Der Pogrom von Istanbul

0
101

Der Pogrom gegen die Nichtmuslime Istanbuls im September 1955 gehört zu einem der dunkelsten Kapitel der türkischen Zeitgeschichte. Er begann als eine anti-griechische Kundgebung türkischer Nationalisten am 6. September und artete binnen weniger Stunden in einen Zerstörungsfeldzug gegen die griechische Bevölkerung Istanbuls aus, dem auch andere Nichtmuslime wie Armenier und Juden zum Opfer fielen.

Von Berna Pekesen
Erschienen auf: bpb.de, 15.10.2014

Mit Eisenstangen, Hacken und Knüppeln bewaffnet zog ein nationalistisch fanatisierter Mob in jene Bezirke Istanbuls, in denen Griechen, Juden und Armenier lebten und ihre Geschäfte betrieben. In Beyoğlu/Taksim (Pera), in der heute beliebten touristischen Einkaufsmeile im Herzen Istanbuls,warfen johlende Banden in der Nacht vom 6. auf den 7. September 1955 die Schaufensterscheiben der Geschäfte und Kaufhäuser mit Steinen ein, demolierten Autos, verprügelten Griechen und Angehörige anderer nichtmuslimischer Bevölkerungsgruppen. In den folgenden zwei Tagen zogen Nationalisten plündernd und brandschatzend durch die Stadtviertel Ortaköy, Balıklı, Samatya und Fener sowie auf die Prinzeninseln im Marmarameer, Gebiete mit hohem nichtmuslimischen Bevölkerungsanteil, zerstörten ihr Eigentum, quälten und drangsalierten dessen Besitzer und vergewaltigten Frauen. Friedhöfe, Kirchen und Synagogen blieben von der Zerstörungswut nicht verschont, mehrere Geistliche wurden getötet.

Danach kamen die Plünderer und ließen mitgehen, was nicht niet- und nagelfest war. Fotografien zeigen: Die İstiklal Caddesi hatte sich an diesen beiden Septembertagen in einen Trümmerhaufen verwandelt. Geschäftsartikel, Gebrauchsgegenstände und Möbelstücke hatten die Täter auf die Straße geworfen. Durcheinander geworfene Stoffballen, Kleidungsstücke, Teppiche, Backwaren, Nippes, zertrümmertes Porzellan und zerstörte Glaswaren bestimmten in diesen Tagen das Stadtbild. Die Plünderer, gewöhnliche Istanbuler Bürgerinnen und Bürger, machten sich über das Diebesgut her und nahmen die auf die Straßen geworfenen Kühlschränke, Waschmaschinen, Staubsauger, Nähmaschinen an sich, die in diesen Jahren ein unerschwinglicher Luxus für die meisten Bürger der Türkei waren. Die muslimisch-türkische Bevölkerung wurde von den Plünderern aufgefordert, sich durch das Anbringen der türkischen Fahne auszuweisen. Umgekehrt wurden griechische, jüdische und armenische Häuser und Geschäfte mit einer Aufschrift (Nichtmuslim, Nichttürke, Griechisch) oder mit einem Kreuz gekennzeichnet. Die Ordnungskräfte kamen ihrer Aufgabe nicht nach, Polizisten sahen dem Treiben untätig zu oder beteiligten sich selbst an der Gewalt. In den Protokollen der späteren Gerichtsverhandlung über diese Ereignisse steht der Ausspruch eines Polizisten, der ein hilfesuchendes Opfer mit den Worten abwimmelt: „Heute bin ich kein Polizist – heute bin ich Türke“.

Hintergrund und Kontext

Den Hintergrund des Pogroms bildeten die Entwicklungen auf Zypern, das bis 1960 zum britischen Kolonialgebiet gehörte. Als Mitte der 1950er-Jahre die griechische Widerstandsbewegung EOKA (Ethniki Organosis Kyprion Agoniston, deutsch: Nationale Organisation zyprischer Kämpfer) einen bewaffneten Befreiungskampf gegen die britische Kolonialherrschaft begann, eskalierten die Volksgruppenkämpfe zwischen den griechischen und türkischen Inselbewohnern. Die EOKA verfolgte die Politik der enosis, des Anschlusses Zyperns an Griechenland, während die türkisch-zyprischen Organisationen dieser Politik gegenüber skeptisch bzw. ablehnend eingestellt waren. In Übereinstimmung mit der türkischen Regierung traten sie entweder für die Fortdauer der britischen Herrschaft auf Zypern ein, oder sie forderten die Übergabe der Mittelmeerinsel an die Türkei. Großbritannien wiederum war bestrebt, die enosis zu verhindern und suchte einen Verbündeten in der Türkei. Die britische Diplomatie forderte deshalb ein stärkeres Engagement der Türkei auf Zypern. Die seit 29. August 1955 in London tagende Zypern-Konferenz sollte diese Konflikte klären. Die Pogrome in der Türkei führten jedoch zum vorzeitigen Abbruch der Konferenz und damit zu ihrem Scheitern.

Auslöser der Ausschreitungen waren die im staatlichen türkischen Rundfunk und in Zeitungen verbreiteten Meldungen über einen Bombenanschlag auf das Geburtshaus des Staatsgründers Atatürk im griechischen Thessaloniki am 5. September 1955. Bereits Monate zuvor hatte die Presse mit scharfmachenden Meldungen gegen Griechenland und die Istanbuler Griechen die Stimmung angeheizt. Erst viel später kam heraus, dass der Anschlag von einem türkischen Zyprer ausgeführt und vom türkischen Geheimdienst angezettelt worden war. Am Nachmittag des 6. September waren landesweit, vor allem in Izmir, Ankara, Samsun, Bursa, Eskişehir, Iskenderun und Adana, Kundgebungen gegen Griechenland organisiert worden. Zu den Protestaktionen hatten Studentenverbände und der kurz zuvor gegründete Verein „Zypern ist Türkisch“ (Kıbrıs Türktür) aufgerufen. Außer in Istanbul kam es auch in Izmir zu gewaltsamen Ausschreitungen gegen Nichtmuslime, vor allem gegen griechische Bürger und griechischen Besitz. In vielen anderen Städten dagegen, darunter auch die Hauptstadt Ankara, blieben Gewaltakte gegen Nichtmuslime in der Regel aus.

Die Bilanz des Pogroms: 4214 Wohnungen, 1004 Geschäfte, 73 Kirchen, zwei Klöster, eine Synagoge, 26 Schulen sowie 5317 Einrichtungen wie Fabriken, Hotels und Gaststätten wurden zerstört oder beschädigt. Allein in Beyoğlu/Istiklal Caddesi, wo jedes zweite Haus oder Geschäft einem Griechen gehörte, wurden 2293 Gebäude zerstört. Beschädigt und verwüstet wurde auch armenisches, jüdisches und auch muslimisches bzw. türkisches Eigentum. Nach unterschiedlichen Quellen wird die Zahl der Todesopfer mit 11 bis 15 und die Zahl der Verletzten mit 300 bis 600 beziffert. [1]

Das Jahr 1955 bildete den Anfang vom vollständigen Ende des Griechentums in der Türkei, obwohl eine Massenauswanderung der rund 100.000 Personen zählenden Griechen zunächst ausblieb. Sie waren damit beschäftigt, die Scherben zusammenzukehren und wurden mit versprochenen staatlichen Hilfs- und Entschädigungsleistungen hingehalten. Die türkische Regierung traf Maßnahmen, um eine Massenabwanderung zu verhindern, was von Athen unterstützt wurde. Der große Exodus der Griechen setzte erst nach der erneuten Zypern-Krise 1964 ein. Heute leben nur noch rund 2.000 Griechen in der Türkei. Nach den Septemberpogromen verließ auch ein Großteil der Armenier und Juden aus Angst vor einem weiteren Pogrom die Türkei Richtung Großbritannien, USA und Israel.

Der Staat und die Täter

Die Regierung reagierte auf die Gewaltakte mit Ausrufung des Ausnahmezustandes über Istanbul, Ankara und Izmir. In Istanbul brachte erst das Eingreifen des Militärs die Gewalttätigkeiten unter Kontrolle. Aber auch Tage und Wochen danach flackerten Gewalttätigkeiten gegen Nichtmuslime auf. Noch im November 1955 kam es zu antisemitischen Kundgebungen in der Hafenstadt Çanakkale in der Dardanellenregion. In der Folge der September-Ausschreitungen trat Innenminister Namık Gedik zurück, einige Gouverneure und Polizeidirektoren von Istanbul und Izmir wurden ihres Amtes enthoben. Ein Jahr später saßen sie allerdings wieder auf ihren Posten.

Die türkische Regierung lehnte jegliche Verantwortung für die Gewalttätigkeiten ab und betrachtete sie als das „traurige Ergebnis“ eines angeblichen „kommunistischen Komplotts“, um dem Ansehen des Landes zu schaden. Ministerpräsident Adnan Menderes verwies in seiner Rede im türkischen Parlament auf die wegen der Zypern-Krise in Aufwallung geratenen jugendlichen Patrioten, aber die eigentlichen Drahtzieher der Gewalttaten seien die Kommunisten. Diese Begründung stammte aus dem Repertoire des Kalten Krieges, dem sich das Kabinett Menderes zunehmend bediente, entsprach aber nicht der Wirklichkeit. Sie erlaubte eine politische Repressionswelle gegen Kommunisten im Land, die sich daher zunächst nicht gegen die wahren Täter richtete. Landesweit wurden Dutzende Kritiker der Regierung aus dem linken Spektrum verhaftet, denen in späteren Prozessen keinerlei Mittäterschaft nachgewiesen werden konnte.

Verhaftet wurden aber auch an dem Pogrom Beteiligte, allein in Istanbul über 5.000 Personen. Die meisten (3.000) waren Mitglieder des Vereins „Zypern ist türkisch“ oder gehörten staatlichen oder staatlich gelenkten Vereinen, Gewerkschaften und Jugendorganisationen an. Auch Mitglieder der Ortsvereine der regierenden Demokratischen Partei (Demokrat Parti, kurz: DP) wurden wegen Mittäterschaft verhaftet und angeklagt. Die Täter hielten sich für unschuldig. Zum Beispiel hatte der Gouverneur von Izmir nicht nur unterlassen, die Ausschreitungen in Izmir zu verhindern. Er ließ sich auf den Schultern von Demonstranten tragen und rief diesen zu: „Ihr rettet die Ehre von Izmir“. Es wird von über 100.000 Personen ausgegangen, die als Täter und Mitläufer an den Zerstörungen beteiligt waren. In den drei in Istanbul einberufenen Sondergerichten, die mit dem Fall der Septemberausschreitungen befasst waren, wurden Anfang 1956 rund 4.000 Angeklagte aus Mangel an Beweisen freigesprochen und 228 Personen zu Haftstrafen verurteilt. [2]

Drei Jahre später, nach der Militärintervention vom 27. Mai 1960 stand dann die Regierung Menderes selbst vor Gericht. Die Ankläger des Militärgerichts im Prozess von Yassıada beschuldigten Menderes und seine Regierung, den Pogrom geplant und seinen Ausbruch provoziert zu haben. Neben der Regierung kamen auch der Polizeichef und der Gouverneur von Istanbul erneut unter Anklage.

Tatsächlich gaben nun viele Angeklagte vor Gericht an, Anweisungen von staatlichen Stellen zur Organisation und Ausführung der Ausschreitungen erhalten und diese ausgeführt zu haben. Außerdem wurde im Gerichtsverfahren bekannt, dass Regierungsmitglieder Kenntnis von den geplanten Ausschreitungen hatten. Offenbar waren anti-griechische Demonstrationen geplant worden, um Druck auf Griechenland auszuüben und um die Verhandlungsposition des türkischen Außenministers Fatin Rüştü Zorlu auf der Londoner Zypern-Konferenz zu stärken. Dieser hatte in einem Telegramm aus London an seine Regierung angeregt, mit einigen Demonstrationen den „Volkswillen der Türken“ zum Ausdruck zu bringen. In der Tat spricht vieles dafür, dass die Ausschreitungen von Institutionen wie dem Parteiapparat der DP, vom Geheimdienst und der Polizei in enger Zusammenarbeit mit staatlich gelenkten Vereinen und Organisationen geplant und ausgeführt wurden. Neueren Erkenntnissen zufolge hatten z. B. Ortsverbände der DP in Zusammenarbeit mit Sicherheitskräften Schlägertrupps aus ganz Anatolien zusammengestellt, sie instruiert, mit Werkzeugen ausgestattet und sie dann auf Staatskosten nach Istanbul transportieren lassen. Außerdem wurden offenbar schon Wochen vor den Ausschreitungen Listen mit Adressen der Nichtmuslime verteilt.

Doch der Yassıada-Prozess entwickelte sich zu einem Schauprozess, in dem nicht einmal die Mindeststandards des Rechtsstaates eingehalten wurden. Den Militärs ging es offenbar in erster Linie darum, ihren Putsch zu legitimieren und mit der gestürzten DP-Regierung persönlich abzurechnen und weniger darum, Täter, Hintergründe und Motive des Septemberpogroms juristisch aufzuarbeiten. Der Militärrichter erklärte die Regierungsmitglieder zu Hauptverantwortlichen. Doch darüber hinausgehenden Verbindungen anderer Staatsorgane (Geheimdienst und Armee) ging das Gericht nicht nach, obwohl darüber Beweise bzw. Anhaltspunkte vorlagen. Ministerpräsident Menderes und zwei Kabinettsmitglieder wurden als Hauptverantwortliche schuldig gesprochen und zu Haftstrafen von 6 bzw. 4,5 Jahren verurteilt.[3] Alle drei wurden darüber hinaus wegen weiterer Anklagepunkte zum Tode verurteilt und hingerichtet. Die anderen Angeklagten wurden freigesprochen, manche Straftaten wurden vom Gericht als verjährt angesehen. Entschädigungen für die Opfer lagen weit unter den zerstörten Werten, wie neuere Studien zeigen.

Die öffentliche Aufarbeitung

Anders als der Pogrom gegen die jüdische Minderheit 1934 war der Septemberpogrom 1955 kein Tabuthema in der Türkei. Besonders in den ersten Jahren danach widmeten sich Presse und Politik den Ereignissen, Auslösern und den Folgen, dabei besonders den Entschädigungszahlungen. Die Erinnerung an die Gewalt fand Eingang in die Memoirenliteratur von Journalisten, Schriftstellern und anderen Zeitzeugen (z. B. Orhan Pamuk, Aziz Nesin, Hasan Izzet Dinamo, Altan Öymen). Für bürgerlich-liberale Teile der türkischen Gesellschaft galten die Gewaltakte als eine nationale Schandtat, viele bedauern seit jenen Tagen den Verlust an Bürgerlichkeit und Multikulturalität in Istanbul. Doch es gab auch andere Stimmen, die den öffentlichen Diskurs dominierten. Sie stellten die Verantwortung der Regierung bzw. des Staates in Abrede, schoben Rechtfertigungen vor oder verharmlosten die Gewalttaten. Eine kritische Aufarbeitung des Pogroms fand nicht statt. Die Opfer gerieten in Vergessenheit. Erstmals rief eine Ausstellung in Istanbul zum 50. Jahrestag der Ereignisse im Jahr 2005 die Opfer in Erinnerung. Fernsehsender drehten Dokumentarfilme über die „Nacht der Schande“, die große Resonanz in der türkischen Öffentlichkeit fanden. Auch von akademischer Seite wurde damals der Anfang gemacht, dieses dunkle Kapitel der türkischen Zeitgeschichte kritisch aufzuarbeiten.

Das öffentliche Gedenken findet aber nur in Teilen der Bevölkerung und der Medien statt. Von einer erinnerungskulturellen Bedeutung des Pogroms seitens des Staates kann nicht die Rede sein. Es gibt weder ein staatlich initiiertes oder unterstütztes Gedenken noch Denkmäler, die an die Opfer erinnern.

Dr. Berna Pekesen ist Historikerin am Asien-Afrika-Institut der Universität Hamburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist die türkische Zeitgeschichte. Von ihr ist zuletzt erschienen: Zwischen Sympathie und Eigennutz. NS-Propaganda und die türkische Presse im Zweiten Weltkrieg, Münster/Berlin 2014.

Bild oben: Istanbul 1955, Foto: U.S. Navy

Quellen / Literatur:
Aka, Rıdvan, „İki Yıllık Gecikme: 6/7 Eylül 1955“ [Mit zweijähriger Verspätung: 6/7 September] in: Toplumsal Tarih [Gesellschaftsgeschichte], September 2003, S. 86-93.
Demirer, Mehmet Akif, 6/7 Eylül 1955. Yassıada 6/7 Eylül Davası Dezinformatsiya [6/7 September 1955. Der Yassıada-Prozess – Desinformation], Istanbul 1995.
Güven, Dilek: Cumhuriyet Dönemi Azınlık Politikaları Bağlamında 6-7 Eylül Olayları [Die Ereignisse des 6./7. September [1955] im Kontext der Minderheitenpolitik der Republikszeit], Istanbul 2005.

Fußnoten:
[1] Vgl. auch für alle weiteren genannten Daten: Dilek Güven, Cumhuriyet Dönemi Azınlık Politikaları Bağlamında 6-7 Eylül Olayları. Istanbul 2005, S. 34-40. Überarbeitete deutsche Ausgabe: Dilek Güven, Nationalismus und Minderheiten. Die Ausschreitungen gegen die Christen und Juden in der Türkei vom September 1955. München 2012. Siehe auch Speros Vryonis Jr.: The Mechanism of Catastrophe: The Turkish Pogrom of September 6-7, 1955, and the Destruction of the Greek Community of Istanbul. New York 2005.
[2] Von den 87 angeklagten Mitgliedern des „Zypern ist Türkisch“-Vereins wurden 70 ebenfalls Ende 1955 freigesprochen. Das Verfahren gegen die restlichen Angeklagten wurde nach dem Ende des Ausnahmezustandes vor einem Istanbuler Zivilgericht erneut verhandelt, das schließlich auch diese Angeklagten Anfang 1957 mangels Beweise freisprach. Siehe auch: Mehmet Akif Demirer: 6/7 Eylül 1955. Yassıada 6/7 Eylül Davası Dezinformatsiya, Istanbul 1995.
[3] Rıdvan Akar: „İki Yıllık Gecikme: 6/7 Eylül 1955“ in: Toplumsal Tarih, September 2003.

Dieser Text ist unter der Creative Commons Lizenz „CC BY-NC-ND 3.0 DE – Namensnennung – Nicht-kommerziell – Keine Bearbeitung 3.0 Deutschland“ veröffentlicht. Autor/-in: Dr. Berna Pekesen für bpb.de