Im Angesicht der Katastrophe

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Otto Heller schrieb als erstes KPD-Mitglied eine marxistisch-leninistische Abhandlung zur »Judenfrage«. Er floh vor Stalin, kämpfte bis zuletzt gegen die Nazis – und ist heute fast vergessen. Nun untersucht der israelische Historiker Tom Navon in seiner Biographie »Radical Assimilation in the Face of the Holocaust« die Auseinandersetzung Hellers mit dem Judentum.

Von Olaf Kistenmacher
Zuerst erschienen in: Jungle World v. 14.3.2024

Eine Biographie des Kommunisten Otto Heller war überfällig. Sein Mut war atemberaubend; das Grauen, das sein Leben überschattete, wird für immer unvorstellbar bleiben. Nun hat der israelische Historiker Tom Navon sein Leben unter dem Titel »Radical Assimilation in the Face of the Holocaust. Otto Heller 1897–1945« beschrieben.

Noch in Auschwitz leistete der aus einer jüdischen Familie stammende Heller in der Gruppe um Bruno Baum Widerstand gegen die nationalsozialistische Vernichtung. Ungewöhnlich ist seine intensive Beschäftigung mit dem, was sogar Juden und Linke zu jener Zeit als »Judenfrage« bezeichneten. Mit dem Ausdruck waren Analysen des Antisemitismus ebenso gemeint wie Positionen zum Zionismus oder zur jüdischen Identität.

Nach 1933 musste Heller nicht nur vor den Nazis fliehen. Wie Navon schreibt, entkam Heller 1937 »im letzten Moment« aus der Sowjetunion. Es könne jemandem wie Heller »zweifellos« nicht entgangen sein, dass die Moskauer Schauprozesse der dreißiger Jahre – mit dem abwesenden Leo Trotzki als Hauptangeklagtem – einen »antisemitischen Unterton« hatten.

Ursprünglich ging Hellers politisches Engagement einher mit einer »Revolte gegen seine jüdische Herkunft«. In eine gutbürgerliche, wenig religiöse Familie in Wien geboren, gehörte er 1920 zu den Gründungsmitgliedern der Kommunistischen Partei der Tschechoslowakei. Während eines Aufenthalts in Sowjetrussland machten die tschechischen Behörden ihm die Rückkehr unmöglich, indem sie ihm die Papiere entzogen. So verschlug es Heller Mitte der zwanziger Jahre nach Berlin, wo er für mehrere kommunistische Zeitungen schrieb, jedoch alsbald zwischen die Fronten innerparteilicher Machtkämpfe geriet.

Hellers Reise nach Russland

Der KPD-Vorsitzende Ernst Thälmann persönlich soll verlangt haben, dass Heller seine Stelle bei der Tageszeitung Welt am Abend verlor. Deren Verleger Willi Münzenberg tat, wie ihm geheißen, versuchte danach aber, so Babette Gross in ihrer Münzenberg-Biographie, »gutzumachen, was noch gutzumachen war«, und ermöglichte Heller eine Reise nach Russland. Den Verdacht, als vermeintlicher »Trotzkist« oder »Versöhnler« Stalin die Treue zu verweigern, wurde Heller jedoch nicht wieder los.

1930 erschien sein Reisebericht »Sibirien. Ein anderes Amerika«. Zur selben Zeit bereiste er erneut die ­Sowjetunion, insbesondere das fernöstliche Gebiet Birobidschan, das zum jüdischen Siedlungsgebiet ausgerufen worden war; 1934 wurde es zur Jüdischen Autonomen Oblast erklärt. Das aus den Eindrücken dieser Reise entstandene Buch »Der Untergang des Judentums. Die Judenfrage, ihre Kritik, ihre Lösung durch den Sozialismus« ist die erste und umfangreichste Beschäftigung eines KPD-Mitglieds mit der sogenannten Judenfrage.

An dieser Darstellung zeigen sich die ganzen Widersprüche des Marxismus-Leninismus. Schon der unzutreffende Titel sorgte für Kritik. Denn Hellers Buch beschreibt gar keinen »Untergang«, sondern, wie es Erich Fromm in der Zeitschrift für Sozialforschung 1932 ausdrückte, die »Möglichkeit des Fortbestandes« von Jüdinnen und Juden im Sozialismus.

Keine KPD-Verlautbarung

Eine konsistente marxistische Position war ohnehin kaum möglich. Marx hatte 1843/44 geschrieben, die »Emanzipation des Juden« bestehe in der »Emanzipation der Gesellschaft vom Judentum«. Doch in Sowjetrussland wurde jüdische Kultur sogar gefördert. 1913 hatte Stalin in der Abhandlung »Marxismus und nationale Frage« behauptet, Jüdinnen und ­Juden könnten keine Nation sein. Nun galten für sie die Rechte einer nationalen Minderheit. Die Paradoxie schlug sich auch in Hellers begeistertem Bericht nieder. Über die Bevölkerung eines ukrainischen Dorfs schrieb er: »Die Leute waren richtige Bauern. Hätten sie nicht jüdisch gesprochen, man hätte nicht geahnt, bei Juden zu sein.«

Eine historisch-materialistische Darstellung jüdischer Geschichte bedeutete zu Hellers Zeit, jüdische Identität über eine vermeintliche soziale Stellung zu definieren. So bezeichnete Heller Jüdinnen und Juden, wie schon der Sozialdemokrat Karl Kautsky, als eine »Kaste«, als »Handelsvolk«. Der belgische Trotzkist Abraham Léon, der wie Heller aus einer jüdischen Familie stammte und 1943 im Untergrund ein Manuskript mit dem Titel »La conception maté­rialiste de la question juive« verfasste, erfand dafür den Ausdruck »Volks-Klasse (peuple-classe)«.

Trotz aller Parteitreue stieß Hellers Darstellung auch bei der KPD-Führung auf Ablehnung. Obwohl bis an sein Lebensende ein Antizionist, war er in Bezug auf den Antisemitismus in Palästina von der Parteiposi­tion abgewichen. So bezeichnete er den gegen die Jüdinnen und Juden gerichteten Gewaltausbruch im damaligen britischen Mandatsgebiet 1929 nicht nur als »blutigen Araberaufstand«, sondern auch als »große Judenpogrome« – und wurde dafür in der Tageszeitung Die Rote Fahne gerügt. Heller fügte sich – und strich aus der 1933 erscheinenden zweiten Auflage die Worte »große ­Judenpogrome«.

Tom Navon liest Hellers Buch nicht als Verlautbarung der KPD, sondern als den Beginn einer sehr persönlichen Auseinandersetzung mit seiner jüdischen Identität. Aus einem »nichtjüdischen Juden«, wie Isaac Deutscher Linke wie Heller später nannte, sei, so Navon, mit der Zeit ein »außergewöhnlich jüdischer ›nichtjüdischer Jude‹« geworden.

»Warum unternehmen Sie nichts?«

1933, im Schweizer Exil, verzweifelte Heller an der mangelnden Solidarität sowjetisch-jüdischer Organisation mit den Jüdinnen und Juden, die aus Nazi-Deutschland entkommen mussten. Es sei nötig, dass Birobidschan die Flüchtenden aufnehme, schrieb er nach Moskau. »Warum unternehmen Sie nichts?«

1938 brachte Heller ein weiteres Manuskript zum Abschluss, das nie veröffentlicht wurde. Als Titel wählte er das Zitat »Der Jude wird verbrannt« aus Gotthold Ephraim Lessings berühmten Theaterstück »Nathan der Weise«. In dem Manuskript zeigt sich erneut, was Navon die »Rivalität zwischen Kommunismus und Jewishness« nennt.

Einerseits warnte Heller deutlich vor der Gefahr, die von den Nazis ausging. Andererseits blieb er in seiner Analyse des Judenhasses dem historischen Materialismus seiner Zeit verpflichtet und war überzeugt, mit der Reichspogromnacht sei der Höhepunkt der antisemitischen Gewalt erreicht. Denn Heller war überzeugt, wenn alle Jüdinnen und Juden aus dem Wirtschaftsleben verschwunden seien, könnten sie »nicht mehr für die schlechter werdenden Lebensbedingungen verantwortlich gemacht« werden. Ein schrecklicher Irrtum.

In Frankreich wurde er als »unerwünschter Ausländer« inhaftiert, konnte aber entkommen. Die Résistance schleuste ihn dann in Lille unter falschem Namen als Dolmetscher bei der Wehrmacht ein, bis ihn die Gestapo im Dezember 1943 festnahm und nach Auschwitz deportierte.

Bruno Baum erinnerte sich vier Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs in seinem Überlebendenbericht »Widerstand in Auschwitz«, wie Heller, der sich trotz all seiner Ver­öffentlichungen nie als Schriftsteller gesehen hat, ein letztes Mal an Texten mitarbeitete: an den heimlich erstellten, hinausgeschmuggelten Bulletins, mit denen die Welt über die Vernichtungspolitik aufgeklärt werden sollte. Von der SS auf einem ­Todesmarsch nach Mauthausen getrieben, wurde Heller weiter ins ­Außenlager Ebensee deportiert. Die SS notierte seinen Tod am 26. März 1945.

Tom Navon: Radical Assimilation in the Face of the Holocaust. Otto Heller 1897–1945. Suny Press, New York 2024, 312 Seiten, ca. 37 Euro