Walter Frankenstein war zwölf Jahre alt, als er die erste große Reise seines Lebens antrat – aus der westpreußischen Provinz in die deutsche Hauptstadt. Als Jude musste der Halbwaise 1936 die Volksschule in der Kleinstadt Flatow verlassen. Seine Mutter brachte ihn daher im Auerbach‘schen Waisenhaus unter. Das 1832 von Baruch Auerbach gegründete jüdische Kinderheim war eine hoch angesehene Institution, politisch konservativ, monarchistisch, aber pädagogisch seiner Zeit weit voraus.
Der Lehrer Baruch Auerbach war seit 1819 für die Jüdische Gemeinde Berlin tätig, zunächst als Direktor einer Erziehungsanstalt für in Not geratene Knaben und ab 1829 als Rektor der Jüdischen Knabenschule, die er bis 1852 leitete. Sein „Waisen-Erziehungs-Institut“, wie Auerbach sein Heim in den Statuten bezeichnete, sollte „Waisenkinder männlichen Geschlechts zunächst aus der hiesigen jüdischen Gemeinde unentgeltlich verpflegen, erziehen, allen ihren leiblichen und geistigen Bedürfnissen abhelfen, ihnen die verlorenen Eltern ersetzen oder den Verlust derselben so wenig als möglich fühlbar machen.“ Später wurden auch Mädchen aufgenommen. Baruch Auerbach starb im Januar 1864, sein Haus wurde nun von seinem Sohn Leonhard geleitet, der es ganz im Sinne seines Vaters bis zu seinem Ausscheiden 1883 weiterführte. Nach einer kurzen Zeit wechselnder Leitungen übernahm Abraham Strelitz 1885 das Amt des Schuldirektors; er hatte es 31 Jahre inne. In seine Zeit fiel auch der Umzug von der Oranienburger Straße in die Schönhauser Allee: Einem geräumigen Neubau mit einem Haus für Knaben und einem für Mädchen, einer Turnhalle sowie einer 250 Plätze umfassenden Synagoge. Vor dem Haupteingang stand ein Kaiser-Friedrich-Denkmal.
Auch in der Weimarer Republik galt das Haus als ausgesprochen konservativ, dennoch war die Leitung deutsch-jüdisch, demokratisch-republikanisch gesinnt und sehnte sich keineswegs nach „Preußens Gloria zurück“, wie Hillenbrand schreibt, „höchstens ein kleines bisschen“. Da auch schon vor der „Machtübernahme“ der Nationalsozialisten die Juden dem alltäglichen Antisemitismus ausgesetzt waren, fanden die Kinder Schutz und Geborgenheit im jüdischen Heim.
Klaus Hillenbrand schildert die Geschichte des Waisenhauses seit seiner Gründung und lenkt den Fokus vor allem auf das Schicksal seiner Bewohner nach 1933. Dazu hat er unzählige Jahresberichte konsultiert, Dokumente wie Entschädigungsakten und Berichte der Reichsvereinigung durchgearbeitet und Interviews mit ehemaligen Bewohnern geführt, darunter Walter Frankenstein, aber auch Videos aus dem Bestand der Shoah Foundation ausgewertet. Insbesondere die Fotos des 81 Seiten umfassenden Albums von Walter Frankenstein, die dieser zumeist selbst geschossen hat, ermöglichen einen tiefen visuellen Einblick in das alltägliche Leben der Zöglinge. Die Bilder dokumentieren eindrücklich, was Walter Frankenstein als die „geschützte Insel im braunen Meer“ bezeichnet hat – eine von der NS-Verfolgung scheinbar abgeschlossene Welt. „Wir haben die Verfolgung bis zur Pogromnacht 1936 gar nicht richtig mitbekommen“, erinnert sich Frankenstein. „Die Erwachsenen haben versucht, das von uns fernzuhalten; sie haben ihre Ängste nicht auf uns übertragen.“
Walter Frankenstein hatte zudem das Glück, seine spätere Frau Leonie im Auerbach’schen Waisenhaus kennenzulernen, die er 1942 heiratet. In diesem Jahr wurden in zwei Deportationen fast alle Bewohner, Erzieher und die Kinder nach dem Osten deportiert. Walter und Leonie hatten Glück und konnten untertauchen, fanden Unterschlupf und überlebten. Ende 1942 wurde das jüdische Heim liquidiert, der Betrieb zum 31. Dezember offiziell eingestellt. Das Gebäude wurde nun von der Hitlerjugend genutzt, im Krieg durch Bomben schwer beschädigt und in den 1950er-Jahren abgerissen. Seit 2011 erinnert eine Gedenktafel in der Schönhauser Allee an das lange Zeit vergessene Waisenhaus.
„Auerbach hat mir sehr viel gegeben“, sagt Walter Frankenstein. „Ich möchte ein bisschen davon zurückgeben. Dass nicht alles in Vergessenheit gerät.“ Von ihm stammt auch der Anstoß, die Geschichte des Heimes aufzuschreiben – sowie der Buchtitel. Kürzlich feierte er seinen 100. Geburtstag, das Gedächtnis des agilen Seniors ist immer noch phänomenal: Er nennt präzise Namen, Daten, Ereignisse und Orte. Frankensteins Erinnerungen bilden das Gerüst für die Publikation, er „führte meine Hand, erzählte nicht nur dürre Fakten, Namen und Zahlen, sondern er ist dabei gewesen“, würdigt Klaus Hillenbrand den Zeitzeugen. Mit seinem Buch „Die geschützte Insel“ hat der Autor ein Stück der deutsch-jüdischen Geschichte dem Vergessen entrissen und den Kindern und Betreuern des Auerbach‘schen Waisenhauses ein Denkmal gesetzt. – (jgt)
Klaus Hillenbrand, Die geschützte Insel. Das jüdische Auerbach’sche Waisenhaus in Berlin, Hentrich & Hentrich Verlag Leipzig 2024, 352 Seiten, zahlreiche Abbildungen, 27,00 €, Bestellen?