Vor 50 Jahren brach der Yom-Kippur-Krieg aus. Am höchsten jüdischen Feiertag griffen ägyptische und syrische Truppen Israel an. Es war der Beginn eines der größten Dramen in der Geschichte des jüdischen Staates, dessen Aufarbeitung bis heute noch nicht abgeschlossen ist.
Von Ralf Balke
„Kein Anlass zur Sorge“, hieß es selbst noch am 1. Oktober 1973 in israelischen Militärgeheimdienstkreisen. „Die Lage ist völlig normal und wird sich nicht zu einem Krieg ausweiten.“ Mit diesen Worten hatte man Warnungen der amerikanischen Geheimdienste, dass sich im Nahen Osten etwas zusammenbraute, in den Wind geschlagen – eine katastrophale Fehleinschätzung. Denn eigentlich hätten Israels Verantwortliche die Zeichen an der Wand durchaus erkennen müssen. So begann Ägypten bereits im August 1973 mit dem Bau neuer Zufahrtswege Richtung Suez-Kanal und hielt zahlreiche Manöver ab, die ganz eindeutig darauf abzielten, die Überquerung einer Wasserstraße zu üben. Und all das geschah direkt unter den Augen der Israelis an der Bar-Lev-Linie, den Verteidigungsstellungen der israelischen Armee entlang des Ostufers des Suez-Kanals. Auch die Syrer hatten in diesen Tagen eine allgemeine Mobilmachung ihrer Truppen angeordnet.
Das böse Erwachen kam dann am 6. Oktober 1973, dem Tag des jüdischen Versöhnungsfestes Yom Kippur, als um 13.55 Uhr der Angriff der arabischen Truppen erfolgte. Die Ägypter eröffneten mit über 1.600 Geschützen das Feuer auf die wegen des Feiertages spärlicher als sonst besetzten israelischen Stellungen, brachten mit Helikoptern Soldaten auf die Ostseite des Suez-Kanals, während Pioniereinheiten mit Flammenwerfern vorgingen. Rund neun Divisionen mit rund 1.700 Panzern setzte Kairo in Marsch. Fast zeitgleich griffen die Syrer mit fünf Divisionen mit 1.400 Panzern im Norden an. Sowohl bei der Einschätzung eines möglichen Angriffszeitpunkts als auch bei der Bewertung der ägyptischen und syrischen Truppenbewegungen in den Tagen zuvor hatten alle israelischen Geheimdienste restlos versagt – erstmals hatten die arabischen Armeen das Überraschungsmoment auf ihrer Seite.
Den Ägyptern gelang die Überquerung des Suez-Kanals und das Durchbrechen der Bar-Lev-Linie, wobei sie den israelischen Panzerverbänden empfindliche Verluste bereiten konnten. Nagelneue Panzerabwehrabwehrraketen sowjetischer Bauart vom Typ „Sagger“ sowie ein modernes SAM-Flugabwehrsystem sorgten dafür, dass es Tage dauern sollte, bis sich das Blatt wenden konnte und die Israelis erfolgreich in die Gegenoffensive gingen. General Ariel Sharon vermochte es schließlich, den vorrückenden ägyptischen Einheiten eine Falle zu stellen, am 15. Oktober die ägyptischen Linien zu durchbrechen und tags darauf selbst den Suez-Kanal zu überqueren und Richtung Kairo zu marschieren. Auf dem Golan gelang es den Israelis ebenfalls bald, die Syrer zurückzuschlagen und bis zur Feuerpause an der Nordfront am 22. Oktober bis auf 30 Kilometer vor Damaskus vorzurücken.
Möglich wurde all das durch durch die Operation Nickel Grass, der massiven Unterstützung Israels durch Rüstungsgüter aus den Vereinigten Staaten. Zwischen dem 12. Oktober und dem 14. November wurden im Rahmen einer Luftbrücke rund 22.000 Tonnen Munition, Panzer oder auch ganze Kampfflugzeuge nach Israel gebracht, um die entstandenen Verluste auszugleichen und dafür zu sorgen, dass Israel der drohenden Niederlage entgeht und über genug Reserven verfügt, falls die Kampfhandlungen nach den vereinbarten Feuerpausen erneut aufflammen sollten. Der Hintergrund dieser Entscheidung in Washington, dem jüdischen Staat so massiv unter die Arme zu greifen: Nachdem Ministerpräsidentin in der Nacht vom 8. auf den 9 Oktober davon in Kenntnis gesetzt wurde, wie verheerend die Situation für Israel aussehe, hatte sie die Order ausgegeben, die Atomwaffen des Landes gefechtsbereit zu machen. Das wiederum versetzte den damaligen amerikanischen Präsidenten Richard Nixon in Alarmbereitschaft, sodass er die Initiative ergriff, um durch die schnelle und umfangreiche Lieferung von Rüstungsgütern die Niederlage Israels und damit die Aussicht auf einen Atomkrieg zu verhindern.
Militärisch hatte Israel zwar am Ende auf ganzer Linie gesiegt, doch die Verluste waren dramatisch. Mehr als 2.600 israelische Soldaten waren gefallen – angesichts der Tatsache, dass das Land damals gerade einmal knapp 3,3 Millionen Einwohner zählte, eine ungeheuer hohe Zahl. Zudem waren 7.500 Verwundete zu beklagen, etwa 300 israelische Soldaten gerieten in arabische Gefangenschaft. Auf arabischer Seite gab es mehr als 8.500 Gefallene. Darüber hinaus war die israelische Luftwaffe, die zuvor in allen Konflikten ihre Überlegenheit zeigen konnte, stark dezimiert. Und infolge des gegnerischen Überraschungserfolges entwickelte sich auf israelischer Seite so etwas wie ein „Pearl-Harbor-Komplex“, der noch lange anhalten sollte und zu einer eklatanten Vertrauenskrise in der israelischen Gesellschaft führte, die bis in die Gegenwart nachklingt. Jedenfalls machte man damals die Regierung und die Geheimdienste für das Desaster verantwortlich. Im April 1974 zog Ministerpräsidentin Golda Meir die Konsequenzen und trat zurück. Ihr Nachfolger wurde Jitzchak Rabin.
Über die Ursachen, warum Israel gegenüber den sich abzeichnenden Plänen, einen Angriffskrieg zu initiieren, derart nachlässig verhielt, wird seither viel spekuliert. Zum einen wähnten sich die israelischen Verantwortlichen zu sehr in Sicherheit. Nach den spektakulären Erfolgen im Sechstagekrieg nur wenige Jahre zuvor, hatte man quasi blind an die eigene Überlegenheit geglaubt und ging davon aus, dass die arabischen Staaten sich nicht noch einmal die Finger in einer für sie aussichtslosen militärischen Auseinandersetzung verbrennen würden. Auch vertraute man zu sehr auf die Wirksamkeit der Bar-Lev-Linie, was sich als Fehler herausstellen sollte – die Befestigungsanlagen erwiesen als teure Fehlkonstruktion. Selbst den Warnungen von Jordaniens König Hussein, der sich im September 1973 noch heimlich in Tel Aviv mit Golda Meir getroffen hatte, wollte man nicht ernst nehmen. Auch eine andere Quelle, und zwar Ashraf Marwan, Schwiegersohn des früheren ägyptischen Staatspräsidenten Gamal Abdel Nasser, der für den Mossad arbeitete und ebenfalls gemeldet hatte, dass zu Yom Kippur ein Angriffskrieg geplant sei, schlug man in den Wind.
Zum anderen führte der Yom-Kippur-Krieg zu einem massiven Vertrauensverlust in die politische und militärische Führung Israels, allen voran Golda Meir und Verteidigungsminister Moshe Dayan. Bereits vier Monate nach Kriegsende begannen die Proteste, angeführt damals von Motti Ashkenazi, dem Kommandanten von „Budapest“, der einzige Bar-Lev-Linie-Festung, die nicht von den Ägyptern überrollt werden konnte, woraufhin unter Leitung von Shimon Agranat, dem Vorsitzenden des Obersten Gerichtshof, eine gleichnamige Kommission ins Leben gerufen wurde, die die Ereignisse unter die Lupe nehmen und Verantwortliche für das Desaster nennen sollte. Diese präsentierte am 2. April 1974 ihre Ergebnisse, empfahl die Entlassung des Generalstabschefs David Elazar sowie die Demission von Eli Zeira, Leiter des militärischen Geheimdienstes, und seines Stellvertreters Aryeh Shalev. Aber auch anderen Mitarbeiter der Nachrichtendienste wurde der Rücktritt oder eine Versetzung nahegelegt. Golda Meir und Moshe Dayan wurden von jeglicher Verantwortung freigesprochen. Dennoch beruhigten sich die Gemüter wenig, die Forderungen nach ihrem Rücktritt blieben.
Heute weiß man deutlich mehr über die Mechanismen, die 1973 Israel beinahe den Untergang beschert hatten. Vor wenigen Wochen erst wurden Tausende wichtiger Dokumente aus der Zeit vor 50 Jahren freigeben, die zeigen, was alles schief gelaufen ist. Einige davon enthalten Aufzeichnungen von Beratungen von Golda Meir mit ihren Sicherheitschefs in den Tagen und Stunden vor dem 6. Oktober 1973. Sie verstärken das Bild, dass Israel trotz der deutlichen Anzeichen den Angriff einfach nicht damit gerechnet hatte. So erklärte der Leiter des Militärischen Nachrichtendienstes, Eli Zeira, gegenüber Golda Meir noch am 5. Oktober, dass die vorherrschende Einschätzung sei, die ägyptischen und syrischen Aktivitäten würden allein „aus Angst vor uns“ stattfinden und fügte hinzu: „Ich glaube nicht, dass sie angreifen werden, wir haben keine Beweise. Technisch sind sie durchaus in der Lage zu handeln. Ich gehe davon aus, dass wir bessere Hinweise bekommen werden, wenn sie wirklich angreifen wollten.“ Am Morgen des 6. Oktober 1973 um 7.30 Uhr, also weniger als sieben Stunden vor Kriegsbeginn, las Golda Meirs Militärsekretär ihr ein über Nacht eingegangenes Telegramm von Mossad-Chef Zvi Zamir vor, aus dem hervorging, dass der Krieg nur noch eine Frage von Stunden sei. Daraufhin fand eine Diskussion statt, ob man wie 1967 einen Präventivschlag durchführen sollte. Doch Moshe Dayan erklärte: „Aus diplomatischer Sicht können wir es uns diesmal nicht erlauben, einen Präventivschlag zu führen. In der gegenwärtigen Situation ist es unmöglich, auch nur fünf Minuten vorher anzugreifen.“
Bild oben: Avraham Vered / IDF Spokesperson’s Unit, CC BY-SA 3.0