Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Hessen (RIAS Hessen) dokumentiert seit Frühjahr 2022 179 antisemitische Vorfälle in Hessen. 62 Vorfälle ereigneten sich in Frankfurt am Main, 14 in Marburg. Im Rahmen der documenta fifteen in Kassel im Sommer 2022 wurden 38 Vorfälle dokumentiert, von denen 34 in Kassel selbst stattfanden. Darüber hinaus gab es 18 weitere antisemitische Vorfälle in Kassel. Kassel war mit 52 Vorfällen somit die Stadt mit den meisten dokumentierten Meldungen nach Frankfurt am Main.
Eine dominante Erscheinungsform 2022 war das antisemitische Othering. Damit werden Jüdinnen und Juden durch Handlungen, Worte und Bilder als fremd oder nicht zugehörig klassifiziert. Im Othering mischen sich verschiedene abwertende Stereotype. „Du Jude!“ wird beispielsweise als Beleidigung und Abwertung von Menschen verwendet, besonders in Schulen oder im Sportumfeld.
Auch der israelbezogene und der Post-Schoa-Antisemitismus sind weit verbreitet. Bei 63 Vorfällen gab es Verschränkungen verschiedener Erscheinungsformen. Dies betrifft bei 30 Prozent /19 Meldungen die Verbindung von israelbezogenem und Post-Schoa-Antisemitismus, u.a. in der Äußerung: „Juden haben den Holocaust erfunden, um an Palästina zu kommen“. Auf der documenta fifteen konnten solche Verschränkungen ebenfalls festgestellt werden, u.a. indem die Kritik an antisemitischen Werken als „NS-Zensur“ bezeichnet oder Zionismus mit Nationalsozialismus gleichgesetzt wurde.
Neben dem verletzenden Verhalten mit dem größten Anteil an Vorfallkategorien sind gezielte Sachbeschädigung (12 Fälle), Bedrohung (zehn Vorfälle) sowie ein Fall extremer Gewalt zu nennen.
Von dem Fall extremer Gewalt in Hessen war ein hierzulande lebender jüdischer Israeli betroffen. An der Tür des Betroffenen wurde zweimal die Mesusa entfernt und zu Boden geworfen. Der Betroffene vermutete, dass dies jener Nachbar gewesen war, der ihn bereits verbal beleidigt hatte. Nach einer Beschwerde wegen Ruhestörung trat ein Bewohner des Hauses die Wohnungstür des Betroffenen ein, drang in seine Wohnung ein und verletzte ihn schwer. Die durch den Betroffenen herbeigerufene Polizei blieb trotz mehrfacher Bitten nicht bei ihm. Kein Hausbewohner kam zu Hilfe. Dies führte zu einem enormen Vertrauensverlust beim Betroffenen. Er erklärte RIAS Hessen gegenüber: „Es macht keinen Sinn, mit Angst zu leben. Aber ich bin enttäuscht und entsetzt, dass mir niemand wirklich geholfen hat.“
Hauptorte antisemitischer Vorfälle waren die Straße mit 34 Vorfällen und Bildungseinrichtungen mit 29 Vorfällen. Dabei entfielen auf Schulen zehn, auf museale Institutionen neun und auf Hochschulen acht Vorfälle.
RIAS Hessen geht auf der Grundlage von Gesprächen und Analysen aus der Wissenschaft davon aus, dass das Dunkelfeld antisemitischer Vorfälle u.a. in Schulen und an Universitäten groß ist.
Bei den klar zu benennenden Hintergründen liegen antiisraelischer Aktivismus (24 Fälle) sowie verschwörungsideologische Motive (20 Fälle) vor rechtsextremen Zuordnungen (15 Fälle). Bei 103 Fällen konnte der politisch-weltanschauliche Hintergrund nicht benannt werden.
Der Jahresbericht ist auf der Website einsehbar; aus Gründen der Nachhaltigkeit verzichtet RIAS Hessen auf eine Druckversion.
https://rias-hessen.de/report/jahresbericht-rias-hessen/