Gesichter des politischen Islam

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Ein neuer Sammelband thematisiert die unterschiedlichsten Aspekte des Islamismus mit entwickeltem Problembewusstsein und großer Sachkenntnis. Dies gilt etwa auch für den Antisemitismus in diesem politischen Lager. So etwas hätte eigentlich die deutsche Islamwissenschaft liefern müssen, welche sich mit wenigen Ausnahmen nach wie vor nicht ausführlicherer mit dem Islamismus beschäftigt.

 Von Armin Pfahl-Traughber

Bei Anschlägen gibt es immer wieder großes öffentliches Interesse für den politischen Islam. Dessen legalistisches Agieren findet demgegenüber weniger Aufmerksamkeit, artikuliert es sich doch mitunter in kulturellen oder religiösen Kontexten. Demnach muss von vielen Gesichtern gesprochen werden, geht es um den politischen Islam. Dies dürfte auch ein Grund für eine besondere Titelwahl sein, ist doch mit „Gesichter des politischen Islam“ ein neuer voluminöser Sammelband überschrieben. Herausgegeben haben ihn Fatma Keser, David Schmidt und Andreas Stahl. Der Inhalt geht zurück auf eine Online-Veranstaltungsreihe, die noch 2021 im ersten Vierteljahr durchgeführt wurde. Zwischenzeitlich entstanden vierzehn Aufsätze von den seinerzeitigen Vorträgen, sie prägen neben der Dokumentation eines Fachgesprächs den Sammelband. Auf folgender Einsicht fußt er für die Herausgeber: Dem politischen Islam seien essentiell zwei zentrale Säulen eigen: „dem Antisemitismus und der gesellschaftlich und politisch ungleichen Stellung der Geschlechter“.

Das erste große Kapitel „Politischer Islam zwischen Zentrum und Peripherie“ beginnt gleich mit einem umfangreichen Text, worin der „Aufstieg und Niedergang des politischen Islam“ von Oliver M. Piecha nachgezeichnet wird. Hier finden sich auch wichtige Basisinformationen, etwa zur Begriffswahl etwa gegen den „Islamismus“-Terminus. Der Autor betont darüber hinaus, dass es eigentlich um einen „weltweiten Kulturkampf“ gehe. Auch problematisiert er die zwischen Islamisten und Linken auszumachende Zusammenarbeit. Dem folgen Beiträge zum Iran, einmal von Stephan Grigat zur dortigen antisemitischen Kontinuität, einmal von Andreas Benl zu westlichen Reaktionen auf das Regime. Danach gibt es weitere Fallstudien zu einzelnen Ländern, etwa allgemein zum subsaharischen Afrika von Felix Riedel, zu Afghanistan von Thomas Ruttig, zu Europa allgemein von Heiko Heinisch, zum Libanon von Jörg Rensmann, zur Türkei von Danyal Casar. Alle Beiträge sind jeweils von großer Fachkompetenz geprägt.

„Politischer Islam und Geschlecht“ ist danach der zweite Teil überschrieben, worin der Frauenhass als projektive Krisenbewältigung von Maria Wöhr gedeutet, die Diskriminierung von Frauen unter den Taliban von Tina Sanders erörtert und ganz allgemein die gesellschaftliche Bedeutung von Frauen unter islamischer Herrschaft von Miriam Mettler thematisiert wird. Der dritte größere Teil ist mit „Politischer Islam und Antisemitismus“ überschrieben. Zwar gibt es dazu ebenfalls in den anderen Aufsätzen immer wieder genauere Darstellungen, hier folgt eine Vertiefung: Der genozidale Antizionismus beim „National-Islamismus“ ist bei Daniel Rickenbacher, die Ignoranz gegenüber den NS-Anteilen am Nahostkonflikt bei Matthias Küntzel und die Allianzbildung bei pro-palästinensischen TikToks bei Jonathan Guggenberger jeweils ein Thema. Auch hier gilt die allgemeine Aussage, dass gute Kenner der Materie zu Wort kommen. Mitunter liegen im Band auch zu ausführlicherer Forschung jeweils gesonderte Zusammenfassungen vor.

Auffällig ist an dem doch so umfangreichen Buch, das bekannte Islamwissenschaftler nicht präsent sind. Dies kann aber angesichts deren nach wie vor geringen Aufmerksamkeit gegenüber dem Islamismus nicht überraschen. Viele Autoren nähern sich daher aus einer externen Position ihrem jeweiligen Thema. Umso ungehinderter können sie Fehldeutungen und Forschungslücken thematisieren. Mitunter erklärt dieser Hintergrund auch einen gelegentlichen polemischen Unterton. Manche Einordnungen könnte man auch kritisieren, etwa wenn Erbakan und Erdogan etwas leichthändig der Muslimbruderschaft zugeordnet werden. Ideologische Nähen und einschlägige Symboliken sprechen nicht automatisch für organisatorische Zugehörigkeiten. Einleitend weisen die Herausgeber auf inhaltliche Lücken hin, was aber angesichts der Komplexität des Themas mehr als nur verzeihlich ist. Bilanzierend betrachtet handelt es sich um einen ausgezeichneten Sammelband zu einem wichtigen Thema. Eine unbedingte Lektüreempfehlung darf ausgesprochen werden.

Fatma Keser/David Schmidt/Andreas Stahl (Hrsg.), Gesichter des politischen Islam, Berlin 2023 (Edition Tiamat), 480 S., 30,00 Euro, Bestellen?

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