Das Pogrom im Berliner Scheunenviertel und die großen Arbeiterparteien
Von Olaf Kistenmacher
Unter veränderten Vorzeichen erhalten Ereignisse oft eine neue Bedeutung. Im November 1923 schrieb Rudolf Rocker in der Zeitschrift Der Syndikalist, dem Organ der Freien Arbeiterunion Deutschlands, unter der Überschrift „Antisemitismus und Judenpogrome“, dass „sogar eine der gefeiertsten kommunistischen Führerinnen“, die „selbst eine Jüdin“ sei, mit ihrem Auftritt vor rechtsextremen Studierenden im Sommer Judenhass geschürt habe. Das sei „einfach ein Verbrechen gegen den Geist des Sozialismus“:
„Auch hier sollte der Antisemitismus nur den Interessen einer Partei dienen, während er in der Wirklichkeit nur der Reaktion dient, wie die Erfahrung immer wieder bewiesen hat. In den deutschen Arbeiterkreisen hat man über die sogenannten Ostjuden noch immer eine ganz falsche Vorstellung. Neunzig Prozent der jüdischen Bevölkerung in Russland, Polen und den übrigen Staaten, die einstmals mit Russland vereinigt waren, sind Proletarier in des Wortes typischster Bedeutung.“
Wenige Tage bevor Rocker dies schrieb, hatte ein Mob über zwei Tage lang im Berliner Scheunenviertel gewütet. Vom 5. bis zum 7. November 1923 wurden Jüdinnen und Juden im Scheunenviertel gejagt, auf offener Straße überfallen, ausgezogen und beraubt. Geschäfte wurden attackiert, Randalierer drangen in Wohnungen ein, die von jüdischen Familien bewohnt waren. Ein Mitarbeiter der sowjetischen Nachrichtenagentur TASS schrieb in einer Mitteilung von rund 10.000 Personen, die sich an den Ausschreitungen beteiligt hätten. Andere Agenturen berichteten sogar von bis zu 30.000 Beteiligten. Die Polizei reagierte erst mit Verspätung.
Dass sich die Plünderungen gegen die jüdischen Bewohnerinnen und Bewohner des Berliner Scheunenviertels richteten, war offensichtlich. Nichtjüdische Geschäftsleute brachten in den Fenstern ihrer Läden Schilder an, auf denen sie sich als „christliche Kaufleute“ auswiesen, um sich vor versehentlichen Plünderungen zu schützen. Das Scheunenviertel-Pogrom war nicht die erste Manifestation antisemitischer Gewalt in der Weimarer Republik. Nach judenfeindlichen Krawallen in Preußen war es seit Oktober 1923 in Nürnberg, Oldenburg und anderen Städten zu Gewalttaten gekommen.
Für die pogromartigen Ausschreitungen im Scheunenviertel wurden völkische Agitatoren verantwortlich gemacht. So schrieb der Vorwärts am Morgen nach dem Gewaltausbruch, der „große Sturm auf das Berliner Judenviertel“ sei „sorgfältig und mit kühler Berechnung von deutschvölkischen Demagogen“ geplant worden. Allerdings gibt es für diese Deutung keine Beweise. Es ist ebenso möglich, dass der gewalttätige Mob von selbst wusste, wem er die Schuld für die ökonomische Krise geben wollte. Der Historiker Dirk Walter vermutet überdies, es hätte sich an dem Scheunenviertel-Pogrom „eher“ das „Klientel der Linksparteien“ als das Fußvolk völkischer Gruppierungen beteiligt. Für diese Vermutung spricht die Warnung, mit der sich der Vorwärts direkt an die eigene Leserschaft richtete:
„Arbeiter! Genossen! Durch Ausplünderung von Juden kommt Ihr der kapitalistischen Ausbeutung nicht bei. Wenn Kohn heute nicht mehr wuchern kann, wuchern morgen Thyssen und Stinnes umso mehr. Der jüdische wie der christliche Ausbeuter, der schwarze wie der weiße Jude werden erst fallen, wenn der Kapitalismus fällt. Nur ein wurzeltiefer Eingriff in die kapitalistische Ausbeutungswirtschaft kann das deutsche Volk retten.“
Karl Radek, Moskaus Vertreter in Deutschland, informierte das Exekutivkomitee der Kommunistischen Internationale sogleich über die „Pogrombewegung“ und versprach, noch am selben Abend würde er mit der KPD-Zentrale „aus diesem Anlaß Beschlüsse fassen“. Doch die Ereignisse überschlugen sich. Am 9. November unternahm Adolf Hitler mit seinen Gefolgsleuten einen erfolglosen Putschversuch in München. Ein weiterer Vertreter der russischen kommunistischen Partei in Deutschland, Jurij Pjatakow, schrieb am 13. November an Stalin: „Es bildet sich eine unerträgliche, durch und durch skandalöse Lage heraus: Regierungskrise, bayerischer Putsch, die Arbeitslosen zerstören die Läden, kleine Judenpogrome und dergleichen mehr und die Partei ist abwesend!“ Die KPD sah in dieser Zeit einem Verbot entgegen, die Rote Fahne konnte nur noch unregelmäßig erscheinen. Sie verurteilte das Pogrom ebenso wie der Vorwärts, erwähnte es aber unter der Überschrift „Zu Füßen der Landsknechtsdiktatur“ lediglich beiläufig: „Die eigene Physiognomie des untergehenden Kleinbürgertums trat nur in den Judenpogromen in ein paar Straßen des Berliner Ghettos zutage.“
Am 8. November 1923 machte der Vorwärts Ruth Fischer für die antisemitische Gewalt mitverantwortlich. Auf der Titelseite hieß es unter der Überschrift „Arme Betrogene! Judenhetze – Sozialistenhetze“:
„›Tretet die Judenkapitalisten nieder, hängt sie an die Laterne, zertrampelt sie.‹ Also sprach die kommunistische Führerin Ruth Fischer, alias Elfriede Friedländer, am 22. Juli 1923 in der Aula des Dorotheenstädtischen Realgymnasiums in Berlin vor nationalistischen Studenten und Studentinnen. Nieder mit den Juden, das ist auch das Geschrei der von der Schwerindustrie ausgehaltenen Deutschvölkischen. Die antisemitische Saat ist nun auch in Berlin aufgegangen.“
Wenig später warnte Rocker, es wäre „töricht“, „diese Vorgänge in ihrer Tragweite unterschätzen zu wollen. Hier waren verborgene Kräfte an der Arbeit, die durchaus nicht harmlos sind, sondern eine furchtbare Gefahr für die allernächste Zukunft dieses Landes bedeuten.“ Rocker war kein Jude. Aber seine Verbundenheit mit der jüdischen Minderheit in Europa währte schon länger. Seine Frau Milly Witkop stammte aus einer jüdischen Familie. Rocker hatte einige Jahre in London gelebt, dort ab 1898 die Zeitschrift Arbaiterfraint redaktionell betreut und für diese Aufgabe Jiddisch gelernt. Später bezeichnete er die Zeit unter den jüdischen Sozialistinnen und Sozialisten in London als „eine der fruchtbarsten meines Lebens“.
Um die nichtjüdische Linke in Deutschland zur Solidarität mit den Jüdinnen und Juden im Scheunenviertel zu bewegen, erinnerte Rocker 1923 daran, welche Unterstützung nichtjüdische Deutsche, die in London lebten, nach Ausbruch des Ersten Weltkriegs durch das jüdische Proletariat erfahren hätten. Als die britische Boulevardpresse gegen Deutsche gehetzt habe und „die fanatisierten Massen sich anschickten, Pogrome nicht auf die Juden, sondern auf die kleinen deutschen Geschäftsleute in London zu machen, da waren es organisierte jüdische Arbeiter, welche diesem Spuk entgegentraten und welche die kleinen deutschen Ladenbesitzer mannhaft verteidigten gegen die tätlichen Angriffe der Pogromhetzer“.
Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Verlags aus: Olaf Kistenmacher: »Gegen den Geist des Sozialismus«. Anarchistische und kommunistische Kritik der Judenfeindschaft in der KPD zur Zeit der Weimarer Republik. Ça-ira-Verlag, Freiburg/Wien 2023, 156 Seiten, 20 Euro, Bestellen?
Eine längere Fassung erschien unter dem Titel „Antisemitismus als ‚Klassenkampf’“ in: Jungle World 43, 2023
Bild oben: Scheunenviertel 1933, Foto: Bundesarchiv, Bild 183-1987-0413-501 / CC-BY-SA 3.0