Massenmörder und ihre „Erinnerungslücken“

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Vor genau 60 Jahren begann im Frankfurter Römer der bis dato größte Strafprozess der deutschen Nachkriegsgeschichte. 19 SS-Männer des ehemaligen Vernichtungslagers Auschwitz sowie ein Funktionshäftling saßen dort auf der Anklagebank.

Von Ralf Balke

„Strafsache gegen Mulka und andere“ – so lautet die offizielle Bezeichnung des Prozesses, der am 20. Dezember 1963 im Plenarsaal des Stadtparlaments von Frankfurt am Main begann. Was mit diesen relativ harmlos klingenden Worten etikettiert wurde, sollte ein Mammut-Verfahren gegen ursprünglich 24 Männer werden, die in den Jahren vor 1945 als Angehörige der SS oder – wie in dem Fall Emil Bednarek als Funktionshäftling – an der Ermordung von Menschen im Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz beteiligt waren. 183 Verhandlungstage dauerte es, bis schließlich in diesem größten Prozess der deutschen Nachkriegsgeschichte, bei dem unter anderem 360 Zeugen, darunter 211 Überlebende aus Auschwitz, vor Ort angehört wurden, am 19. August 1965 zu Ende ging und das Frankfurter Schwurgericht die Urteile verkündete.

„Der öffentlichkeitswirksame Prozess bewirkte in der Bundesrepublik politisch wie gesellschaftlich eine Zäsur im Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit und in der Wahrnehmung des Holocaust“, schreibt dazu die Historikerin Dagi Knellessen in der „Enzyklopädie jüdischer Geschichte und Kultur“. Und seine Relevanz beweist die Tatsache, dass die Prozessakten mitsamt den Tonbandaufnahmen 2017 in die Liste des Weltkulturerbes der UNESCO aufgenommen wurden.

Selbstverständlich hatte auch der Auschwitz-Prozess eine Vorgeschichte. Da ist zum einen der Ulmer Einsatzgruppen-Prozess von 1958, das erste Verfahren nach jahrelanger Untätigkeit gegen Akteure der Schoah, in diesem Fall zehn Männern, die auf dem Territorium des heutigen Litauens Tausende Jüdinnen und Juden ermordet hatten, wobei sämtliche Angeklagten wegen der „Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord“ zu Haftstrafen zwischen drei und 15 Jahren verurteilt wurden. Infolge gründeten wenige Monate nach der Urteilsverkündigung die Justizminister der Bundesländer die bis heute existierende Zentrale Stelle zur Aufklärung nationalsozialistischer Verbrechen in Ludwigsburg, die auf Basis systematischer Quellenauswertung Vorermittlungen führt und so den zuständigen Staatsanwaltschaften unter die Arme greift – so auch der in Frankfurt am Main.

Zum anderen hatte bereits am 1. März 1958 der Auschwitz-Überlebende Adolf Rögner in Stuttgart Anzeige wegen mehrfachen Mordes gegen SS-Oberscharführer Wilhelm Boger, einem Angehörigen der Lager-Gestapo, erstattet. Doch weil die Ermittlungsbehörden wie so oft wenig Motivation zeigten, ein Verfahren einzuleiten, nahm sich das Internationale Auschwitz Komitee (IAK) der Sache an, machte Zeugen und belastende Dokumente ausfindig, weshalb Wilhelm Boger schließlich im Oktober 1958 verhaftet wurde. Als eine andere wichtige Person in diesem Kontext sollte sich der Journalist Thomas Gnielka erweisen, der von dem ehemaligen KZ-Häftling Emil Wulkan eine aus den Trümmern des SS- und Polizeigerichts XV. Breslau gerettete Akte über „auf der Flucht erschossene“ KZ-Insassen erhielt, die ebenfalls zahlreiche SS-Angehörige namentlich nannte, die in Auschwitz tätig waren, und diese Fritz Bauer zur Verfügung stellte, dem damaligen Hessischen Generalstaatsanwalt, der die Ermittlungen der Frankfurter Staatsanwaltschaft leitete.

Fritz Bauer, selbst Jude und ein Verfolgter des Nationalsozialismus, der sich rechtzeitig nach seiner Haft Richtung Skandinavien absetzen konnte, und 1949 nach Deutschland zurückgekehrt war, verfügte schon bald über mehr als 850 Namen von Personen, die als SS-Männer in Auschwitz tätig waren. Was ihm vorschwebte, war ein Prozess zu dem Konzentrations- und Vernichtungslager, der, basierend auf umfangreichen Quellen und Zeugenaussagen, die Funktion von Auschwitz in seiner Gesamtheit aufarbeiten sollte. Zur Sprache sollte dabei die Techniken des Mordens, Selektionen oder auch die berüchtigten medizinischen Versuche kommen – ein ambitioniertes Vorhaben. Bald schon gab es eine Anklageschrift, die über 700 Seiten lang war und in der 24 Personen des mehrfachen Mordes beschuldigt wurden. Die Zahl der Personen, die letztendlich auf der Anklagebank saßen, reduzierte sich jedoch peu à peu. So verstarb einige Monate vor dem 20. Dezember 1963 Richard Baer, der letzte Kommandant von Auschwitz in der Untersuchungshaft, zwei weitere wurden aufgrund ihres Gesundheitszustands als nicht verhandlungsfähig erklärt und ein vierter Angeklagter aus dem Verfahren herausgenommen und in einem anderen Prozess verurteilt.

Hauptangeklagter war der SS-Mann Robert Mulka, der als „Adjutant“ und „Stabsführer“ des sogenannten Kommandanturstabs so etwas wie die rechte Hand des Auschwitz-Lagerkommandanten Rudolf Höß agiert hatte und die Erweiterung des Komplexes in ein Vernichtungslager vorantrieb. Weil er auch der Älteste war, der in Frankfurt am Main auf der Anklagebank saß, trug das Verfahren auch die Bezeichnung „Strafsache gegen Mulka und andere“. Von Anfang an jedoch unterschied das Gericht zwischen Tätern und Gehilfen, was sich später dann auch bei der Urteilsverkündigung bemerkbar machte. Den Auftakt bildeten die Anhörungen der Angeklagten. Sie alle verfolgten dabei die gleiche Strategie: Man berief sich auf Befehlsnotstand und präsentierte sich selbst als Opfer des SS-Apparates. Die Tatsache, dass in Auschwitz ein industrieller Massenmord verübt wurde, stellten die Angeklagten bemerkenswerter nie infrage, nur leugneten sie die persönliche Beteiligung oder sprachen immer wieder von „Erinnerungslücken“. Weder zeigte einer von ihnen Reue oder Scham, noch gab es die Spur eines Unrechtsbewusstseins. Von sich selbst sprachen die SS-Männer als „einfache Soldaten“ – sogar Robert Mulka behauptete, niemandem Leid zugefügt zuhaben, schließlich sei er nur ein „alter Soldat“ gewesen. Dem Staatsanwalt Joachim Kügler platzte angesichts dieser offensichtlichen Lügen der Krage, woraufhin er gegenüber Robert Mulka sagte: „Sie waren kein Soldat, Sie haben einem uniformierten Mordkommando angehört!“ Unterstützt wurden die Angeklagten von 21 Rechtsanwälten, von denen nicht wenige selbst eine nationalsozialistische Vergangenheit hatten oder im neonazistischen Umfeld aktiv waren.

Am 24. Februar 1964 begann vor dem Frankfurter Schwurgericht dann schließlich die Beweisaufnahme. Unter den 360 vorgeladenen Zeugen befanden sich Funktionäre des NS-Regimes, beispielsweise Heydrichs-Stellvertreter Werner Best oder die frühere I. G.-Farben-Vorstandsmitglieder Otto Ambros, Walther Dürrfeld und Carl Krauch. Angereist waren aber auch 211 Auschwitz-Überlende aus Israel oder den Vereinigten Staaten, darunter ebenfalls 100, die ihren Wohnsitz jenseits des Eisernen Vorhangs hatten, was an sich schon eine kleine Sensation darstellte. Für viele von ihnen stellte es eine enorme psychische Herausforderung dar, über das Erlebte zu sprechen und mit ihren Peinigern nach rund 20 Jahren erneut konfrontiert zu werden. Vor allem die Anwälte der Angeklagten behandelten sie ohne Rücksicht auf das Geschehene, herablassend und mitunter bedrohlich. Ferner hinzugezogen wurden Sachverständige, darunter mehrere prominente Historiker, die sich um die Kontextualisierung der Verbrechen bemühten. Ein Richter sowie mehrere Staatsanwälte und Vertreter der Nebenkläger reisten sogar nach Auschwitz, um sich eine genauere Bild zu verschaffen – auch das ein Novum, wenn man bedenkt, dass der Kalte Krieg in diesen Jahren besonders bedrohlich war.

Am Ende forderte die Staatsanwaltschaft die Höchststrafe, und zwar lebenslänglich Zuchthaus, für 16 der Angeklagten, zwei weitere sollten zwölf Jahre erhalten, die übrigen freigesprochen werden. Doch die Urteile, die am 19. August 1965 schließlich verkündet wurden, sahen anders aus. Nur sechs von ihnen erhielten als Strafe lebenslänglich Zuchthaus sowie einige zusätzliche Jahre, ferner gab es drei Freisprüche aus Mangel an Beweisen. Robert Mulka erhielt für „Gemeinschaftliche Beihilfe zum gemeinschaftlichen Mord in vier Fällen mit mindestens 3.000 Menschen“ 14 Jahre Zuchthaus. Die übrigen kamen mit Freiheitsstrafen zwischen 3 Jahren und drei Monaten bis zehn Jahren davon, wobei einige vorzeitig wieder entlassen wurden, beispielsweise Hans Stark, der im Prozess zugegeben hatte, Menschen erschossen und Zyklon B in die Gaskammern geworfen zu haben. Zu zehn Jahren Haft verurteilt, wurde er bereits 1968 wieder auf freien Fuß gesetzt. „Juristisch zweifelsfrei als Mord in Täterschaft beurteilte das Gericht nahezu ausschließlich die sogenannten Exzess-Taten, die außerhalb des organisierten Prozesses der Massenvernichtung nachgewiesen werden konnten, wodurch die zusammenwirkende Tatbeteiligung am verwalteten Massenmord in den Hintergrund rückte und das verbreitete verzerrte Bild des abnormen, pathologischen NS-Täters gestützt wurde“, lautet dazu die Einschätzung von Dagi Knellessen.

Heute würde die Justiz Personen, die damals bei der industriellen Massenvernichtung mitgewirkt hatten, definitiv anders zur Rechenschaft ziehen, weil man dazu übergegangen ist, auf den individuellen Tatnachweis zu verzichten. Allein Teil der Maschinerie gewesen zu sein, soll ausreichen, um eine hohe Strafe zu erhalten – so wie im Fall von Iwan Demjanjuk, der zur Hilfsmannschaft im Vernichtungslager Sobibor gehörte und 2011 in München vor Gericht stand. Doch kommt dieser Schwenk reichlich spät – schließlich waren zu diesem Zeitpunkt bereits so gut wie alle Täter tot.

Und trotz der Kritik, die man an den zu milden Urteilen aus dem Jahr 1965 haben kann, so bedeutete der Auschwitz-Prozess einen Bruch. Das, was in Frankfurt verhandelt wurde, sollte die Art und Weise, wie Debatten um die Vergangenheit geführt werden, nachhaltig prägen und beendete zugleich endgültig die lange Periode des Schweigens über NS-Verbrechen, die so typisch für das gesamtgesellschaftliche Klima der Adenauer-Ära war. Nicht zuletzt das enorme mediale Echo sowie die Tatsache, dass im Verlauf des Verfahrens etwa 20.000 Prozessbesucher gezählt wurden, hatten dazu geführt, dass Auschwitz und die Schoah stärker in das Bewusstsein der Nachkriegsöffentlichkeit rückten.

Bild oben: Fritz Bauer, Foto: Fritz Bauer Institut / A. Mergen

–> Tonbandmitschnitte des Auschwitz-Prozesses (1963–1965) – Fritz Bauer Institut