Mauricio Rosencof verknüpft in dieser meisterhaften literarischen Miniatur die Erinnerung an seine Vorfahren, die in Polen Opfer des Holocaust wurden, mit seinen Erfahrungen als Gefangener der Militärdiktatur in Uruguay. Im Zentrum seines Erzählens steht die Erinnerung als Zufluchtsort der menschlichen Würde.
Mauricio Rosencof, Das Schweigen meines Vaters. Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Assoziation A 2024, 160 S., 18,00 €, Bestellen?
LESEPROBE
Die Welten des Mauricio Rosencof
Ein Vorwort
Theo Bruns
»Jeder von uns ist jeder und alle anderen.«
Eine Szene aus der Zeit der Militärdiktatur in Uruguay. Ein Vater auf der Zugfahrt ins Landesinnere, zur Militärkaserne in Paso de los Toros. Der Sohn ist dort inhaftiert, Gefangener der Militärdiktatur. Besuchszeit: zehn Minuten. Anreise: sechs Stunden. Während der langen Fahrt verwandelt sich das Fenster des Eisenbahnwaggons zur Leinwand. Das Schtetl in Polen zieht vorbei. Die Schneiderwerkstatt in Lublin. Die Liebeserklärung an Rosa unter dem Pflaumenbaum. Die Soldatenzeit im Krieg. Die Auswanderung in das ferne Land in Südamerika. Und die Erinnerungen an die zurückgebliebenen Angehörigen, die Verschollenen, die Toten.
Bei dem Vater handelt es sich um Isaac Rosencof. 1930 war er vor dem Antisemitismus, den Pogromen und dem Hunger der Nachkriegszeit in Polen nach Südamerika emigriert. Von dem Geld, das er mit seiner Arbeit als Maßschneider in der Kleinstadt Florida nördlich von Montevideo anspart, holt er seine Frau Rosa und den Sohn Léon nach. 1933 wird als zweites Kind Mauricio geboren. Mit den Angehörigen in Polen bleiben die Eltern in Briefkontakt, bis irgendwann nach Ausbruch des Zweiten Weltkriegs keine Briefe mehr ankommen. »Nichts für Sie dabei, Don Isaac.«
Der Herkunftsort der Familie ist Bełżyce, in der Nähe von Lublin. Mit dem Überfall der Deutschen beginnt eine sich dramatisch zuspitzende Verfolgung der jüdischen Bevölkerung. Zwangsarbeit, Umsiedlung, Ghettoisierung. Ab Juli 1942 führen die Nazis im Rahmen der sog. Aktion Reinhard die systematische Ermordung der polnischen Juden im Generalgouvernement mit dem Ziel ihrer kompletten Auslöschung durch. Bei den Verschleppungen in die Vernichtungslager Belzec, Treblinka und Sobibor werden nicht einmal die Namen der Deportierten registriert, bei der Ankunft erfolgt ihre sofortige Ermordung. Mehr als eine Million Menschen fallen hier den Mordaktionen zum Opfer. Die Lager werden von den Tätern anschließend dem Erdboden gleichgemacht, die Leichen verbrannt. Alle Beweise sollen beseitigt werden. Weniger als 150 der in diese Lager Deportierten überleben. Als Mauricio Rosencof viele Jahre später eine Reise nach Warschau und Bełżyce unternimmt, bleibt seine Suche nach Spuren der Verwandten, selbst nur nach dem Namen Rozenkopf in seinen verschiedenen Schreibweisen vergeblich.
Isaac Rosencof war Mitglied der Schneidergewerkschaft, seine Lektüre die auf Jiddisch erscheinende kommunistische Zeitung »Unzer Fraint«. In dieser Tradition begleitet Mauricio Rosencof 1962 als Journalist die Bewegung der Zuckerrohrarbeiter, lernt dort Raúl Sendic kennen, den späteren legendären Anführer der Nationalen Befreiungsbewegung MLN-Tupamaros, die getreu dem Motto des uruguayischen Unabhängigkeitskämpfers José Artigas die Welt verändern wollte, damit »die Unglücklichsten die am meisten Privilegierten« sein würden. Mauricio Rosencof schließt sich der MLN an, wird zu einem ihrer führenden Mitglieder. 1972 wird die Bewegung jedoch militärisch zerschlagen. Ein Jahr später putscht das Militär. Uruguay wird das Land mit der höchsten Rate an politischen Gefangenen weltweit. Neun von ihnen werden von den Militärs aus den Gefängnissen entführt und in Dreiergruppen in verschiedenen Kasernen des Landes als »Geiseln des Staates« in kompletter Isolation zwölf lange Jahre buchstäblich lebendig begraben. Erklärtes Ziel: die Gefangenen in den Wahnsinn zu treiben.
Eine der Geiseln ist Maurico Rosencof. Die Gefährten seiner Dreiergruppe sind Eleuterio Fernández Huidobro, genannt El Ñato, und Pepe Mujica, der später als Kandidat des Linksbündnisses Frente Amplio zum Präsidenten des Landes gewählt werden wird. Mit Ñato entwickelt Mauricio ein Morsealphabet, mit dem sie sich durch Klopfzeichen durch die Zellenwand verständigen. Ihre Welt ist reduziert auf zwei Mal einen Meter, ohne Licht, ohne etwas zu lesen, ohne ein menschliches Gesicht, ohne alles. Die Imagination wird zur Kraftquelle, zum Mittel des Überlebens. Nach ihrer Freilassung mit dem Ende der Militärdiktatur im Jahr 1985 legen die beiden in einem langen Zwiegespräch Zeugnis ab von jenen Jahren im Reich der Stille und der Finsternis, das in Buchform erscheint und später verfilmt wird.
Der biografische und familiäre Hintergrund ist im Schreiben Mauricios Rosencofs stets präsent. Besonders in seinen späteren Werken – wie z.B. »Die Briefe, die nicht ankamen« – verknüpft er seine Erfahrungen als Gefangener der Militärdiktatur in Uruguay mit der Erinnerung an die Vorfahren, die in Polen von den Nazis ermordet wurden. In seinen Büchern erschafft er einen eigenen Mikrokosmos, in dem wie in einem Kaleidoskop oder einer Wortfuge verschiedene Themen, Geschichten und Szenen immer wieder neu aufgegriffen und variiert werden. Dazu zählen Rückblenden in die Welt seiner Kindheit, das Leben im Stadtteil Palermo. Der Tod des älteren Bruders León, der jung an Meningitis stirbt. Der Freund Fito, der ihn ein Leben lang begleitet. Die Rebellion der Zuckerrohrarbeiter, die Solidarität mit den Ärmsten der Armen. Die Zusammengehörigkeit mit den Compañeros, die mit ihm als Tupamaros gekämpft haben. Die Zeit in den Kerkern der Diktatur und die Kunst des Überlebens in einer zutiefst menschenfeindlichen Umwelt.
Und immer wieder die Erinnerung, die Anrufung der Angehörigen, die in Polen Opfer des Holocaust wurden. Rosencofs Schreiben ist der beständige Versuch, ihre vollständige Auslöschung nicht hinzunehmen, den Plan der Nazis zu vereiteln, ihnen ein literarisches Denkmal zu setzen, sie so am Leben zu erhalten. Da ist das Foto in der Werkstatt seines Vaters mit den Verwandten, die nun auch wir als Lesende sehen. Da ist das Zeugnis der Cousine Zofia, die Auschwitz und Ravensbrück überlebt hat und von der wir hören: »Was einer von uns zustößt, das stößt allen zu.« Da ist die Begegnung mit Chil Rajchman, einem Überlebenden des Aufstands in Treblinka, dessen erschütterndes Zeugnis »Ich war der letzte Jude« erst posthum nach seinem Tod veröffentlicht wird. Da sind die jiddischen Lieder der Partisanen und Ghettokämpfer. Und schließlich die Erinnerungen des Vaters, die zu denen des Sohnes werden und von Generation zu Generation weitergegeben werden. Gebündelt im Ausdruck der tiefen Verbundenheit: »Jeder von uns ist jeder und alle anderen.«
Geschrieben in einer wunderbar klaren, auf den wesentlichen Kern bedachten Sprache hat Mauricio Rosencof ein zutiefst bewegendes Kleinod der Wortkunst geschaffen. In seinen literarischen Miniaturen entsteht vor unseren Augen eine Welt, die das Schicksal der Menschheit in sich birgt. Im Zentrum des Erzählens dieses großen Autors und Menschen steht die Erinnerung als Zufluchtsort der menschlichen Würde.
Es ist für uns ein Glück, dass wir einige seiner Werke auf Deutsch veröffentlichen konnten und daraus eine Freundschaft entstanden ist, die seit langem Bestand hat. Auf das Leben, Ruso!
Hamburg, Juli 2024
Mauricio Rosencof, Das Schweigen meines Vaters. Aus dem Spanischen von Svenja Becker, Assoziation A 2024, 160 S., 18,00 €, Bestellen?