Demografie und Gewalt

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Ein Modell zur Erklärung der Gewaltbereitschaft in Gaza

Von Gabriel Berger

Bei der Betrachtung des Konfliktes zwischen Israel und den arabischen Palästinensern[1] wird üblicherweise die demografische Komponente ausgeblendet. Über den immensen natürlichen Zuwachs der Bevölkerung, besonders in Gaza, wird meist nicht gesprochen, als sei er für den Konflikt irrelevant. Hier die konkreten Zahlen: Im Jahr 1947, dem Jahr des UN-Beschlusses über die Teilung Palästinas zwischen Arabern und Juden, lebten auf dem Gebiet des Gazastreifens etwa 200.000 Menschen. Heute sind es über 2,2 Millionen. Die Bevölkerung von Gaza hat sich zwischen 1947 und 2023 mehr als verzehnfacht und hat dabei eine höhere Besiedlungsdichte erreicht als Berlin. In der Westbank ist die Bevölkerung von etwa einer Million auf 3,2 Millionen gewachsen. Da der dramatische Bevölkerungszuwachs auf die hohe Geburtenrate zurückzuführen ist, wäre, besonders in Gaza, die Lage vermutlich auch dann explosiv, wenn es keinen Konflikt mit Israel gebe. Denn für eine so rasch wachsende Bevölkerung kann man selbst unter günstigen Bedingungen kaum genügend Arbeitsplätze schaffen. Das ist in der geschlossenen Enklave Gaza unter der Herrschaft der Hamas, die die Wirtschaft zugunsten der Aufrüstung zum Krieg gegen Israel sträflich vernachlässigt hat, völlig ausgeschlossen.

Es stellt sich die Frage, wie es angesichts der allgemein bekannten Perspektivlosigkeit und Massenarbeitslosigkeit in Gaza zu einem so hohen Zuwachs der Bevölkerung kommt, nämlich 2,8% pro Jahr, ähnlich dem in Teilen von Afrika. 80% der Bevölkerung von Gaza sind auf humanitäre Hilfe angewiesen, die Arbeitslosigkeit betrug 2022 bei Männern 39%, drei Viertel der Jugendlichen sind ohne Arbeit. Zum Vergleich: in der Westbank lag die Arbeitslosenquote bei Männern bei 11% und bei Jugendlichen bei 29%[2]. Die Verhältnisse in der Westbank sind folglich deutlich besser als in Gaza.

Der im Januar diesen Jahres verstorbene Experte für Demoskopie Gunnar Heinsohn[3] betrachtete die großzügige internationale Hilfe für Gaza als den Hauptgrund für die hohe Zuwachsrate der Bevölkerung, die angesichts fehlender ökonomischer Basis und der Massenarbeitslosigkeit von sich aus nicht in der Lage sein würde, Familien mit 6 bis 8 Kindern am Leben zu erhalten. Dagegen seien heute in Libanon, Algerien oder Tunesien weniger als zwei Kinder in der Familie die Regel. Man kann folglich, so schlussfolgerte Heinsohn, von einer wesentlichen Mitschuld  oder zumindest Mitverantwortung internationaler Hilfsorganisationen, hauptsächlich der UNRWA[4], an der prekären Lage der Bevölkerung von Gaza sprechen.[5] Die seit inzwischen 75 Jahren andauernde finanzielle Unterstützung der palästinensischen Bevölkerung, besonders in Gaza, ohne die Perspektive auf ein Ende, schaffte bei den Palästinensern eine dauerhafte Abhängigkeit von diesen Zuwendungen, ohne Arbeitsplätze zu schaffen und ohne Anreize, für die eigene Versorgung selbst sorgen zu müssen. Die Menschen seien in eine mehr oder weniger bequeme Versorgungsfalle geraten, in der die Verantwortung für ihre Existenz und besonders für ihre vielen Kinder an internationale Organisationen delegiert ist. Die so erzeugte Unmündigkeit der noch in der vierten Generation nach dem Krieg von 1948 zu Flüchtlingen erklärten Palästinenser kollidiert bei jungen Männern mit der in der arabischen Kultur kodierten Pflicht des Mannes, für die Versorgung der Familie zu sorgen. Ihre Männlichkeit können die jungen Männer nur durch die Beteiligung am Kampf gegen Israel unter Beweis stellen und damit auch gesellschaftliche Anerkennung verdienen.

Der dramatische Bevölkerungszuwachs in Gaza wird anhand der Daten über die Bevölkerungszahlen deutlich[6]:

Jahr 1950 1985 2000 2010 2018 2022
Mio. Einwohner 0,25 0,53 1,13 1,5 1,96 2,1

Angesichts dieser Zahlen ist die oft zu hörende Beschuldigung, Israel betreibe in Gaza einen Genozid, mehr als absurd. Es ist ein „Genozid“ mit extrem schnell wachsender Bevölkerung.

Gunnar Heinsohn schrieb, die hohe Zuwachsrate der Bevölkerung, genauer gesagt der immense Überschuss an jungen Männern ohne Arbeit und ohne eine soziale Funktion, sei der Grund für die Aggressivität und hohe Konfliktbereitschaft der Bevölkerung von Gaza. In seinem Buch „Söhne und Weltmacht“[7] hat der Genozidforscher und Bevölkerungsexperte  Heinsohn die These vertreten, dass ein schnelles Bevölkerungswachstum zu politischer Instabilität bis hin zu Kriegen und Bürgerkriegen führen kann, weil es in der Bevölkerungsstatistik zu einem so genannten youth bulge, also einem Überhang an jungen Männern führe, die keinen Platz in der Gesellschaft finden würden.[8] Heinsohn hat in seinem Buch eine Reihe von kriegerischen Konflikten und Bürgerkriegen in verschiedenen Erdteilen und zu verschiedenen Zeiten untersucht und sie als anschauliche Belege für seine These angeführt. Überzeugend war insbesondere seine Untersuchung zu Algerien, wo in den neunziger Jahren des vergangenen Jahrhunderts ein blutiger Bürgerkrieg zwischen der Zentralregierung und islamistischen Gruppierungen herrschte. Nach 2000 flaute der Bürgerkrieg ab. Anhand von Bevölkerungsstatistiken belegte Heinssohn, dass das Abflauen der Gewalt zeitlich parallel zum dramatischen Abfall der Bevölkerungszuwachsrate ablief. Außerdem verband Heinsohn auch die Beruhigung der Lage im vom Bürgerkrieg geplagten Libanon mit dem radikalen Rückgang der Zahl „überschüssiger“, untätiger Jugendlicher aufgrund reduzierter Geburtenrate. Daraus zog er den etwas gewagten, optimistischen Schluss, dass die libanesische Hisbollah in Zukunft kein großes Rekrutierungsreservoir haben würde und folglich nach einem möglichen Krieg mit Israel zum Niedergang verurteilt sein könnte.

Der youth bulge, so Heinsohn, sei ein Reservoir an Kämpfern für eine beliebige, aktuell favorisierte radikale Idee, sei es der Kommunismus, Faschismus, Nationalsozialismus, Nationalismus, Islamismus, religiöser Fanatismus jeder Art oder ein sonstiger „Ismus“. Wenn es untätige junge Männer gebe, seien sie in jeder Richtung manipulierbar und mobilisierbar. „Wo es zu viele junge Männer gibt, wird getötet“, brachte Gunar Heinsohn seine Theorie provokant auf einen Nenner.[9]  So stellten die vielen arbeitslosen jungen Männer in Gaza ohne eine sinnvolle Aufgabe das Rekrutierungspotential für die Hamas dar. Ein Abflauen des Konfliktes in Palästina, besonders aber in Gaza, sei nach Heinsohns Meinung erst dann zu erwarten, wenn die Geburtenrate in Gaza dramatisch sinkt, und zwar wie in Algerien auf unter 2 Kinder pro Frau. Das formulierte Heinsohn pointiert in einem Beitrag für den Deutschlandfunk: „Kein Frieden ohne ‚demografische Abrüstung‘ im Nahen Osten“[10], der 2006, also noch bevor die Hamas ein Jahr später die Macht an sich gerissen hat, um Gaza zu einer Militärbasis zur Vernichtung Israels auszubauen.

Sollte es im derzeitigen kriegerischen Konflikt Israel gelingen, die Macht der Hamas in Gaza zu brechen, würden dort unzählige junge Männer, sofern sie den Krieg überleben, ihre Aufgabe als Hamas-Kämpfer verlieren und somit untätig werden. Wohl ließe sich ihr Tatendrang und Aggressionspotential durch eine sinnvolle Arbeit kanalisieren und kompensieren, wobei allerdings in Gaza eine Arbeit schwer zu finden ist. Andernfalls würden sich die untätigen jungen Männer mit hoher Wahrscheinlichkeit von neuen Rattenfängern als Kanonenfutter für den nächsten Konflikt mit Israel oder für einen Jihad rekrutieren lassen.

Die etwas mechanistisch anmutende demografische Konfliktanalyse von Heinsohn beschreibt nicht die Ursachen der Konflikte, sondern lediglich die Umstände, die den Ausbruch von Konflikten begünstigen. Außerdem beschränkt sich die Analyse auf junge Männer, marginalisiert folglich die große Rolle von Frauen bei der Erziehung ihrer Söhne zu extremistischen Kämpfern mit antisemitischen und antiisraelischen Weltbildern und sie abstrahiert von anderen wichtigen Faktoren, die in konkreten Fällen kriegerische Auseinandersetzungen befördern. In Gaza etwa werden Jugendliche durch die schulische Erziehung zum Hass auf Israel und die Juden sowie durch paramilitärisches Training ab dem Vorschulalter für den Kampf gegen Israel konditioniert. Man kann folglich davon ausgehen, dass ein Großteil der durchschnittlich sehr jungen Bevölkerung von Gaza[11] durch die antisemitische und Israelfeindliche Indoktrination seitens der Hamas kontaminiert ist. „From the river to the see Palestine will be free“ –  „vom Fluss bis zum Meer, Palästina wird frei sein“, wird den Kindern und Jugendlichen täglich in der Schule eingehämmert. Und damit ist gemeint: Palästina wird frei sein von den Juden. Hinzu kommen die Dauerberieselung der Bevölkerung Palästinas durch antisemitische und israelfeindliche Sendungen arabischer Fernsehsender und die gegen Israel gerichteten Hasspredigten in Moscheen. Es ist allerdings ein gravierender Unterschied, ob man im Beruf stehend abends zu Hause oder in der Kneipe auf die Juden und auf Israel schimpft oder ohne eine berufliche Tätigkeit als Hamas-Kämpfer auf Juden schießt.

Bild oben: Gaza Stadt, Foto: Flickr – Israel Defense Forces / CC BY-SA 3.0 

Anmerkungen
[1] Erst nach Entstehung der PLO 1964 haben die palästinensischen Araber begonnen, sich selbst als Palästinenser zu bezeichnen. Vorher waren sie schlicht Araber und lehnten es ab, als Palästinenser bezeichnet zu werden.
[2]  https://www.nzz.ch/wirtschaft/hamas-herrschaft-im-gazastreifen-jeder-zweite-in-armut-drei-viertel-der-jungen-ohne-arbeit-und-jetzt-kommt-alles-noch-schlimmer-ld.1759981.
[3] Geb. 1943, gest. Januar 2023.
[4] United Nations Relief and Works Agency for Palestine Refugees; Deutsch: Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge im Nahen Osten; gegründet 1949. Es ist die einzige nur für ein Volk gegründete UN-Hilfsorganisation, die den Flüchtlingsstatus auf die jeweils nächste Generation ohne Ende weitervererbt, was bezogen auf Flüchtlinge anderer Nationalitäten nicht der Fall ist.
[5] Sendung im Deutschlandfunk vom 01.08.2006: Gewalt aus Perspektivlosigkeit; https://www.deutschlandfunk.de/gewalt-aus-perspektivlosigkeit-100.html.
[6] https://de.wikipedia.org/wiki/Gazastreifen
[7]  https://www.amazon.de/S%C3%B6hne-Weltmacht-Terror-Aufstieg-Nationen/dp/3280060087.
[8]  Sendung im Deutschlandfunk vom 01.08.2006: Gewalt aus Perspektivlosigkeit.
[9]  https://www.nzz.ch/articleeo5x7-ld.107177.
[10] Sendung im Deutschlandfunk vom 04.08.2006: Kein Friede ohne „demografische Abrüstung“ im Nahen Osten;  https://www.deutschlandfunkkultur.de/kein-friede-ohne-demografische-abruestung-im-nahen-osten-100.html.
[11] Mehr als die Hälfte der Bevölkerung von Gaza ist weniger als 20 Jahre alt. Siehe https://de.statista.com/statistik/daten/studie/1418081/umfrage/altersstruktur-im-gazastreifen/.

1 Kommentar

  1. Es geht auch (wie o. erwähnt) ohne UNRWA:
    „Die Bevölkerung Malis gehört zu den am schnellsten wachsenden der Welt. Sie vermehrt sich jedes Jahr um 3 Prozent.[70] Die Bevölkerung hat sich von 2000 bis 2020 verdoppelt.[71] „WIKI“ z.B.

    Warum und wieso eine Bevölkerung über Jahre Terroristen als Führer akzeptiert, kann nach dem Krieg diskutiert werden. Sie tragen eine Schuld, der Versuch dies jetzt irgendjemand anzuhängen ist – meiner Meinung nach- momentan falsch.

    Genauso wie weitere Schuldzuweisungen an äußere oder innere Kräfte, sollte dies nicht der Zeitpunkt sein.

    Israel ist im Krieg, über 200 Geisel sind zu befreien, Tausende sind ermordet, eine Wiederholung muß verhindert werden.