Der heutige »Europäische Holocaust-Gedenktag für Sinti und Roma« bietet Anlass, an den oftmals zu wenig Beachtung findenden Porajmos, den nationalsozialistischen Genozid, dem schätzungsweise zwischen einer halben Million und 1,5 Millionen romane Menschen aus ganz Europa zum Opfer fielen, zu erinnern. Dies beabsichtigt der vorliegende Beitrag, wobei er insbesondere die Deportationen aus Südwestdeutschland beleuchten möchte.
Von Thomas Tews
Im Mai 1940 diente das unweit von Stuttgart gelegene Festungsgefängnis Hohenasperg als Sammellager für mehrere Hundert Sinti*zze und Rom*nja aus Südwestdeutschland, die von dort in Konzentrationslager deportiert wurden. Daran erinnert heute eine Gedenktafel am Bahnhof Asperg.
Zwei Jahre später, am 26. September 1942, wurden die ersten Sinti*zze und Rom*nja vom Konzentrationslager Buchenwald weiter nach Auschwitz transportiert. Im dortigen Vernichtungslager Birkenau wurde Ende 1942 ein neuer, etwa 1.000 Meter langer und 80 Meter breiter Lagerabschnitt angelegt, in dem links und rechts einer Lagerstraße 40 Baracken errichtet wurden. Acht von ihnen dienten als Funktionsbauten (Küche, Schreibstube, Waschraum und Toilettenblock) und in den übrigen 32 Baracken wurden jeweils über 500 Menschen zusammengepfercht. Dieser – im Juli 1943 mit einem elektrisch geladenen Zaun von den übrigen Teilen des Lagers Birkenau abgetrennte – Lagerbereich wurde mit dem Kürzel »B II e« belegt und sollte ausschließlich der Unterbringung von Sinti*zze und Rom*nja dienen. An seine Entstehung erinnerte sich die Sintezza Anna Mettbach später wie folgt:
»Das ›Zigeunerlager‹, so wurde es genannt, haben wir aufgebaut, wir wussten noch nicht, dass es einmal die Vernichtungsstätte für unser Volk sein wird, […] ein KZ im KZ, das war das Schlimmste überhaupt.«[1]
Ab dem 26. Februar 1943 trafen dort Transporte mit Sinti*zze und Rom*nja aus Deutschland und den von Deutschland besetzten Gebieten (Belgien, Niederlande, Luxemburg, Frankreich, Polen, Tschechoslowakei , Slowenien, Kroatien, Ungarn, Litauen und westliche Sowjetunion) ein. Die jüngste unter den Ankommenden war die nur einen Monat alte Viktoria Ditloff aus Szepietow in Polen.
Im Zuge dieser Transporte wurden am 15. März 1943 vom Stuttgarter Nordbahnhof 234 Sinti*zze und Rom*nja, die zuvor in einem städtischen Polizeigefängnis interniert worden waren, nach Auschwitz-Birkenau deportiert. Heute befindet sich am damaligen Abfahrtsort die Gedenkstätte »Zeichen der Erinnerung«.
Das Lager »B II e« in Auschwitz-Birkenau bestand 17 Monate lang. Von den etwa 23.000 dort Internierten fanden 20.078 den Tod: 32 wurden nach einem Fluchtversuch erschossen, 6.432 wurden im Gas erstickt und 13.614 erlagen dem Hunger sowie den zahlreichen Krankheiten und Seuchen (Bauch- und Flecktyphus, Furunkulose, Krätze, Noma, Ruhr und Skorbut). Zudem mussten manche für die von Josef Mengele im Auftrage Otmar von Verschuers, des Direktors des Kaiser-Wilhelm-Institutes für Anthropologie in Berlin, durchgeführten medizinischen Versuche herhalten.
Im November 1943 wurden einige Hundert Sinti*zze und Rom*nja von Birkenau in das Konzentrationslager Natzweiler transportiert und ab April 1944 wurden die noch für arbeitsfähig Erachteten oder für weitere medizinische Experimente Vorgesehenen in die Konzentrationslager Buchenwald, Ravensbrück und Flossenbürg verlegt. Schließlich wurde das Lager »B II e« in der Nacht vom 2. auf den 3. August 1944 liquidiert. Die 2.897 dort noch Internierten, von denen einige bis zuletzt Widerstand leisteten, wurden auf Lastkraftwagen zu den Gaskammern transportiert und ermordet. Unter ihnen befanden sich die Stuttgarter Sinti*zze-Kinder Otto, Sonja, Thomas und Albert Kurz, die nur zehn, neun, sieben und sechs Jahre alt wurden. Zum Gedenken an diese Geschwister wurden an ihrem ehemaligen Wohnort in der Badergasse 6 in Stuttgart-Bad Cannstatt am 29. April 2006 vier ›Stolpersteine‹ verlegt.
Der 2. August als Jahrestag der Liquidierung des Lagers »B II e« in Auschwitz-Birkenau wurde im Jahre 2015 vom Europäisches Parlament als offizieller Gedenktag für den Porajmos, den nationalsozialistischen Genozid an den Sinti*zze und Rom*nja benannt.
Ihre Erinnerung an das Erlebte sowie die Bedeutung des Bezeugens beschrieb die bereits zitierte Porajmos-Überlebende Anna Mettbach mit folgenden Worten:
»Diese Schreie hab ich noch in den Ohren, sind Bilder, die mich ständig begleiten, darum kann ich mit dem Wort Befreiung nichts anfangen. Es ist präsent, nicht der Häftling wurde befreit, sondern das Lager vom Häftling. […] Man hat uns die Würde genommen, hauptsächlich denen, die nicht mehr sein dürfen. […] Ich bin es denen schuldig, zu reden, solange ich kann, und wenn ich nicht mehr reden kann oder darf, werde ich noch deuten.«[2]
Die romani Schriftstellerin und Porajmos-Überlebende Ceija Stojka verarbeitete ihre traumatischen Erfahrungen auf lyrische Weise:
Das was wir suchen
ist schwer zu finden
Die Angst
müssen wir nicht suchen
sie ist da
[…]
Der Wind heult dorthin
wo wir Lebenden nicht wissen können
Wo haben sie meine Oma vergraben
Niemand weiß es
[…]
Ich werde erst dann wissen sehen
wo meiner Oma Gebeine liegen
wenn meine Stunde Minute
mich loslässt
Und es ist kein Ende[3]
Literatur:
Fernandez 2020: Elsa Fernandez, Fragmente über das Überleben. Romani Geschichte und Gadje-Rassismus. Unrast, Münster 2020.
Zimmermann 1989: Michael Zimmermann, Verfolgt, vertrieben, vernichtet. Die nationalsozialistische Vernichtungspolitik gegen Sinti und Roma. 2. Auflage. Klartext, Essen 1993.
Anmerkungen:
[1] Fernandez 2020, S. 94.
[2] Fernandez 2020, S. 92.
[3] Fernandez 2020, S. 82 f.