Gedanken zu Rosch ha-Schana 5785
Von Thomas Tews
In der Tora wird das jüdische Neujahrsfest Rosch ha-Schana als „ein Schabbaton […], Erinnerung durch Jubelklang, eine heilige Zusammenberufung“[1] (Leviticus 23,24) charakterisiert. Dazu schreibt der 1944 im Konzentrationslager Bergen-Belsen ermordete niederländische Rabbiner Simon Philip de Vries (1870–1944) in seinem Buch „Jüdische Riten und Symbole“:
„Das jüdische Neujahr ist im wahrsten Sinne des Wortes ein Zeitpunkt der Abrechnung. Es enthält ausdrücklich die Forderung, eine Bilanz aufzustellen über das sittliche und religiöse Leben des abgelaufenen Jahres und mit Gebeten für die Zukunft vor Gott zu treten. Es will uns aufrütteln und in uns das Bewußtsein für unsere Sünden wecken. In der Liturgie heißt der Tag deshalb ja auch Tag des Gedenkens! […] Traditionell begrüßt man sich mit dem Wunsch: ‚Zu einem guten Jahr möget ihr eingeschrieben werden!‘ Nach jüdischem Glauben werden die Namen der Guten ins Buch des Lebens eingeschrieben, die der Bösen jedoch gelöscht.“[2]
Rosch ha-Schana ist also ein Tag der Selbstbesinnung, über die Martin Buber (1878–1965) in seinem – auf einen bei der Woodbrooker Tagung in Bentveld im April 1947 gehaltenen Vortrag zurückgehenden – Buch „Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre“ folgende Reflexionen anstellt:
„Die entscheidende Selbstbesinnung ist der Beginn des Wegs im Leben des Menschen, immer wieder der Beginn des menschlichen Wegs. Aber entscheidend ist sie eben nur dann, wenn sie zum Weg führt. Denn es gibt auch eine unfruchtbare Selbstbesinnung, die nirgends hinführt als zu Selbstquälerei, Verzweiflung und noch tieferer Verstrickung. […] Es gibt eine verkehrte Selbstbesinnung, die den Menschen nicht zu Umkehr bewegt und auf den Weg bringt, sondern ihm die Umkehr als hoffnungslos darstellt und ihn damit dorthin treibt, wo sie anscheinend vollends unmöglich geworden ist und der Mensch nur noch kraft des dämonischen Hochmuts, des Hochmuts der Verkehrtheit, weiterzuleben vermag.“[3]
Mit diesen nachdenklichen Worten wünsche ich allen Leser*innen: Schana towa u-meworechet! Möge das kommende Jahr 5785 ein gutes, gesegnetes und gesundes werden!
Anmerkungen:
[1] Die Tora. Die Fünf Bücher Mose und die Prophetenlesungen (hebräisch-deutsch) in der Übersetzung von Rabbiner Ludwig Philippson, revidiert und herausgegeben von Walter Homolka, Hanna Liss und Rüdiger Liwak, unter Mitarbeit von Susanne Gräbner, Daniel Vorpahl und Zofia Helene Stein. 3., überarbeitete Auflage. Herder, Freiburg im Breisgau 2021, S. 505.
[2] S. Ph. de Vries, Jüdische Riten und Symbole. 8. Auflage. Rowohlt, Reinbek 2001, S. 82.
[3] Martin Buber, Der Weg des Menschen nach der chassidischen Lehre. Mit einem Nachwort von Albrecht Goes. 12. Auflage. Lambert Schneider, Gerlingen 1996, S. 13 f.