem ihren Minderheitsstatus in einer nichtjüdischen Mehrheitsgesellschaft thematisierten.
Auch nach der Shoa knüpften die Überlebenden an die lange jüdische Zeitungstradition an. Schon im Mai 1945 erschien mit der noch handschriftlich gefertigten Zeitung Die Auferstehung der Toten ein erstes Mitteilungsblatt. Zwischen 1945 und 1948 wuchs die Zahl der von der Gemeinschaft der Scheerit Haplejta herausgegebenen Presseerzeugnisse auf rund 150 Titel, die zumeist in jiddischer Sprache berichteten.
In unserem 12. Jahrbuch zeichnen Historikerinnen und Historiker aus Deutschland, den USA und Israel im Rahmen unseres Schwerpunktthemas »Jüdische Zeitungen und Autoren« die Aktivitäten von Journalisten sowie Schriftstellern im 20. Jahrhundert nach und beleuchten deren Medien.
Den Anfang macht Andrea Livnat, indem sie die von einem litauischen Juden im südafrikanischen Exil verlegte Afrikaner Yidishe Tsaytung und ihren Herausgeber Boris Gersman vorstellt. Das Wochenblatt erschien von 1931 bis 1983 in Johannesburg und verstand sich als Sprachrohr der eingewanderten osteuropäischen Juden in Südafrika. Die Zeitung berichtete sowohl über die zerstörten jüdischen Gemeinden in der alten Heimat, wie auch über die Scheerit Haplejta in den DP-Camps. Einer zionistischen Grundhaltung verpflichtet verfolgte die Afrikaner Yidishe Tsaytung insbesondere die Entwicklungen in Palästina und die Entstehung des Staates Israel.
Unmittelbar nach ihrer Befreiung setzten Jüdinnen und Juden vielerorts die Dokumentation der Shoa fort, die sie bereits heimlich in Ghettos, Lagern und andernorts begonnen hatten. Die Jüdische Historische Kommission in München war das Zentrum einer dieser Initiativen, in der Israel Kaplan, Überlebender des Ghettos Kaunas, führend aktiv war. Sein Engagement und die von ihm initiierte Zeitschrift Fun letstn churbn (1946–1948) beleuchtet Markus Roth in seinem Beitrag. Er stellt ihr Profil vor und ordnet sie in den Kontext und die Traditionslinien jüdischer Dokumentationsarbeit ein.
Im Jahr 2024 besteht die Publikation Aufbau 90 Jahre. Gegründet von jüdischen Emigranten in New York, entwickelte sich das Blatt zum wichtigsten Sprachrohr der aus Deutschland und Österreich vertriebenen Juden weltweit. Mit der Übernahme durch die JM Jüdische Medien AG in Zürich begann im Jahr 2004 ein neues Kapitel – aus der Zeitung für eine klar definierte Gemeinschaft wurde ein Magazin mit einer internationalen Leserschaft. Doch der Aufbau bleibt der unabhängigen Tradition der Gründer treu, während wichtige Themen wie Nationalismus, Identität oder der Konflikt zwischen Demokratie und Diktaturen fortbestehen. Der langjährige Aufbau-Redakteur Andreas Mink beleuchtet die Geschichte dieser außergewöhnlichen Publikation von ihrer Gründung 1934 in Manhattan als Informationsblatt des Exils bis hin zu einem internationalen deutschsprachigen Magazin.
Im Juli 1945 erschien im DP-Camp Bergen-Belsen die erste Ausgabe der jiddischen Lagerzeitung Unzer Sztyme, als zentrales jüdisches Informations- und Dokumentationsmedium. Anders als in der US-amerikanischen Zone gab es im britischen Besatzungsgebiet keine Vielzahl von jiddischen Zeitungen; daher war Unzer Sztyme ein Periodikum von überregionaler Bedeutung, in dem auch Berichte aus jüdischen Gemeinden und Komitees der gesamten britischen Zone erschienen. 1947 trat das Vokhnblat an die Stelle von Unzer Sztyme, das nun auch eine stärkere Auslandsberichterstattung insbesondere hinsichtlich möglicher Emigrationsländer enthielt. Die Auswahl der Autoren und Themen sowie die politische Ausrichtung der beiden Zeitungen lag wesentlich in den Händen der drei Redakteure, Rafael Olewski, Paul Trepman und David Rosenthal, auf deren Biografien der Beitrag von Katja Seybold und Thomas Rahe ebenfalls eingeht.
Jim G. Tobias stellt in seinem Aufsatz die Jüdische Rundschau vor, die als erstes deutschsprachiges jüdisches Blatt nach der Shoa ab Februar 1946 in Marburg erschien. Die Zeitung wollte den »zerbrochenen Lebensspiegel« des »kleinen Überrestes des europäischen Judentums« neu zusammensetzen, da sie aus den Trümmern der »national-religiösen Eigenart« Splitter des »uralten jüdischen Geistes« aufblitzen sah. Zudem thematisierte man die »Sehnsucht nach der fernen Heimat Erez Israel«. Aufgrund einer nicht ausreichenden jüdischen Leserschaft und der Emigration ihres Gründers musste die Zeitung 1948 ihr Erscheinen einstellen.
Andrea Sinn beleuchtet am Beispiel der Jüdischen Allgemeinen, die 1946 als Jüdisches Gemeindeblatt für die Nord-Rheinprovinz und Westfalen gegründet wurde, die Geschichte der Anfänge und die Entstehung der Institutionalisierung jüdischen Lebens in Deutschland nach der Shoa. In ihrem Text Vom jüdischen (Über-)Leben im Deutschland nach dem Holocaust: Karl Marx und die Jüdische Allgemeine untersucht sie die Ausrichtung der Zeitung, die zum Sprachrohr der jüdischen Gemeinden in der Bundesrepublik wurde, und die politischen Handlungen ihres ersten Herausgebers.
Meyer Levin (1905–1981) gehörte zu den bedeutendsten jüdischen Schriftstellern und Journalisten der Vereinigten Staaten. Von seinen gut dreißig Büchern wurden bislang nur drei ins Deutsche übersetzt. Levin produzierte zudem Hörspiele, Theaterstücke und mehrere Filme. Früh beschrieb er die sozialen Kämpfe in seiner Heimatstadt Chicago und das zionistische Aufbauwerk in Palästina. Er nahm am spanischen Bürgerkrieg teil und war einer der ersten US-Journalisten, die bei der Befreiung der NS-Lager anwesend waren. Das Grauen der Shoa prägte fortan sein Leben, wie sich in seiner Autobiografie nachlesen lässt, in der Levin auch die Entstehung des Staates Israel und die Zukunft des Judentums thematisiert. Alexander Carstiuc, der diese Erinnerungen ins Deutsche mit übersetzt hat, skizziert das spannende und ereignisreiche Leben von Meyer Levin.
Neben unserem Schwerpunktthema haben wir uns aus aktuellem Anlass entschlossen, einen Beitrag zum 7. Oktober 2023 aufzunehmen. Verena Buser und Boaz Cohen rekonstruieren in ihrem Text »Ich war 17 Stunden lang im Schutzraum« die unvorstellbaren Verbrechen, bei denen Hamas, Palästinensischer Islamischer Djihad und andere Terrororganisationen mordeten, vergewaltigten und folterten, auch unter Beteiligung von Zivilisten aus Gaza. Der Artikel konzeptualisiert und kontextualisiert im Besonderen die an israelischen Kindern begangenen Verbrechen sowie das Schicksal von Kindern als Geiseln der Hamas.
Traditionsgemäß stellt sich auch in diesem Jahrbuch eine wissenschaftliche Institution vor: Das von Daniela Eisenstein geleitete Jüdische Museum Franken, mit dem Haupthaus in Fürth und den Dependancen in Schwabach und Schnaittach. Alle Häuser befinden sich in historischen Baudenkmälern – Schnaittach überdies in einer ehemaligen Synagoge – aus dem 16. bis 18. Jahrhundert. In Schwabach ist eine begehbare Laubhütte und in Fürth ein historisches Ritualbad zu besichtigen. So ist an authentischen Orten jüdische Regionalgeschichte hautnah erfahrbar und durch die umfangreichen Sammlungen von Judaika und Alltagsgegenständen wird ein plastisches Bild des jüdischen Lebens in Franken vermittelt – vom städtischen und kleinstädtischen bis hin zum ländlichen Milieu, von seinen Anfängen bis heute.
Wir bedanken uns bei allen Kolleginnen und Kollegen für ihre spannenden und fachkundigen Texte, bei denen es sich, wie immer in unseren Jahrbüchern, um bislang unveröffentlichte Originalbeiträge handelt, die vermeintlich Bekanntes neu beleuchten, auf weitere Forschungsmöglichkeiten hinweisen oder auch historisches Neuland betreten. Dank auch dem Lektor Gilbert Brockmann, der erneut mit Umsicht die Texte durchgesehen hat und uns vor so mancher orthografischen, grammatikalischen oder stilistischen Peinlichkeit bewahrte. Dem ANTOGO Verlag sei herzlich gedankt: für die kompetente Betreuung und Tatkraft, in allen Phasen der Bucherstellung und damit ein zügiges Erscheinen ermöglichte. Seit 22 Jahren bieten wir mit unserem Periodikum nurinst – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte Kolleginnen und Kollegen eine Plattform, ihre neuesten Forschungsergebnisse zu publizieren, und geben darüber hinaus einen Einblick in unsere wissenschaftliche Instituts-Arbeit. Wir freuen uns über eingesandte Manuskripte, auch wenn wir nicht alle veröffentlichen können. Das nächste Jahrbuch soll im Laufe des Jahres 2026 erscheinen.
Jim G. Tobias / Andrea Livnat (Hg.): Nurinst 2024. Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte. Schwerpunktthema: Jüdische Zeitungen und Autoren, Antogo Verlag 2024, 153 S., 16 Abb. schw./w., Euro 16,50, Bestellen?