Antisemitische Vernichtungsfantasien in Bayern „leider Alltag“

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Im Zuge der Affäre um antisemitische Flugblätter aus der Schulzeit von Hubert Aiwanger weist die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern (RIAS) auf die Aktualität derartiger antisemitischer Vernichtungsfantasien hin. RIAS Bayern wurden demnach allein dieses Jahr 105 antisemitische Vorfälle bekannt, die sich auf die Vernichtung der europäischen Juden im Nationalsozialismus beziehen.

Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus Bayern schätzt das von der Süddeutschen Zeitung veröffentlichte Flugblatt aus der Schulzeit von Hubert Aiwanger als eindeutig antisemitisch ein.

„Nach der Arbeitsdefinition der International Holocaust Remembrance Alliance zur Verfälschung/Verharmlosung des Holocaust handelt es sich bei dem Text um Aussagen, die den Holocaust als ein positives geschichtliches Ereignis deuten“, sagt RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı. „Wer Auschwitz als ‚Vergnügungsviertel‘ bezeichnet und sich für ‚Vaterlandsverräter‘ einen ‚Freiflug durch den Schornstein‘ wünscht, verherrlicht das antisemitische Menschheitsverbrechen der Schoah“, so Seidel-Arpacı.

Derlei antisemitische Vernichtungsfantasien seien laut RIAS Bayern auch heute weit verbreitet. RIAS Bayern habe seit Gründung 2019 fast 800 Vorfälle im Freistaat dokumentiert, die die Schoah gutheißen, verleugnen oder verharmlosen oder auf antisemitische Weise die Erinnerung an die Verbrechen abwehren. 59 Vorfälle seien an Bildungseinrichtungen bekannt geworden.

So wurde laut RIAS Bayern im Januar 2020 ein jüdischer Schüler in München unter anderem als „Scheiß Jude“ beschimpft und ausgelacht, als sein Mitschüler einen antisemitischen „Witz“ machte und sagte: „Welcher Ort hat die meisten Sterne auf Google Anzeigen? Auschwitz mit 6 Millionen Sternen“. In einer Privatnachricht auf Instagram im Oktober 2020 wurde ein bayerischer User mit Israelfahne im Profilbild als „Zionistisches Bastardschwein“ beschimpft und gesagt, der Betroffene „verdiene Gaskammern“. Im April 2022 hielt eine jüdische Referentin in Nürnberg vor künftigen Beamt:innen einen Vortrag über Antisemitismus. Ein Teilnehmer sagte zur Referentin, Juden seien schon immer umgebracht worden und dies habe bestimmt auch „seinen Grund“.

„Derlei Äußerungen sind in Bayern leider Alltag“, sagt Seidel-Arpacı. „Diese Vernichtungsfantasien beschreiben einen Automatismus in Deutschland nach der Schoah: Ich bin auf etwas wütend, ich sehe mich etwas Ungewohntem gegenüber, und was mir einfällt sind Gestapokeller und Auschwitz. Im politisch-kulturellen Kontext der 80er-Jahre lässt sich das erklären. Zu dieser Zeit gab es auch in Bayern einen Aufwind für Neonazis und rechtsextreme Parteien, neonazistische Anschläge häuften sich. Nationalsozialistisches Gedankengut erlebte erneut eine Art Normalisierung. Unter Jugendlichen war eine Faszination für den Nationalsozialismus und eben auch für die Mordmaschinerie verbreitet. Sogenannte „Witze“ über die Schoah waren und sind noch immer gang und gäbe. Es geht auch nicht um einzelne junge Leute, sondern darum, dass man sich nach wie vor der Auseinandersetzung mit dem Fortleben des Nationalsozialismus in den Familien und Köpfen verweigert.“

RIAS Bayern hat eine Broschüre zum Thema Antisemitismus im Bezug auf die Schoah unter dem Titel „Multidirektionale Angriffe auf die Erinnerung. Post-Schoah-Antisemitismus in Bayern“ veröffentlicht. Sie ist online einsehbar und unter info@rias-bayern.de kostenfrei bestellbar.

Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden.

RIAS Bayern existiert seit 2019, befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.