Dieser Text erschien im Oktober 1935 in der österreichischen Zeitschrift „Die Wahrheit“. Er berichtet von einem Gebet, das europaweit an Jom Kippur für die deutschen Juden verlesen wurde.
Die Weltjudenheit betet
Für die deutschen Juden und ihre Verfolger
Erschienen in: Die Wahrheit, Heft 41 (11.10.1935)
Am Kol Nidre-Abend wurde gleichzeitig in tausenden jüdischen Bethäusern der Welt ein feierliches Gebet, überall mit demselben Text, für die deutschen Juden und ihre Verfolger von der Kanzel verlesen.
Die mächtige religiöse Kundgebung war von dem Großrabbiner des britischen Reiches, Dr. J. H. Hertz, Londen, dem Großrabbiner von Frankreich, Israel Lévi, Paris, dem Warschauer Rabbiner, Professor Dr. M. Schorr, dem Oberrabbiner von Stockholm, Professor Dr. M. Ehrenpreis, dem Oberrabbiner von Wien, Dr. D. Feuchtwanger, dem Bukarester Oberrabbiner, Dr. J. Niemierower und verschiedenen anderen weltbekannten religiösen Führern des Judentums angeregt worden. Das in schlichten, demütigen Worten gehaltene Gebet wurde in den überfüllten Gotteshäusern von hunderttausende Andächtigen mit größter Rührung, von Schluchzen unterbrochen, angehört.
Dieses einzigartige Gebet lautete:
Laut Vorschlag einer Zusammenkunft von leitenden Rabbinern wird in dieser Stunde in tausenden von Gotteshäusern ein Ruf des Trostes und der Aufrichtung von den Kanzeln verlesen, der folgenden Wortlaut hat.
An unsere Brüder!
An diesem geheiligten Tage flüchten wir uns aus dem feinseligen Leben in den Frieden unserer Synagogen und suchen Kraft in der Versöhnung mit Gott und den Menschen. Unsere verwundeten Herzen wenden sich in teilnehmender Trauer unseren schwergeprüften Brüdern zu, die in ihrer Existenz als Menschen und Juden vernichtet werden. Machtlose werden ihrer Menschenrechte und ihrer Menschenwürde beraubt. Die Einheit des im Ebenbilde Gottes geschaffenen Menschengeschlechtes wird durch eine auf Rasseninstinkten gebaute Wahnlere zerrissen. Die religiösen und sittlichen Grundlagen der Menschheit sind erschüttert. Das Leid unserer Brüder ist somit unser Leid und ihr Kampf ein allmenschlicher Kampf. Es ist der Kampf für das Göttliche, den es gilt.
In demütiger Ergebung trägt ganz Israel das unseren Brüdern auferlegte Schicksal. Unerschüttert ist unser Glaube an die Gerechtigkeit Gottes, der die Geschicke der Menschen und Völker leitet. In ungebrochener Treue halten wir fest an den göttlichen Wahrheiten, die uns in der schriftlichen und mündlichen Lehre, in Thora und Talmud, überliefert sind. Keine Fälschungen, keine Verunglimüfungen vermögen unser heiliges Erbe zu entkräften, welches die Grundlage alles gesitteten Lebens geworden ist. „Das Gras verdorrt, die Knospe verwelkt, doch das Wort unseres Gottes besteht ewig.“
Unerschüttert ist unser Glaube an die Unvergänglichkeit Israels als des berufenen Trägers der göttlichen Lehre. Aus diesem Glauben schöpfen wir in dieser Zeit von Verkennung und Haß unseren Mut und unsere Würde. Brüder! Laßt uns Selbstachtung und Zuversicht nicht verlieren. Laßt uns Trost schhöpfen aus der Verheißung unseres Propheten: „Jede Waffe, gegen Dich geschmiedet, wird zerschellen, jedes Wort der Verleumdung, das Dir zur Schuld erhoben wird, wirst Du zu schanden machen.“
O, Gott, Vater der Menschen und Lenker der Völker, der Du die Welt errichtet hast auf Liebe und Gerechtigkeit, öffne die Augen der Verblendeten, läutere die Herzen der Irrenden, schenke Allen Einsicht, erfülle Alle mit Barmherzigkeit. Hilf uns allen, den Weg zu finden zu Dir – den Weg aus dem Dunkel zum licht, aus Verwirrung zu Klarheit, aus Schuld zur Vergebung, aus Kampf zur Versöhnung. Unser Vater, unser König! Oeffne die Tore des Himmels unserem Gebete! Führe uns zurück in vollkommener Buße vor Dein Angesicht! Mögen allen, Menschen und Völker, zu einem Bunde werden, um Deinen Willen mit ganzem Herzen zu erfüllen.