Ignorierte Staatsbürger

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Die Geschwister Aisha und Bilal Ziyadne, die nach 54 Tagen Geiselhaft in Gaza frei kamen

Israels Beduinen hatten am 7. Oktober ebenfalls zahlreiche Opfer zu beklagen. Viele von ihnen leisten aber auch einen wichtigen Beitrag im Kampf gegen die Hamas. Trotzdem unternimmt die Politik wenig zu ihrem Schutz. Das ist eine verpasste Chance.

Von Ralf Balke

Licht und Schatten liegen in den Beziehungen zwischen den in Israel lebenden Beduinen und dem jüdischen Staat eng beieinander. Besonders offensichtlich zeigte sich das in den vergangenen Monaten. So wurde beispielsweise Ende Februar als Geste der Anerkennung und Dankbarkeit Hamid Abu Arar, einem ursprünglich in Gaza geborenen, aber schon seit vielen Jahren in Israel lebenden Beduinen, wegen seines mutigen Handelns am 7. Oktober eine dauerhafte Aufenthaltsgenehmigung gewährt. Hamid Abu Arar, der bei den Angriffen der Hamas seine Frau verloren hatte, bewies großen Mut, weil er in diesen schicksalshaften Stunden Dutzende von Soldaten der israelischen Armee vor der drohenden Gefahr warnte und ihnen damit das Leben rettete. „Die israelische Bevölkerung und unsere Armee sind Ihnen zu Dank verpflichtet“, so Innenminister Moshe Arbel, übrigens ein Politiker der sephardisch-orthodoxen Shass-Partei, die mit Nichtjuden als potenziellen Staatsbürgern normalerweise so ihre Probleme hat. Ob man Hamid Abu Arar eines Tages auch wirklich den Zugang zur israelischen Staatsbürgerschaft gewährt, wird die Zukunft zeigen.

Anders dagegen das Schicksal der 7-jährigen Amina Hassouna. Sie ist das einzige Opfer, das Israel aus der Nacht vom 13. auf den 14. April zu beklagen hat, als der Iran seine Drohnen und Raketen in Marsch setzte. Das Mädchen wurde durch ein Schrapnell lebensgefährlich verletzt und befindet sich seither im Krankenhaus. Denn wie in den meisten anderen von israelischen Beduinen bewohnten Orte, egal ob legal oder illegal errichtet, gab es auch in al-Fura im südlichen Negev, wo sie mit ihrer Familie lebt, keinen einzigen Schutzraum. So verfügen laut einer kürzlich von der NGO Negev Coexistence Forum for Civil Equality durchgeführten Untersuchung 67 Prozent aller Beduinen im Negev über keinerlei Zugang zu einem geeigneten Raum, der ihnen im Fall eines Angriffes Schutz bieten könnte. Wenn es um die Bewohner von offiziell nicht anerkannten beduinischen Orten geht, sind es sogar 92 Prozent. Das Problem ist schon viele Jahre bekannt – schließlich feuern auch die Hamas oder der Islamische Jihad nicht erst seit vergangenem Herbst ihre Raketen in den Negev. Und selbst nach dem 7. Oktober waren es vor allem die nichtstaatlichen Hilfsorganisationen wie IsraAID oder die Veteranengruppe „Waffenbrüder“, die einige Dutzend mobile Schutzräume in beduinischen Dörfern aufstellten oder entsprechende Erste-Hilfe-Kits zur Verfügung stellten. Der Staat unternahm weiterhin so gut wie nichts zur Verbesserung der Sicherheit seiner beduinischen Staatsbürger.

Deshalb war auch die Familie der kleinen Amina Hassouna den herabfallenden Raketenteilen hilflos ausgesetzt. „Ich weiß nicht, was genau passiert ist“, erklärte ihr sichtlich unter Schock stehender Vater Mohamed gegenüber TV-Channel 13 noch in derselben Nacht, in der sie schwer verletzt wurde. „Wir haben alle geschlafen. Wir haben keinen Bunker und keinen Schutz. Wir hörten Sirenen, und dann schlug etwas im Haus ein, und ihre Mutter bemerkte, dass sie verwundet war.“ Aber nicht nur das. Kein einziger israelischer Politiker hatte sich seither blicken lassen oder gemeldet, um der Familie Trost zu spenden oder womöglich Hilfe anzubieten. Darüber hinaus drohte ihr sogar der Verlust des Hauses. Denn rund die Hälfte der rund 300.000 israelischen Beduinen lebt in solchen nicht offiziell vom Staat anerkannten Ortschaften, weshalb jedes Gebäude dort per se ohne Baugenehmigung errichtet wurde – so auch das der Familie von Amina Hassouna. Es sollte daher abgerissen werden, hieß es auf einmal. Erst in allerletzter Minute wurde diese Order am Donnerstag wieder zurückgezogen. Zu groß war das Entsetzen über den Beschluss einer solchen Maßnahme in dieser Situation geworden, es hagelte massive Proteste. Um einem Public Relation-Desaster zu entgehen, wurde der Abriss des Hauses abgesagt.

„Die beduinische Gemeinschaft Israels wurde am 7. Oktober mit am härtesten getroffen“, erklärt Ilan Amit, einer der beiden Direktoren der Negev Institute for Strategies of Peace and Economic Development. „Dutzende von Beduinen wurden von der Hamas entführt und ermordet. Viele weitere wurden durch Raketen der Hamas getötet. Ihre Leben hätten gerettet werden können, wenn sie ähnlich geschützt wären wie die meisten anderen Israelis.“ Deshalb lautet die Forderung, dass Beduinenortschaften wie jüdische Kommunen im Negev in gleichem Maße unter den Schirm des Raketenabwehrsystems Iron-Dome kommen sollen, mehr mobile Schutzräume aufgestellt werden und ein funktionierendes Frühwarnsystem implementiert wird, das die Menschen auch dort rechtzeitig alarmiert. „Diese Maßnahmen sind ein Muss und kein Privileg, und zwar vor allem, wenn man an die Beduinen denkt, die am 7. Oktober das Leben jüdischer Israelis in den Grenzgemeinden des Gazastreifens und bei dem Nova-Musikfestival gerettet haben“, so Ilan Amit weiter.

Abgesehen davon, dass es eine Selbstverständlichkeit sein sollte, allen seinen Staatsbürgern möglichst gleichen Schutz zu gewähren, ist diese Ignoranz ein Skandal angesichts der Tatsache, dass Israels Beduinen einen wichtigen Beitrag zur Bekämpfung der Hamas leisten und nicht wenige Gefallene aus ihren Reihen stammen. Denn die Islamisten hatten am 7. Oktober ebenfalls 20 Beduinen ermordet und sieben als Geiseln in den Gazastreifen verschleppt, von denen bis dato nur zwei freigelassen wurden. Auch deshalb haben sie das Ganze als Kriegserklärung an ihre Gemeinschaft aufgefasst und reagieren mitunter recht drastisch. „Vor siebenundzwanzig Tagen kamen Hamas-Terroristen hierher und begingen abscheuliche Taten, töteten Babys und Frauen – Taten, die unseren religiösen Lehren widersprechen“, hieß es Anfang November in einer Videobotschaft einer beduinischen Einheit der israelischen Streitkräfte, die viral ging. „Wir sind hier, um euch einen nach dem anderen von euch zu eliminieren. Bereitet euch vor, versteckt euch in euren Tunneln, denn wir werden euch holen kommen. Wollt ihr heute ein Märtyrer werden? Kein Problem.“

Zwar hat die Regierung mehrfach die Opfer, die die Beduinen zu beklagen hatten, erwähnt und auch ihre militärischen Leistungen im Krieg hervorgehoben. Und bei Treffen mit prominenten Vertretern der Beduinen wurde immer wieder versprochen, dass man den beduinischen Kommunen in Zukunft finanziell stärker unter die Arme greifen wolle. Aber die Skepsis bleibt. Zu oft konnte man ähnliches in der Vergangenheit bereits hören, weshalb nur wenige den Worten der Politiker Glauben schenken. „Alle Menschen hatten sich miteinander solidarisiert, so als ob die Entführten allen gehören würden“, so Ali Ziyadne, dessen Bruder und Neffe sich als Geiseln weiterhin in der Gewalt der Hamas befinden. Doch mit dieser Solidarität könnte bald wieder Schluss sein, glaubt er. Leider könnte er Recht behalten. Denn als Finanzminister Bezalel Smotrich ankündigte, jedem Ressort fünf Prozent der Finanzmittel zu entziehen, um so die Kosten des Krieges im Gazastreifen besser abdecken zu können, wollte er den Etat, der für die Gemeinden der nichtjüdischen Israelis zur Verfügung steht, gleich um satte fünfzehn Prozent zusammenstreichen. Es würde also nicht wie mehrfach versprochen den Beduinen mehr Geld zur Verfügung gestellt werden, sondern deutlich weniger als früher, sollte sich der rechtsextreme Smotrich mit seinen Plänen endgültig durchsetzen.

„Jetzt ist noch die Zeit der Umarmungen“, ergänzt Kaid Abulatif, ein Regisseur aus der mehrheitlich von Beduinen bewohnten Stadt Rahat. „Aber am Tag nach dem Krieg wird alles wieder so sein, wie es vorher war.“ Damit meint er auch die israelischen Medien, die ständig darüber berichten würden, dass die Beduinen rückständig und gesetzlos seien und der Negev daher wie einst der Wilde Westen ist.  Kaid Abulatif selbst hatte seinen jüngsten Bruder, der Reservist bei den israelischen Streitkräften war, im Januar verloren, weil dieser mit 20 anderen in einen Hinterhalt der Hamas geraten war. Dafür hatte seine Familie Ende Januar Besuch von Ministerpräsidenten Benjamin Netanyahu erhalten und bei dieser Gelegenheit um finanzielle Unterstützung für die von ihm mitorganisierte Jugendarbeit in Rahat gebeten. Kaid Abulatif hat jedoch wenig Hoffnungen, dass der Staat wirklich etwas unternimmt. Darauf endlos warten will er ebenfalls nicht. Oder wie er es ausdrückt: „Wenn die Realität anders sein soll, muss man sie selbst ändern.“

Der 7. Oktober war zweifelsohne ein Game-Changer in den Beziehungen zwischen jüdischen und beduinischen Israelis, weil die Trauer um die Ermordeten und Verschleppten beide Gemeinschaften enger zusammengebracht haben, beispielsweise bei gemeinsamen Veranstaltungen in Rahat für die versehentlich von der Armee erschossenen Geiseln Alon Shamris, Yotam Haim und Samer Talalka – letzter stammte aus der Beduinenstadt – und bei militärischen Gedenkzeremonien. Oder wie es Youssef Ziadna, ein beduinischer Busfahrer, der mehr als 30 Menschen das Leben rettete, weil er sie aus dem Nova-Festival herausfahren konnte, es auf den Punkt brachte: „Nach diesem Vorfall muss sich die Regierung besser um uns kümmern, denn auch wir sind Teil dieser Nation. Wir sind ein Volk – wir sind Israelis. Wir leben hier zusammen und müssen Hand in Hand gehen.“ Nur scheint die amtierende Regierung weder in der Lage noch Willens zu sein, diese neue Nähe und Verbundenheit in politische Münze umzusetzen und die Beduinen langfristig besser in die israelische Gesellschaft zu integrieren und bestehende Benachteiligungen abzubauen. Eher das Gegenteil könnte der Fall sein.