Neue Horizonte, befreiende Perspektiven

0
1025
Roksana Vikaluk, im Hintergrund Wolfram Spyra am Stahlcello, Foto: Hubert Glogauer

Die Künstler Roksana Vikaluk und Wolfram Spyra präsentieren eine eindrucksvolle und berührende Fusion jüdischer Liedtradition und moderner elektronischer Musik.

Von Max Doehlemann

Anders als in den USA oder Israel, wo musikalische Traditionen wie Klezmer oder jiddische Lieder auch kreative Verbindungen mit Jazz, Rock oder Punk eingehen, herrscht in Deutschland bei jüdischen Musiktraditionen meist ein folkloristisches Verständnis vor. Auch wenn die einschlägige Musikszene in Städten wie etwa Berlin heute breiter, experimenteller und spielerischer geworden ist, bleibt der musikalische Neuigkeitswert in der Regel überschaubar. Ganz gleich, ob bei „Jüdischen Kulturtagen“, Stadthallen-Konzerten oder Festivals aller Art: Wird „jüdische Musik“ zum Thema gemacht, geht es meistens um eine auf (angebliche) Authentizität angelegte Traditionspflege – mit einer starken Tendenz zu musikalischen Klischees. Klezmer-Klarinetten mit entsprechenden Arrangements, nostalgische Welten aus dem „Stetl“ erwärmen die Herzen des Publikums, vielleicht auch gerade weil die Freistellung von historischem Kontext einen gewissen Eskapismus angesichts der Last von Geschichte und Gegenwart ermöglicht. Das geht soweit auch in Ordnung; Folklore und überhaupt musikalische Traditionspflege funktionieren schließlich oft so. Doch wo bleibt das Heutige, Moderne, wahrhaft Authentische jenseits der Nostalgie? Erschöpfen sich die Möglichkeiten jiddischen Gesangs wirklich allein in Traditionspflege?

Erst seit kurzem ist das Künstlerduo Roksana Vikaluk und Wolfram Spyra mit seinen jiddischen Programmen in Deutschland aktiv. So präsentierten die beiden im letzten Jahr die Programme „Ojfn Weg“ und „Embrace the World!“ (Arumnemen di Welt!) unter anderem erfolgreich auf dem Jüdischen Kulturschiff MS Goldberg. Zuvor waren Programme in dieser Stoßrichtung bereits in Polen zu hören, so etwa der Scholem-Alechjem-Abend „Taki jeden dzień“ (polnisch: „Solch ein Tag“).

Und hier eröffnen sich ganz neu und wahrhaft befreiende Perspektiven! Roksana Vikaluk bringt gewaltige stimmliche Mittel und performative Qualitäten ein – in Kombination mit den elektronischen Klangwelten Wolfram Spyras, die er teils erzeugt mit einem sogenannten Stahlcello (mehr dazu unten), entstehen unerwartete, erfrischende, enorm ausdrucksstarke musikalische Welten voll Heutigkeit.

Roksana Vikaluk, geboren im ukrainischen Ternopil und aufgewachsen in einer kulturinteressierten, jüdisch-ukrainischen Familie, studierte Jazz-Gesang in Polen bei Ewa Bem, seinerzeit wohl die bedeutendste Jazzsängerin Polens. An der Jazz Academy in Katowice schloss sie außerdem als „composer and arranger“ ab. Neben der musikalischen Tätigkeit wirkt sie seit vielen Jahren als Schauspielerin in polnischen Theatern – wichtige Station war hier das Jüdische Theater Warschau unter Leitung Szymon Szurmiej. Roksanas Perspektive ist neben dem Einfluss der vitalen polnischen Jazztradition geprägt von ihrer multikulturellen und –lingualen Herkunft. Ein Teil ihrer Familie ist mit Czernowitz und der Bukowina verbunden; neben der ukrainischen und jiddischen Sprache spielt hier auch das Rumänische eine Rolle. Weiterhin relevant für Roksana ist die kulturelle Perspektive der Huzulen (Bewohner in einem Landstrich in den Karpaten)– so gibt es etwa eine huzulische Tonleiter, die den ukrainisch-jüdischen Traditionen sehr ähnelt. Seit dem russischen Angriffskrieg engagiert sich Roksana Vikaluk mit den Mitteln der Kunst gegen die russische Aggression für die ukrainische Selbstbehauptung – in Konzerten und Performances leistet sie wichtige und berührende Beiträge zum Thema, die aufrütteln.

Aktuell ist Roksana wieder zu erleben im „Teatre Polski“ in Wrocław, diesmal in Zusammenarbeit mit dem künstlerischen Leiter Jan Szurmiej.

Wolfram Spyras Betätigungsfeld war immer schon zwischen bildender Kunst und Musik beheimatet. Auftritte auf Festivals elektronischer Musik stehen neben Klanginstallationen oder Kunstwerken, etwa im Rahmenprogramm der Kasseler Documenta. Einer größeren Community im Bereich der elektronischen Musik ist er als „Der Spyra“ bekannt. Er hat Kunst studiert an der HBK Kassel bei Harry Kramer. Der Ausdruck „Klang-Schrauber“ ist bei ihm durchaus wörtlich zu verstehen, baute er doch als Ergänzung seiner beachtlichen Sammlung von Synthesizern Klangerzeuger auch vielfach selbst. Wolfram bringt als auffälligste Zutat bei den Jiddisch-Konzerten mit Roksana ein sogenanntes Stahlcello ein: ein Ungetüm aus Blechen und Stangen, das ursprünglich vom Fluxus-Künstler Bob Rutman entwickelt wurde. Wolfram, mit Bob Rutman seinerzeit in Kontakt, spielt einen modifizierten Nachbau. Zum Stahlcello hinzu kommt ein individuelles Setting aus Live-Sampling und zahlreichen weiteren ungewöhnlichen elektronischen Mitteln.

Wolfram Spyra, Foto: Hubert Glogauer

Die beiden künstlerischen Individualisten, auch im Privatleben ein Paar und verheiratet, lernten sich 2010 auf dem Musikfestival „Schody Do Nieba“ (polnisch für „Stairway to Heaven“) in Chorzów kennen, das von Józef Skrzek (Leiter der Prog Rock – Band SBB) geleitet wurde. Seitdem arbeiten sie regelmäßig zusammen, etwa im Rahmen von Theaterproduktionen oder Musikfestivals in Polen, Deutschland und anderen europäischen Ländern. Das künstlerische Engagement der beiden ist grundsätzlich interdisziplinär; derzeit bereiten sie die Eröffnung einer Kunsthalle in Frankfurt (Oder) vor, wo sie auch schon seit längerem eine Galerie betreiben.

Im Folgenden ein Versuch, Eindrücke aus dem Konzert „Arumnemen Di Welt!“ zu beschreiben: Die Musik ist vom Ausgangspunkt her geprägt von Elementen der elektronischen Musik – ruhige, tiefe Klangflächen (auch mithilfe des Stahlcellos erzeugt), pulsierende, weiche Arpeggios aus Analog-Synthesizern. Darüber entfaltet sich schwebend, manchmal eigentümlich verloren und fremdartig, dann auch wieder direkt, konfrontativ und klar, die Stimme von Roksana. Es bleibt nicht bei den weichen Ambient-Klängen; zum Tragen kommen auch düstere und metallische Farben. Mit einem Looper, den Roksana virtuos einzusetzen weiß, verdoppelt und kontrapunktiert sich die Stimme auf eine interessante und ausdruckstarke Art, was vom Klangbild manchmal fast an die isländische Künstlerin Björk erinnert. So türmen sich weite Klanglandschaften auf, friedliche Stimmungen wechseln mit stürmischen und dramatischen. Es bleibt nicht bei den schwebenden und pulsierenden Farben – spätestens wenn sich Roksana selbst am Flügel begleitet, ist dann auch virtuos-temperamentvoller und musikantischer Gehalt da, der manchen reinen Folklore-Musiker in den Schatten stellen dürfte.

An einer anderen, besonders schönen und intensiven Stelle der Show fällt gewissermaßen alles Unnötige ab, wenn der Traditionstext „Ojfn Himmel a Jarid“ (Autor unbekannt) kommt. Diese Art der Darbietung ist theatralisch, aber vollkommen frei von Kitsch oder Gefühlsduselei. Die Tiefe darin ist auch empfindlich und zum Schmerz fähig, gleichzeitig aber auch frei und souverän. Man hat das Gefühl, dass die Künstlerin auf ihre persönliche Art sehr tief in dieser Tradition zu Hause ist und genau darum das Setting künstlerisch verfremden muss – damit gerade in dieser Verfremdung die jiddische, traditionelle Poesie und sie sich selbst neu finden können.

Ojfn himl a jarid, un ojf der erd a blote
Lomir onton ojfn lid a cicene kapote
Mizrach, Majrew, Cofn, Dorem
S’iz aropgefaln a Cholem
Mitn kop glajch ojf der erd
Punkt azoj
Un nit farkert

(Übersetzung)
Im Himmel ein Getümmel, und auf der Erde Schlamm
Ziehen wir ein Stoffkleid an für das Lied
Osten, Westen, Norden, Süden
Direkt auf den Boden ein Traum ist gefallen
Genau so
Und nicht rückwärts

Der Rückgriff auf die jüdische Tradition bekommt Eindringlichkeit auch durch die Einbettung in den Kontext der ukrainischen Selbstbehauptung, natürlich auch durch die Modernität der Darbietung und durch Roksanas stimmliche Virtuosität. Die Kombination mit der klanglichen Fantasie und Vielgestaltigkeit der elektronischen Musik gibt dem Ganzen etwas Ungeheuer Heutiges und „Präsentes“, das seinesgleichen sucht. Die Themen Babyn Yar und der Aufstand im Warschauer Ghetto klingen an, aber auch die tröstende Hinterlist des Jüdischen Humors angesichts verstörender Lebensschicksale. Zwei berühmte Lieder, das Jiddische „Ojfn Weg“ und das ukrainische Oй, летіли дикі гуси”/“Oy letily dyki husy” verschmilzt Roksana auf sehr persönliche Weise. Überraschend sind die ineinander verwobenen Bühnenaktionen, Monologe und Dialoge, Gedichte und Gebete. Neben dem Jiddischen, Polnischen und Ukrainischen kommen sogar Elemente aus der Krimtartarischen Sprache vor.

Es ist dringend zu wünschen, dass die deutsche Öffentlichkeit erkennt, welche wichtigen und interessanten neuen Seiten jüdischer Kultur hier aufgeschlagen werden. Diese Art von Darbietung sollte unbedingt bekannter werden und gehört auch in die ganz großen Kulturorte. Jiddische Kultur kann so neu und modern sein!

Foto: Hubert Glogauer