Verdrängte Geschichte, verklärtes Idol – Zum Tod von Henry Kissinger 1923-2023

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Die Politik des früheren Sicherheitsberaters des US-Präsidenten und amerikanischen Außenministers Henry Kissingers ist weltweit umstritten: Er erhielt 1973 den Friedensnobelpreis für das Friedensabkommen in Vietnam, wird aber von Menschenrechtsorganisationen und NGOs für Menschenrechtsverletzungen in Vietnam, Chile, Argentinien oder Ost-Timor verantwortlich gemacht. Im Jahrbuch nurinst 2008, des Nürnberger Institiuts für NS-Fortschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts erschien ein Beitrag des Lateinamerika-Experten Josef Moe Hierlmeyer (1959-2011), den wir anlässlich des Todes von Kissinger wiedergeben.

Verdrängte Geschichte, verklärtes Idol
Henry Kissinger und die Verletzung der Menschenrechte

Von Josef Moe Hierlmeier
Erschienen in: nurinst 2008, des Nürnberger Institiuts für NS-Fortschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts

Nach wie vor genießt Henry Kissinger in weiten Teilen der deutschen und US-amerikanischen Öffentlichkeit den Ruf einer Lichtgestalt der Diplomatie und der Außenpolitik. Dies gilt ganz besonders für seine Geburtsstadt Fürth und die fränkische Region. Zu seinem 50. Geburtstag erhielt er 1973 die Goldene Bürgermedaille. 1998 wurde er zum Ehrenbürger ernannt, die höchste Auszeichnung der Stadt. Ganz ausdrücklich würdigte die Stadt Fürth damit »sein politisches Lebenswerk, das ihn zu einer der herausragendsten Persönlichkeiten dieses Jahrhunderts gemacht hat«.(1) Er gilt als die bedeutendste und prominenteste Person, die Fürth je hervorgebracht hat. Auch die Universität Erlangen-Nürnberg hat ihn mit der Ehrendoktorwürde ausgezeichnet. Und gerade hat der Fußballverein SpVgg Greuther Fürth für ihn eine Dauerkarte auf Lebenszeit hinterlegt. Keinen Hinweis findet man in seiner Geburtsstadt allerdings auf die Vorwürfe, die Menschenrechtsorganisationen, Juristen und Journalisten seit Jahrzehnten gegen ihn erheben. Sie versuchen ihn vor Gericht zu bringen. In einer 2006 von der britischen BBC ausgestrahlten TV-Dokumentation wurde Henry Kissinger sogar als »Kriegsverbrecher« bezeichnet.(2) Verschiedene Neuerscheinungen und eine Reihe von in den letzten Jahren veröffentlichten Dokumenten bieten die Möglichkeit, die Rolle Kissingers bei diversen Konflikten in aller Welt neu zu beleuchten.(3)

Die Vorwürfe

Bereits in den 1970er und 1980er Jahren wurde Kissinger als Kriegsverbrecher bezeichnet. Ein erstes Ausrufezeichen lieferte 1983 der Pulitzer-Preisträger Seymour M. Hersh mit seinem Buch The price of power. Kissinger in the Nixon White House (4). Hersh, der die Verbrechen der USA in My Lai und in Abu Ghraib (5) ans Licht der Öffentlichkeit brachte, hat mit zahlreichen Mitarbeitern aus dem engsten Umfeld Kissingers gesprochen. Er lieferte das Panorama eines unbarmherzigen Politikers, der vom Drang nach totaler Kontrolle beseelt war. Neue Dynamik erhielt die Debatte 15 Jahre später mit der Anklage gegen den ehemaligen chilenischen Diktator Pinochet durch ein spanisches Gericht. Kissinger hatte Pinochet beim Sturz des demokratisch gewählten Präsidenten Allende unterstützt. Damit kam Kissinger selbst in den Focus der Ermittlungen. Der Journalist Christopher Hitchens sammelte alle strafrechtlich relevanten Vorwürfe gegen Kissinger und veröffentlichte sie 2001 in seinem Buch Die Akte Kissinger. Darin wollte er den Beweis erbringen, dass Kissinger die Strafverfolgung »wegen Kriegsverbrechen, Verbrechen gegen die Menschlichkeit und wegen Verschwörung zu Mord, Entführung und Folter« verdiene.(6) Das Buch von Hitchens schlug sofort hohe Wellen. »Wer bringt Kissinger vor Gericht?«, fragte etwa der Menschenrechtsanwalt und Vorsitzende des deutschen Republikanischen Anwaltsvereins Wolfgang Kaleck.(7) Der Journalist Stefan Reinecke forderte im Tagesspiegel »eine Revision des folkloristischen Kissinger-Bildes« in Deutschland.(8) Und für Stefan Schaaf bestätigte das Buch »die schlimmsten Befürchtungen über die Diskrepanz zwischen Kissingers politischer Fassade und seiner faktischen Politik hinter den Kulissen«.(9) Mit der ebenfalls 2001 gegründeten Internet-Plattform »Kissinger-Watch«(10) vernetzten sich kanadische, US-amerikanische, chilenische, osttimoresische und deutsche Menschenrechtsgruppen mit dem Ziel, weitere Informationen und Anklagepunkte zu sammeln. Die Vorwürfe beziehen sich vor allem auf die Aktivitäten Kissingers in Indochina, Chile, Ost-Timor, Bangladesh und Zypern.(11)

Vietnam, Laos, Kambodscha: Die Suche nach dem Breaking Point

Die Geschichte des Vietnam-Krieges ist noch lange nicht erzählt. In Vietnam wurden zwei bis drei Millionen Menschen getötet, in Laos kamen 350.000 Zivilisten ums Leben, in Kambodscha 600.000. Nirgendwo sonst wurden so viele Zerstörungsmittel eingesetzt. Millionen Hektar Land wurden durch Herbizide vergiftet, riesige Waldgebiete durch das Entlaubungsmittel Agent Orange vernichtet, Tausende von Dörfern dem Erdboden gleichgemacht. Der Anteil der Zivilisten unter den Kriegsopfern war extrem hoch. Es war ein »Krieg ohne Fronten«, so der Buchtitel von Greiners detaillierter Analyse des Kriegsverlaufes. Gewaltexzesse waren an der Tagesordnung. Schon bei den »Winter-Soldier«-Anhörungen der »Vietnam Veterans Against the War« hatten im Januar 1971 150 Soldaten von ihren Erfahrungen in Vietnam erzählt: Sie berichteten »von Vergewaltigungen, vom wahllosen Ermorden von Zivilisten, von Wasser- und Elektrofolter, von der Gewohnheit, getöteten Feinden […] Köpfe und Gliedmaßen abzuschneiden oder sie anderweitig zu verstümmeln«.(12) All dies bestätigt jetzt Greiner in seiner detaillierten Untersuchung zu den Kriegsverbrechen der USA in Vietnam. Dabei konnte er sich als erster auf die umfangreichen Dokumentenbestände der »US National Archives« stützen. Für den Zeit-Redakteur Ullrich (13) ist »dieses Buch […] ein Schock. Es erzählt von einer blutigen Tragödie, deren Dimensionen wir bislang nur erahnen konnten«. Greiner untersucht die Rolle der Beteiligten: von den dafür politisch Verantwortlichen über die Generäle und Offiziere bis hinunter zu den einfachen Soldaten. Obwohl er deren Verantwortung ausführlich behandelt, ist seine Schlussfolgerung eindeutig: In Vietnam ging die Initiative zur Radikalisierung des Krieges und zur Verschiebung der moralischen Maßstäbe von oben, also der politischen Führung aus – mit Flächenbombardierung, Entlaubung, Napalm und »Body Count«(14). Er kommt zu dem Ergebnis, dass wegen der symbolischen Überhöhung des Vietnamkrieges durch die Dominotheorie (15) die Politiker trotz zahlreicher Mahnungen von Militärs nicht mehr zur Selbstkorrektur in der Lage waren. Da ein frühzeitiger Friedensschluss als Beweis der eigenen Schwäche angesehen wurde, kam es zu einer Entgrenzung des Krieges vor allem durch die Flächenbombardements unter Nixon und Kissinger. Durch die Erhöhung des Zerstörungspotentials sollte der Gegner mürbe gemacht werden. Gegenüber einem Land wie Vietnam den Kürzeren zu ziehen, hätte alle Koordinaten der US-Weltmachtpolitik auf den Kopf gestellt. Der politische Horizont verengte sich: Rückzug ist Niederlage, Niederlage ist Demütigung, Demütigung ist eine nationale Katastrophe und eine nationale Katastrophe ist das Ende der US-amerikanischen Weltmacht. Deshalb musste um jeden Preis weitergebombt werden. »Ich weigere mich einfach anzuerkennen, dass eine kleine viertklassige Macht wie Nordvietnam keinen breaking point hat«, so Kissinger im Sommer 1969.(16)

Bereits kurz nach der Regierungsübernahme durch Präsident Nixon begannen die US-Amerikaner mit den völkerrechtswidrigen Bombardements in Kambodscha und Laos. Verantwortlich dafür waren neben Nixon sein Sicherheitsberater Kissinger und sein »military adviser« Alexander Haig. Kissinger selbst prahlte damit, er habe einen militärischen und diplomatischen Terminplan für die »Operation Breakfast« – so der Name für die Bombardements – entwickelt. Ein »strahlender« Kissinger sei von den Erfolgen begeistert gewesen, berichtet sein damals engster Mitarbeiter Haldemann.(17) Kissinger war immer über die Details der Operation informiert.

Laos und Kambodscha wurden bombardiert, ohne dass es eine Kriegserklärung, eine Benachrichtigung des Kongresses oder eine Warnung an die Bevölkerung gegeben hat. »Mit Wissen des Weißen Hauses fälschten Luftwaffenoffiziere Flugberichte, um den Verstoß gegen die eigene Verfassung und die Verletzung der kambodschanischen Neutralität zu verheimlichen«, schrieb Die Zeit 1980.(18)

Kissinger mit Präsident Nixon und Alexander Haig, 1972, Foto: U.S. National Archives and Records Administration

Die bisher veröffentlichten Telefon-Mitschnitte und Tonbandprotokolle aus dem Weißen Haus geben über das Denken in der Nixon/Kissinger-Administration beredt Auskunft. Nixon über den Vietcong: »Fickt diese Wichser! […] Wir haben einige Karten in der Hinterhand […] und wir werden sie verdammt hart ausspielen«, womit er den Einsatz von Atomwaffen andeutete, der von ihm und Kissinger ins Kalkül gezogen wurde. Nixon wollte »Haiphong ausradieren«. »Wir haben nichts mehr zu verlieren. Wir werden ihnen alle Kraft aus dem Leib bomben«, worauf ihm Henry Kissinger antwortete: »Mr. President, ich werde Sie aus ganzem Herzen unterstützen, und ich glaube, dass Sie das Richtige tun.«(19)

My Lai war keine Ausnahme: Die Operation »Speedy Express«

Das Abschlachten von Kindern, Frauen und Alten war in Vietnam an der Tagesordnung. My Lai war keine Ausnahme. Vergleichbar damit war die Aktion »Speedy Express«, die in die Verantwortung von Nixon und Kissinger fiel. In einem Brief an mehrere hochrangige Militärs schreibt ein besorgter Sergeant über »Speedy Express«: »Ich habe Kenntnis von Dingen, die so übel sind wie My Lai oder noch schlimmer.«(20) Greiner kommt zu folgendem Ergebnis: »Im Fall von Speedy Express kann keine Rede davon sein, dass untergeordnete Kommandeure und vereinzelte Truppenteile über die Stränge geschlagen hätten oder Richtlinien unter dem Druck nicht antizipierter Situationen ignoriert worden wären. Die ›Rules of Engagement‹ wurden von der Einsatzleitung bereits in der Planungsphase wie ein antiquiertes Relikt behandelt. […] Einkreisung, Zerstörung und Vernichtung hießen die Schlüsselbegriffe für den Umgang mit dem Vietcong. In anderen Worten: Kapitulation war nicht vorgesehen. Die operativen Vorgaben liefen nicht allein auf eine Politik des ›Keine Gefangene-Machens‹ hinaus. Sie forderten diese Praxis ein.« Das Mekong-Delta als Operationsgebiet von »Speedy Express« galt als »allgemeine Todeszone«. Geleitet wurde die Aktion bis März 1969 von Major General Julian J. Ewell, bekannt als der »Schlächter des Deltas«. Nach seiner Rückkehr aus Vietnam beriet Ewell Kissinger und die amerikanische Delegation bei den Waffenstillstandsverhandlungen in Paris als »Chief Military Adviser«.(21)

Chile: Der »treuhänderische« Sturz der Regierung Allende

Nach dem Wahlsieg des sozialistischen Präsidentschaftskandidaten Salvador Allende und der Unidad Popular im September 1970 entfachten Vertreter einflussreicher US-Firmen wie Chase Manhattan, ITT und Pepsi Cola einen starken Druck auf Präsident Nixon. Ziel war, den Machtantritt Allendes zu verhindern. Dass die USA das Recht auf Intervention hatten, galt als völlig unstrittig. Seit der Monroe-Doktrin von 1823 nahmen die USA für sich das Recht auf Intervention im gesamten lateinamerikanischen »Hinterhof« in Anspruch. Edward Korry, US-Botschafter in Chile während der Nixon-Regierung, meinte, die USA hätten eine »treuhänderische Verantwortung« für das Land.(22) Deshalb starteten sie eine Kampagne zur Destabilisierung der Regierung Allende, die am 11. September 1973 mit dessen Sturz durch den Militärputsch von General Pinochet enden sollte. An die Stelle der frei gewählten Regierung trat die Militärdiktatur. Tausende Chilenen wurden ermordet, knapp 30.000 Personen gefoltert, zehntausende politische Gegner der Diktatur inhaftiert, Hunderttausende mussten fliehen und gingen ins Exil. Obwohl das Ausmaß von Folter und Mord bekannt war, unterstützte Kissinger die Diktatur Pinochets: »Meiner Einschätzung nach sind Sie ein Opfer linksorientierter Gruppen in aller Welt, und Ihr größtes Verbrechen war, dass Sie eine Regierung stürzten, die im Begriff stand, kommunistisch zu werden. […] Wir haben den Sturz der zum Kommunismus neigenden Regierung hier begrüßt. Wir haben nicht vor, Ihre Position zu schwächen.« Der Hauptverantwortliche für den Putsch auf Seiten der USA war Kissinger, so der langjährige Auslandskorrespondent der New York Times Stephen Kinzer. Kissinger kontrollierte und leitete alle Geheimdienstaktivitäten. Die CIA warnte ihn zwar vor den »katastrophalen Folgen« dieser Verschwörung. Und für seinen Hauptberater für Südamerika Viron Vaky war das Vorgehen in Chile praktisch eine »Vergewaltigung unserer eigenen Prinzipien und politischen Grundlehren«. Doch alle Einwände konnten ihn nicht von seinen Umsturzplänen abhalten. Das Protokoll eines Gesprächs zwischen Kissinger, General Haig und dem CIA-Mitarbeiter Karamessines vermerkt: »Das Meeting schloss mit Dr. Kissingers Bemerkung, dass die CIA weiter Druck auf jeden nur erkennbaren Schwachpunkt von Allende ausüben sollte – jetzt, nach dem 24. Oktober, nach dem 4. November und in der Zukunft, bis neuer Marschbefehl gegeben würde. Mr. Karamessines hielt fest, dass die CIA dem Folge leisten würde.«

Um Allende stürzen zu können, musste zuerst der ihm gegenüber loyale Oberbefehlshaber der chilenischen Streitkräfte, General Schneider, ausgeschaltet werden. Zu diesem Zweck stattete der CIA rechtsradikale Kreise innerhalb des chilenischen Militärs mit Geld und Maschinenpistolen aus – mit der Bitte um schnelles Eingreifen. Nachdem zwei Entführungsversuche gescheitert waren, wurde General Schneider schließlich am 22. Oktober 1970 von einer weiteren rechtsradikalen Gruppierung im chilenischen Militär ermordet. Laut Ex-Botschafter Korry hat Kissinger alles getan, um nicht in Zusammenhang mit dieser Aktion gebracht zu werden. Deshalb habe Kissinger wichtige Dokumente aus dem Amtsverkehr gezogen und die ganze Verantwortung Korry angelastet.

Die Söhne von General Schneider erhoben 2001 Anklage gegen Kissinger wegen seiner Beteiligung an der geplanten Entführung und Ermordung ihres Vaters. Kissinger hat sich bis heute nicht einer strafrechtlichen Untersuchung gestellt. Wichtige Akten werden noch immer aus Gründen der »Nationalen Sicherheit« der Öffentlichkeit und den Betroffenen vorenthalten. Diese Erfahrung musste auch Joyce Horman machen. Ihr Mann, der US-Journalist Charles Horman (23), wurde kurz nach dem Putsch von 1973 von Pinochets Schergen ermordet. »Mein Mann wurde umgebracht, weil er an Informationen aus erster Hand über die Beteiligung der Navy an den Putschvorbereitungen gelangt war.«(24) Sie ist davon überzeugt, dass Henry Kissinger dafür grünes Licht gegeben hat. Deshalb stellte sie bereits 1977 Strafanzeige in den USA gegen ihn. Bis heute hat sie keinen umfassenden Einblick in die Akten erhalten.

Kissinger mit Pinochet, Foto: Ministerio de Relaciones Exteriores de Chile / CC BY 2.0 cl

Eine weitere Anzeige folgte. Erstattet wurde sie von Opfern der »Operacion Condor« und von Rigoberta Menchu, die für ihren Kampf für die Rechte der indigenen Völker mit dem Friedensnobelpreis ausgezeichnet wurde. Bei der »Operacion Condor« hatten die Militärdiktaturen von Argentinien, Brasilien, Chile, Uruguay, Paraguay und Bolivien – unter Anleitung der USA – Todesschwadronen zur Bekämpfung von politischen Gegnern eingerichtet. Die CIA und das FBI unterstützten die Diktaturen materiell und durch Ausbildung in effektiver Folter. Die im Jahre 2000 veröffentlichten Dokumente legen – so die Tagesschau vom 4. Dezember 2006 – die Vermutung nahe, dass Kissinger über die Aktivitäten Bescheid wusste.(25) Bei der Bearbeitung dieser Fälle versuchten verschiedene Untersuchungsrichter auch Kissinger als Zeugen vor Gericht zu zitieren. In Paris entzog er sich einer Zeugenvorladung durch eilige Abreise.(26)

Osttimor: Grünes Licht für die Invasion

Nach Auflösung des portugiesischen Kolonialreiches führten indonesische Truppen am 7. Dezember 1975 eine Invasion in der portugiesischen Ex-Kolonie durch, deren Befreiungsbewegung Fretilin kurz zuvor die Unabhängigkeit des südostasiatischen Landes proklamiert hatte. Knapp ein Drittel der 700.000 Menschen zählenden Bevölkerung fiel nach Schätzungen von Menschenrechtsgruppen den marodierenden Invasoren zum Opfer. Obwohl die Invasion einen Tag nach einem Treffen des indonesischen Diktators Suharto mit US-Präsident Ford und seinem Außenminister Kissinger erfolgte, stritt Kissinger zweieinhalb Jahrzehnte lang jede Verstrickung in die Invasion ab. Dass es sich dabei um eine handfeste Lüge handelte, wurde klar, als 2001 geheime Dokumente aus dem National Security Archive veröffentlicht wurden. Aus diesen geht hervor, dass Ford und Kissinger am Tag zuvor grünes Licht für die Invasion gegeben hatten. Sie hatten nur eine Bedingung: Suharto sollte mit der Invasion warten, bis sie wieder abgereist seien.(27)

Ungeist der Denunziation

Kissinger war, für US-amerikanische Verhältnisse, kein besonders perfider Politiker. Für Vietnam waren letztendlich fünf US-Präsidenten verantwortlich. Auch sie ließen demokratisch gewählte Regierungen wegputschen, unterstützten Diktatoren und legitimierten Folter. Die Flächenbombardements waren keine Erfindung von ihm. Kriegsverbrechen – wie das Abschlachten der Bewohner des südvietnamesischen Dorfes My Lai – wurden auch unter Johnson begangen. Der »body count« als Kriterium für eine erfolgreiche Kriegsführung war eine Anweisung von Johnsons Verteidigungsminister McNamara. Kissinger war in seinem Denken und Handeln wie diese ein Kind seiner Zeit.(28) Die USA sahen sich damals in einem Entscheidungskampf gegen den internationalen Kommunismus. Ein militanter Antikommunismus und Antiliberalismus griff bald um sich. Dies beförderte ein Schwarz-Weiß-Denken: Wer nicht für mich ist, ist gegen mich. Die McCarthy-Ära (29), in der jeder, der diese Sicht in Frage stellte, der Sympathie für den Kommunismus bezichtigt wurde, steht beispielhaft für diese Zeit. Berg sieht im »McCarthyismus« die extremistische Zuspitzung der damals herrschenden Konsensideologie. »Kommunismus wurde zum Inbegriff aller tatsächlichen und eingebildeten Bedrohungen des American way of life durch äußere Aggression und innere Subversion. Der Begriff erfuhr eine groteske Sinnentleerung, so dass die Grenze zwischen legitimen politischen Dissens und Hochverrat immer mehr verwischt wurde. Der bloße Verdacht der ›Unzuverlässigkeit‹ reichte oft für die Entlassung aus dem öffentlichen Dienst. […] Vorauseilender Gehorsam […] infizierte wichtige Bereiche des gesellschaftlichen Lebens mit dem Ungeist der Denunziation.« Tausende wurden, wie Charlie Chaplin, der 1952 ein Einreiseverbot in die USA erhielt, wegen »unamerikanischer Umtriebe« verfolgt. Verschwörungstheorien machten unter McCarthy die Runde – selbst die ehemaligen Präsidenten Franklin D. Roosevelt und Truman wurden von McCarthy wegen ihrer Nachgiebigkeit gegenüber dem Kommunismus des Hochverrats bezichtigt. Bespitzelungen und Denunziationen waren an der Tagesordnung. Eine paranoide Weltsicht breitete sich aus.(30)

Kriecherische Loyalität

Zu den Anhängern von McCarthy gehörte auch Henry Kissinger. Er denunzierte Studenten beim FBI, von denen er glaubte, dass sie nicht loyal wären.(31) Schlimmer noch: Er öffnete gesetzeswidrig die Post anderer und gab den Inhalt an die staatlichen Verfolgungsbehörden weiter. Suri wirft ihm deshalb eine »kriecherische Zurschaustellung seiner Loyalität während der McCarthy-Jahre« (32) vor. Diese Zeit sollte Kissinger prägen. Hersh und viele andere haben detailliert beschrieben, wie das System von Nixon und Kissinger auf absoluter Kontrolle und Hofschranzentum basierte. Kissinger war gefürchtet wegen seines geringschätzigen, ja verächtlichen Umgangs mit seinen Untergebenen und die brutale Behandlung vor allem von Botschaftern, insbesondere, wenn sie ihm widersprachen und sich widersetzten. Für Hoffmann bewegt sich der paranoide Regierungsstil der Nixon/Kissinger-Regierung zwischen dem Herrschaftsstil der Borgias und der Mafia.(33) Jeder versuchte jeden auszutricksen, ein System des Ausspionierens und des Anzapfens von Telefonen wurde installiert. Kissinger selbst gab später zu, dass es pathologische Ausmaße angenommen hatte. Noch heute kritisiert Hersh diesen Regierungsstil in aller Schärfe: »Ich finde, Leute, die mit der gleichen Selbstverständlichkeit lügen, mit der andere atmen, sind gefährlich, besonders, wenn sie als Nationale Sicherheitsberater amtieren.«(34)

Der Süden als Bauernopfer

Für Kissinger zeichnete sich der Staatsmann in der Außenpolitik durch »absolute Rücksichtslosigkeit« aus. Gegenüber seinem Interviewpartner Walter Laqueur wird sein Verständnis von Politik deutlich: »Der Staatsmann muss bereit sein, Freundschaft, Loyalität und alle anderen Rücksichten dem nationalen Interesse zu opfern.«(35) Dementsprechend war auch sein Politikstil. Politik, vor allem die Außenpolitik, war für ihn wie ein großes Schachspiel. Man musste die Initiative übernehmen und darauf bedacht sein, die größtmögliche Handlungsfreiheit zu erwerben. Wenn es darum ging, diese zu vergrößern, konnten die Bauern beliebig geopfert werden. Sie waren letztendlich uninteressant. Die Bauern – das waren für ihn vor allem die Menschen in den Ländern der so genannten Dritten Welt. Der langjährige Auslandsreporter der New York Times und Pulitzer-Preisträger Stephen Kinzer über Kissingers Politikverständnis: »John Foster Dulles, Henry Kissinger, die maßgeblichen Außenpolitiker der USA in der Zeit des Kalten Krieges, interessierten sich absolut nicht für die spezifischen Lebensbedingungen in den einzelnen Ländern, und es war ihnen völlig gleichgültig, ob es sich bei den Regimen, die dort herrschten, um Diktaturen, Demokratien oder irgendeine Zwischenform handelte. Für ihre Welt war ein einziger Umstand bestimmend: Der Kalte Krieg […]. Für sie existierten Völker nur als Schlachtfelder in einem weltweiten agonalen Kampf. Wichtig war einzig und allein, wie entschieden das jeweilige Land die Vereinigten Staaten unterstützte und der Sowjetunion Widerstand leistete.«(36) Als ihm der chilenische Außenminister Valdés vorwarf, er habe von der südlichen Halbkugel keine Ahnung, erwiderte Kissinger: »Nein, und es ist mir auch egal. Aus dem Süden kann nichts Bedeutendes kommen. Im Süden hat sich nie etwas Historisches zugetragen. Die Achse der Geschichte verläuft von Moskau durch Bonn hinüber nach Washington und dann weiter nach Tokio. Was im Süden passiert, ist unwichtig.«(37) Geschichte wird nur von den großen, imperialen Staaten gemacht. Deshalb »interessiere [ich] mich nicht für den südlich der Pyrenäen befindlichen Teil der Welt und weiß auch nicht das Geringste darüber«.(38) Hinter den nationalen Befreiungsbewegungen im Süden wurde nur die Hand Moskaus vermutet. Und um deren Einfluss zurückzudrängen, musste er sich gezwungenermaßen mit dem Süden auseinandersetzen.

Das Ideal des heroischen Staatsmannes

So wie die Länder des Südens aus dem Politikverständnis Kissingers weitgehend ausgeschlossen waren, so erging es auch der eigenen Bevölkerung. Politik war nur etwas für Eliten. Politischen Basisbewegungen wie der Bürgerrechtsbewegung der Schwarzen und der Bewegung gegen den Vietnam-Krieg stand er nur mit Verständnislosigkeit gegenüber. Sein Politikverständnis orientierte sich an dem platonischen Ideal des Philosophenkönigs. Nur war an dessen Stelle jetzt der »Staatsmann« getreten, der aufgrund seiner »Bildung« die Wahrheit seiner Zeit erkannte und den Mut hatte, daraus die notwendigen Konsequenzen im Interesse der »Freiheit« zu ziehen. Bismarck und Metternich repräsentierten für Kissinger den Idealtypus des heroischen Staatsmannes. Dieser hat die Aufgabe, alle Optionen rücksichtslos auszuloten, um die Spielräume der eigenen Nation zu erhöhen. In den fehlenden Handlungsoptionen, vor allem in Bezug auf den Einsatz von Atomwaffen, lag für ihn in den 1950er Jahren die Schwäche der USA begründet. Einen Atomkrieg wieder führ- und gewinnbar zu machen, war für ihn und die politische Klasse die zentrale Frage. Sein Buch Kernwaffen und auswärtige Politik (39) wurde zu einem Bestseller. Wegen seiner Obsession für den Einsatz der Atombombe war er für Stanley Kubrick einer der größenwahnsinnigen »Mad-Scientists«. Diese dienten ihm als Vorlage für seinen Film Dr. Seltsam oder Wie ich lernte, die Bombe zu lieben.(40)

Kissingers Politikverständnis orientierte sich immer an den Bedürfnissen und Interessen der weißen Eliten. Dies zeichnete sich durch einen verinnerlichten Besitzindividualismus aus. Ein globales Sendungsbewusstsein, gepaart mit Unverständnis, wenn nicht Verachtung gegenüber politischen Basisbewegungen waren selbstverständlicher Teil dieser politischen Kultur.(41) Gepflegt wurde dieses Politikverständnis vor allem an der Eliteuniversität Harvard, an der Kissinger 1947 mit dem Studium begann und danach als bekannter Wissenschaftler arbeitete. Harvard war das Treibhaus für den Elitenachwuchs. Harvard war auch das wissenschaftliche Zentrum des Kalte-Krieg-Universums. Dort gab es einen ständigen Kontakt zwischen Militärs, Politikern und Wissenschaftlern.(42)

Die Menschenrechte

Welche Rolle spielen für Kissinger die Menschenrechte, auf die er immer wieder Bezug nimmt? Mit dieser Frage beschäftigt er sich am intensivsten in seinem Vortrag »Kontinuität und Wandel in der amerikanischen Außenpolitik«, den er am 19. September 1977 an der New York University hielt.(43) Zwar gesteht er darin zu, dass die Menschenrechte in der Außenpolitik eine wichtige Rolle spielen sollten. In einer nicht perfekten Welt seien die Menschenrechte aber letztlich der Interessenspolitik nachgeordnet. »Wenn es zur Entscheidung kommt, wird ein bloßes Bekenntnis dazu nicht genügen. Außenpolitik muss immer an praktischen Erfolgen gemessen werden.«(44) Praktischer Erfolg hieß Sieg über den Kommunismus – um (fast) jeden Preis. Wer dazu einen Beitrag leistete, sei willkommen, sei es das Apartheid-Regime in Südafrika oder die Diktaturen in Chile, Argentinien, Griechenland, Indonesien oder wo auch immer auf der Welt.

Um diese Diktaturen mit der nach außen vertretenen Politik der Verbreitung von Freiheit und Menschenrechten in Einklang bringen zu können, bedient sich Henry Kissinger eines semantischen Tricks. Er unterscheidet zwischen autoritären und totalitären Regimen. Totalitäre Regime unterdrückten die Menschenrechte am massivsten. Kein totalitäres Regime habe sich im Unterschied zu autoritären Regimen – Spanien, Griechenland und Portugal – in eine Demokratie verwandelt. »Wir müssen deshalb moralisch zwischen dem aggressiven Totalitarismus und anderen Regierungen unterscheiden, die trotz all ihrer Unvollkommenheiten versuchen, dem Druck oder der Subversion von außen Widerstand zu leisten, und die damit dazu beitragen, das Gleichgewicht der Kräfte zum Besten aller freien Völker zu bewahren. […] Natürlich gibt es Verletzungen der Menschenrechte, die sich durch keine wirkliche oder angebliche Notwendigkeit rechtfertigen lassen. Es gibt aber auch reale Bedrohungen, denen die Nationen ausgesetzt sind, und zwar entweder durch den Terrorismus im eigenen Land wie in Argentinien oder durch mögliche Aggressionen von jenseits der Grenzen wie im Iran oder in Korea.«(45) Die Alternative zu autoritären Regimen sei noch stärkere Unterdrückung. Moralischer Isolationismus würde »mit Sicherheit ungezählte Millionen zu größerem Leiden, größeren Gefahren oder Verzweiflung verdammen.« Diese Argumentationsfigur hält er bis heute durch: Es war zwar nicht alles gut, was gemacht worden sei, aber bei einem anderen Handeln wäre alles noch viel schlimmer geworden. Deshalb sei letztendlich auch den Menschenrechten gedient worden. Mit dieser Logik kann man jede Art von Politik legitimieren. Darum konnte er die Pinochet-Diktatur und alle anderen Diktaturen unterstützen. Auch den Angriff auf den Irak begründete er so. Selbst dem rassistischen Regime in Südafrika versicherte er immer wieder seine Solidarität. Für Kissinger standen Südafrika und die USA vor denselben inneren und äußeren Bedrohungen. Nur die taktischen Mittel zur Bekämpfung dieser Bedrohungen würden sich unterscheiden.(46)

Auch bezüglich Vietnam finden wir diese Argumentation bei Kissinger. Die Nordvietnamesen und der Vietcong sind für ihn an der Eskalation des Krieges schuld, im kambodschanischen Grenzgebiet wohnten keine Kambodschaner, sondern nur vietnamesische Guerillakämpfer; außerdem wollte man »der Bevölkerung Südvietnams nur die Möglichkeit geben, selbst über ihr Schicksal zu entscheiden«.(47) Bis heute weigert sich Kissinger, für die völkerrechtswidrige Bombardierung die politische Verantwortung zu übernehmen. Auf die Frage des Zeit-Magazins »Was bereuen Sie? Welche Fehler haben Sie gemacht? Die Bombardierung Kambodschas, zum Beispiel: War das nicht ein furchtbarer Fehler?«, antwortet Kissinger: »Nein, ich glaube nicht, dass es ein Fehler war.« Und als die Interviewer nachhaken: »Die Intervention stürzte das Land ins Chaos. Am Ende übernahm Pol Pot die Macht und errichtete sein Terrorregime«, wird es Kissinger zu bunt: »Offen gestanden: Als ich diesem Interview zustimmte, […] bin ich nicht davon ausgegangen, dass es zu einer Inquisition werden würde über Ereignisse, die vier Jahrzehnte zurückliegen.«(48)

Das Idol

Nichts von diesen Auseinandersetzungen findet sich in dem Buch Die Kissinger Saga. Walter und Henry Kissinger. Zwei Brüder aus Fürth der Mitarbeiterin des Bayerischen Rundfunks Evi Kurz wider. Es ist das jüngste Beispiel der hier üblichen Kissingerverehrung. Lediglich das Kapitel über das Leben der Familie Kissinger in Fürth vor und während der Naziherrschaft ist informativ. Mit viel Sympathie beschreibt sie den Lebensweg der beiden Brüder und der jüdischen Familie. Sie informiert die Leser über die Kindheit und das jüdische Leben in Fürth und der Region. Sie beschreibt, wie nach der Machtübernahme der Nazis die Spielräume der Familie nach und nach eingeengt wurden. 1938 gelang es der Familie gerade noch, vor dem antisemitischen Terror der Nazis zu fliehen. Als Soldat der US-amerikanischen Armee betrat Henry Kissinger wieder den Boden Deutschlands. Bei der Verfolgung von Nazis und dem Aufbau von Verwaltungsstrukturen zeigten sich schon bald seine herausragenden organisatorischen Fähigkeiten. Deswegen gelang ihm nach dem Krieg eine einmalige wissenschaftliche und politische Karriere, die 1969 mit der Ernennung zum Sicherheitsberater von Präsidenten Nixon und 1973 zum Außenminister ihre Höhepunkte fand.

Ärgerlich wird das Buch von Kurz überall dort, wo es um die politische Verantwortung von Henry Kissinger geht. Sie verklärt ihr Idol regelrecht. Alles was nicht in dieses verklärte Bild passt, wird von ihr – wo immer möglich – ausgeklammert. Nichts soll das Bild eines bewundernswerten Menschen stören. Die Vorwürfe, die ihm von Menschenrechtsgruppen gemacht werden, werden bestenfalls angedeutet und dann sofort relativiert.

»Die Bilanz der acht Jahre, in denen Henry Kissinger an den Schaltstellen der Macht sitzt, ist nicht unumstritten. Wie könnte es bei einem führenden Außenpolitiker der amerikanischen Weltmacht anders sein?« Kurz erwähnt zwar, dass es bei der Verleihung der Ehrendoktorwürde 1988 wegen der »Kriegführung in Vietnam und Kambodscha« und der »problematischen Aktivitäten der USA in Südamerika, beispielsweise im Umfeld des Sturzes von Chiles Präsident Salvador Allende« auch kritische Stimmen gab. Und schließlich merkt sie an, dass sich »Legionen von Journalisten, Politikwissenschaftlern und Historikern an seiner Demontage« versuchen, weil »es auch im Leben dieses Politikers problematische, jedenfalls umstrittene Kapitel gibt«.(49) Mehr erfahren wir zu diesen heiklen Kapiteln bei Kurz aber nicht.

Im Lichte des Weltenlenkers

Statt einer solch unkritischen Kissinger-Apologie wäre es an der Zeit für eine kritische Auseinandersetzung mit der »bedeutendsten und prominentesten Persönlichkeit, die die Kleeblattstadt [Fürth, Anm. d. Verf.] je hervorgebracht hat«.(50) Dass Kissinger die politische und moralische Mitschuld für eine Reihe von Verbrechen trägt, kann angesichts der Fakten nicht bestritten werden. Ebenso wenig, dass er eine Reihe von Gesetzen gebrochen hat. Sollte er deshalb vor Gericht? Nach einer sorgfältigen Sichtung der relevanten Verstöße gegen Kriegsund Menschenrechte kommt die Juristin Nicole Barrett zu der Ansicht, dass die Frage nach der strafrechtlichen Schuld eindeutig mit »Ja« zu beantworten ist.(51) Auch der Chefankläger der Nürnberger Prozesse, Telford Taylor, kam schon 1971 zu dem Ergebnis, dass nach dem Maßstab von Nürnberg die politisch Verantwortlichen in den USA für den Vietnamkrieg als Kriegsverbrecher verurteilt werden müssten.(52) Für Reinecke liegt es weder an den Fakten noch an der Rechtslage, dass ein Verfahren gegen Kissinger so »irreal erscheint […]. Unvorstellbar ist es, weil es politisch inopportun erscheint«.(53)

Die Stadt Fürth wird nach Lage der Dinge nicht den Mut zu dem Eingeständnis haben, dass die Verleihung der Ehrenbürgerwürde an Kissinger für sein »politisches Lebenswerk« falsch war.(54) Nicht einmal eine unabhängige Historikerkommission wird man mit der Untersuchung der Vorwürfe beauftragen. Zu sehr sonnt man sich im Lichte dieses »Weltenlenkers«(55) und hat sich auf eine unkritische Bewunderung eingeschworen.

Wir danken dem Antogo Verlag für die Genehmigung zur Veröffentlichung Der Beitrag stammt aus: nurinst 2008 – Beiträge zur deutschen und jüdischen Geschichte, Schwerpunktthema: Entrechtung und Enteignung, Jahrbuch des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts

Anmerkungen:

(1) www.fuerth.de/Desktopdefault.aspx/tabid-106/149_read-842/ (31. August 2008).
(2) Der Film wurde am 3. April 2006 in der Reihe BBC-Four Documentaries ausgestrahlt. »Henry Kissinger is a war criminal«, says firebrand journalist Christopher Hitchens. »He is a liar. And he’s personally responsible for murder, for kidnapping, for torture.« www.bbc.co.uk/bbcfour/documentaries/features/feature_ kissinger.shtml/ (20. August 2008).
(3) Bernd Greiner, Krieg ohne Fronten. Die USA in Vietnam, Hamburg 2007; Evi Kurz, Die Kissinger Saga. Walter und Henry Kissinger. Zwei Brüder aus Fürth, Fürth 2007; Jeremi Suri, Henry Kissinger and the American Century, Cambridge 2007.
(4) Seymour M. Hersh, Tue price of power. Kissinger in the Nixon White House, New York 1983.
(5) Das Massaker in My Lai (eigentlich Son My) gilt als Inbegriff für die Verbrechen der USA in Vietnam. Am 16. März 1968 wurden 503 Zivilisten, darunter 172 Kinder, von den US-Militärs regelrecht abgeschlachtet. Nur der Hubschrauberpilot Hugh Tuompson und seine Besatzung verweigerten eine Beteiligung an diesem Gemetzel. Sie konnten elf Frauen und Kinder retten. Dafür galt er in den USA 30 Jahre lang als Verräter. Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 523. Lediglich der hauptverantwortliche Offizier Calley erhielt 1971 Hausarrest, wurde aber 1974 begnadigt. Abu Ghraib ist eine Stadt im Irak. Im Mai 2004 gelangten Berichte und Fotos in die Medien, die belegen, dass US-amerikanische Militärund Geheimdienstmitarbeiter Gefangene im Abu-Ghraib-Gefängnis gefoltert hatten.
(6) Christopher Hitchens, Die Akte Kissinger, Stuttgart 2001, S. 9. Beim Irak-Krieg 2003 hat sich Hitchens zusammen mit Kissinger auf die Seite der Kriegsbefürworter geschlagen. Der Gehalt seiner Argumente wird dadurch jedoch nicht relativiert.
(7) Wolfgang Kaleck, Wer bringt Kissinger vor Gericht?, in: www.rav.de/infobrief89/ kaleck3.htm (31. August 2008). Dieser Text erschien auch in: www.sopos.org/ossietzky/ausgabe.php3?id=18 (31. August 2008).
(8) Stefan Reinecke, Pinochet, Milosevic und – Kissinger, www.tagesspiegel.de/politik/;art771,2049324 (13. Juni 2001).
(9) Stefan Schaaf, 500 000 Tote für den Wahlkampf, in: taz vom 18. Juni 2001. www.taz. de/index.php?id=archivseite&dig=2001/06/18/a0126 (31. August 2008).
(10) Kissinger-Watch Vol. 1–16, www.icai-online.org/45365,45370.html (31. August 2008).
(11) Aus Platzgründen können im Folgenden Bangladesh und Zypern nicht behandelt werden. Zu den Hintergründen siehe Hitchens, Die Akte Kissinger, S. 77 ff. u. S. 129 ff.
(12) Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 19.
(13) Volker Ullrich, Der amerikanische Albtraum, in: Die Zeit vom 11. Oktober 2007.
(14) Als Maßstab für den Erfolg der Kriegsführung wurde unter Kriegsminister McNamara der »Body Count« als Vorgabe eingeführt: Je höher die Zahl der erschossenen feindlichen Vietcong, umso erfolgreicher die Kriegsführung. Als Vietcong wurden auch die erschossenen Frauen, Kinder und Alten gezählt.
(15) Eigentlich war Vietnam strategisch für die USA unwichtig. Seine Bedeutung erhielt es durch die Dominotheorie. Wenn ein Land – so die Tueorie – in den Einflussbereich der Sowjetunion fallen würde, würden auch andere Länder wie Dominosteine umfallen und damit dem Westen verloren gehen. Deshalb musste dies unter allen Umständen vermieden werden. Zu den Hintergründen des Krieges: Jonathan Neale, Der amerikanische Krieg. Vietnam 1960–1975, Bremen/Köln 2004.
(16) Bernd Greiner, Nicht aufhören können. Die Vietnampolitik Richard Nixons als Paradigma des Kalten Kriegs, in: Mittelweg 36, 14. Jg. Nr. 6 (2005), S. 29–48. Auch www.eurozine.com/articles/2006-01-03-greiner-de.html (31. August 2008).
(17) Zit. nach: Hitchens, Die Akte Kissinger, S. 66.
(18) Kambodscha, in: Die Zeit vom 15. Juli 1980. Auch www.zeit.de/1980/31/Kambodscha (31. August 2008). Die Bombardierung von Kambodscha ermöglichte schließlich die Machtübernahme der Roten Khmer unter Pol Pot, die dann ihr bekanntes Terrorregime installierten. Pol Pot wurde lange Zeit von den USA, Großbritannien und anderen westlichen Staaten unterstützt.
(19) Greiner, Nicht aufhören können, S. 10.
(20) Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 399.
(21) Ebd., S. 396 ff.
(22) Soweit nicht anders vermerkt, entstammen die Zitate in diesem Kapitel Stephen Kinzer, Putsch! Zur Geschichte des amerikanischen Imperialismus, Frankfurt a. M. 2007, S. 269 ff.
(23) Der Fall Horman diente als Vorlage für den Film »Missing« (1982) von Costa Gavras.
(24) Harald Imberger, Grünes Licht vom »Doktor«. Henry Kissingers chilenische Vergangenheit, in: Freitag vom 16. März 2001. Auch www.freitag.de/2001/12/01120901. htm (31. August 2008).
(25) www.tagesschau.de/ausland/meldung77018.html (31. August 2008). Die Anzeige wurde am 11. September 2001, dem 28. Jahrestag der Ermordung Allendes, erstattet. Da am selben Tag die Terroranschläge gegen das World-Trade-Center in New York erfolgten, wurde diese Anzeige in der Öffentlichkeit kaum publik.
(26) Wolfgang Kaleck, Wer bringt Kissinger vor Gericht?
(27) Indonesien erhielt in Osttimor freie Hand, weil die Diktatur Suhartos einer der treuesten Verbündeten in Ostasien und von strategischer Bedeutung war. Zur Bedeutung Indonesiens für die USA und den Vietnamkrieg: Neale, Der amerikanische Krieg, S. 88 ff.
(28) Über den geistespolitischen Hintergrund Kissingers informiert ausführlich Suri, Henry Kissinger and the American Century. Für Suri haben auch die Erfahrungen unter der Nazi-Diktatur große Bedeutung für Kissingers Politik. Wie groß dieser Einfluss tatsächlich war, ist bis heute umstritten. Kissinger selbst hat ihn mehrfach stark relativiert.
(29) 1947–1956, benannt nach dem Senator Joseph McCarthy.
(30) Manfred Berg, Die innere Entwicklung. Vom Zweiten Weltkrieg bis zur Watergate-Krise 1974, in: Willi P. Adams/Peter Lösche (Hg.), Länderbericht USA. Geschichte – Politik – Geographie – Wirtschaft – Gesellschaft – Kultur, Frankfurt a. M. 1998, S. 153 ff.
(31) Suri, Henry Kissinger and the American Century, S. 128.
(32) Ebd., obwohl er Kissinger ansonsten positiv charakterisiert.
(33) Stanley Hoffmann, Tue Kissinger Antimemoirs. Rezension von »Tue Price of Power. Kissinger in the Nixon White House« by Seymour M. Hersh, in: New York Times vom 3. Juli 1983. Auch http://query.nytimes.com/gst/fullpage.html?r es=950DEED91639F930A35754C0A965948260&sec=&spon=&pagewanted=5 (31. August 2008).
(34) Seymour M. Hersh, Die Brüchigkeit der Demokratie. Rede aus Anlass des Demokratiepreises der Blätter für deutsche und internationale Politik am 26.09.2007, in: Blätter für deutsche und internationale Politik, 11 (2007), S. 1360.
(35) Henry A. Kissinger, Die weltpolitische Lage. Reden und Aufsätze, München 1983, S. 125.
(36) Kinzer, Putsch!, S. 303. 37 Ebd., S. 302.
(37) Ebd., S. 302.
(38) Ebd., S. 272.
(39) Henry A. Kissinger, Kernwaffen und auswärtige Politik, München 1959.
(40) Willi Winkler, Der seltsame Doktor Anthrax, in: Süddeutsche Zeitung vom 16./17. August 2008, Wochenendteil. Weitere »Vorbilder« waren Edward Teller, der Vater der Neutronenbombe, und Wernher von Braun, der maßgeblich für das Bombenprogramm der Nazis verantwortlich war.
(41) Zum Verständnis der überragenden Bedeutung dieses Sendungsbewusstseins und des Besitzindividualismus für das Selbstverständnis der Eliten: Samuel P. Huntington, Who are we? Die Krise der amerikanischen Identität, Hamburg 2004.
(42) Suri, Henry Kissinger and the American Century, S. 292 ff.
(43) Kissinger, Die weltpolitische Lage, S. 77–98. 44 Ebd., S. 90.
(44) Ebd., S. 90.
(45) Ebd., S. 92.
(46) Suri, Henry Kissinger and the American Century, S. 240.
(47) Christoph Amend/Matthias Naß, Bilanz eines Beraters. Gespräch mit Henry Kissinger über Vietnam, Irak und andere Irrtümer, in: ZEITmagazin LEBEN vom 28. Juni 2007. Auch www.zeit.de/2007/27/Kissinger (31. August 2008). Dass die südvietnamesische Befreiungsbewegung FNL bei freien Wahlen einen überwältigenden Wahlsieg errungen hätte, war auch den US-amerikanischen Militärs klar. Die Behauptung Kissingers, man habe mit der Bombardierung nur der Selbstbestimmung der Völker zu seinem Recht verhelfen wollen, ist deshalb Zynismus.
(48) Ebd.
(49) Kurz, Die Kissinger Saga, S. 157, 185, 188.
(50) www.fuerth.de/Desktopdefault.aspx/tabid-106/149_read-842/ (31. August 2008).
(51) Nicole Barrett, Holding individual leaders responsible for violations of customary international law. Tue US bombardement of Cambodia and Laos, in: Columbia Human Rights Law Review, 32 (2001), S. 429–476.
(52) Hitchens, Die Akte Kissinger, S. 47–58; Greiner, Krieg ohne Fronten, S. 138. Telford Taylor kritisierte in seinem Buch Nuremberg and Vietnam. An American Tragedy, New York 1970, die gesamte politische und militärische Führung. Vor diesem Hintergrund ist es nur schwer nachvollziehbar, warum sich die Kritik fast ausschließlich auf Kissinger konzentriert. Sicher, er ist der höchste noch lebende Repräsentant der Nixon-Administration. Aber wieso sich die Kritik nicht in derselben Schärfe auch gegen McNamara, den Verteidigungsminister in der JohnsonAdministration, dem Propagandisten des »body count«, wendet, bleibt zumindest erklärungsbedürftig.
(53) Reinecke, Pinochet, Milosevic und – Kissinger.
(54) Warum hat man ihn nicht einfach für seinen Kampf gegen die Nazis geehrt? Kein Mensch hätte dagegen Einwände erheben können. Der Abschluss eines Friedensvertrages in Vietnam ist kein Gegenargument. Die Rolle Kissingers für den Frieden in Vietnam wird völlig überschätzt. Es gab schlicht und einfach keine Alternative dazu. Die Kampfmoral im Heer und in der Luftwaffe war am Boden. Viele Soldaten hatten aufgehört zu kämpfen. Das »Fragging«, also die Bedrohung und Tötung von Offizieren mit Korpsgeist war an der Tagesordnung. Laut realistischen Schätzungen wurden über 1.000 Unteroffiziere und Offiziere von den eigenen Soldaten getötet. »Drei Bewegungen hatten die amerikanische herrschende Klasse geschlagen – die amerikanische Friedensbewegung, die Revolte der GIs und die Bauernguerilla«, schreibt Neale deshalb völlig zu Recht. Neale, Der amerikanische Krieg, S. 191.
(55) Amend/Naß, Bilanz eines Beraters.