„Hinter angeblichen Erinnerungslücken verschanzt“

Der Verband jüdischer Studenten Bayern fordert den Bayerischen Vizeministerpräsidenten und Wirtschaftsminister, Hubert Aiwanger, dazu auf, die gegen ihn vorgebrachten schwerwiegenden Anschuldigungen umfassend und transparent zu klären.

Aiwanger hat sich zwar zu den Vorwürfen, ein menschenverachtendes und antisemitisches Flugblatt erstellt und verbreitet zu haben, geäußert, doch bleibt das bisherige Verhalten hinter einer Mauer von Intransparenz und Erinnerungslücken verborgen.

Als hochrangiger Politiker trägt Aiwanger eine immense Verantwortung, die Werte des Freistaats Bayern sowohl zu repräsentieren als auch zu verteidigen. Wenn er, wie behauptet, nicht der Verfasser des besagten Pamphlets ist, bleibt dennoch die Notwendigkeit der Klärung seines möglichen Mitwirkens, insbesondere hinsichtlich der Verbreitung des Flugblatts. Ferner muss geklärt werden, wie das inhumane Material überhaupt in seine persönliche Tasche gelangen konnte, ohne dass er daran beteiligt war. Für uns, als junge jüdische Bürgerinnen und Bürger Bayerns, ist es inakzeptabel, dass sich Aiwanger bei derart gravierenden Anschuldigungen hinter angeblichen Erinnerungslücken verschanzt.

Es gilt, das Vertrauen nicht nur der jüdischen Gemeinschaft, sondern auch der gesamten Bevölkerung Bayerns wiederherzustellen. Dies ist unerlässlich, um Bayern weiterhin als weltoffenen und toleranten Freistaat mit Herrn Aiwanger an der Spitze zu präsentieren. Sollte dies nicht erfolgen, fordern wir alle politischen Lager auf, die Möglichkeiten einer demokratischen Zusammenarbeit mit Aiwanger kritisch zu überprüfen.

Der VJSB ist die Vereinigung für junge jüdische Menschen im Alter von 18 – 35 Jahren aus ganz Bayern. Der Verband umfasst mit seinen mehr als eintausend Mitgliedern einen Querschnitt aus Studierenden und jungen Berufstätigen. Hauptaufgabe ist es, junges jüdisches Leben in bayerischen Gemeinden mitzugestalten, eine Plattform zur landesweiten Vernetzung zu bieten und den jungen jüdischen politischen Aktivismus zu stärken. Mehr Informationen unter www.vjsb.de und in den sozialen Netzwerken.

2 Kommentare zu “„Hinter angeblichen Erinnerungslücken verschanzt“

  1. Lieber Zeitgenosse,
    sehe es ähnlich, allerdings nicht so bayrisch. Zur wahrscheinlich selben Zeit in Hessen, kursierten selbstverständlich die ähnlichen unsäglichen Judenwitze auf dem Schulhof. Gleichzeitig sangen wir natürlich auch: „Wir füllen unser Schwimmbad mit dem Blut der CDU“. Obwohl dies kein Vergleich ist! In meinen Augen ein immer wiederkehrendes pubertäres Ankämpfen gegen Verbote. Egal wie schlimm es ist!
    Nun aber der anscheinende Unterschied zu Bayern: Der sehr, sehr rechte Deutsch- und Politiklehrer führte uns geistig zur Abscheu der industrialisierten Verbrechen des NS-Regimes. Der eher linke Naturwissenschaftler hat Schüler aus fremden Ländern (damals nicht üblich) zu uns eingeladen und meine Abifahrt für 3Wochen nach Ägypten organisiert.

    Unser 40-jähriges Abi-Treffen fand ohne bekennende AfD oder schlimmere Fans statt.

    Klar hat nicht jeder seine weitere Entwicklung im Kibbuz gesehen, wobei bei mir eher ein diffuses starkes Schuldgefühl eine Rolle spielte. (Und es war so toll!!!)

    Halte persönlich zwar den gesamten Haufen der freien Wähler für ein populistisches Element der Demokratie, diese Diskussion jedoch für falsch und CSU-gesteuert. ( Und außerdem A.für ein A.)

    Ente

  2. Der Süddeutschen Zeitung gegenüber werden aktuell Vorwürfe erhoben, dass sie den Fall Aiwanger publik machte. Ich hingegen bin ihr dankbar, denn das, was sich nun wohl zu einer Affäre entwickeln wird, gab mir die Gelegenheit, auch meine eigene Kindheit und Jugend im katholischen Altbayern der Nachkriegszeit aufs Neue kritisch zu reflektieren.

    Auch in unserem Münchner Gymnasium wurden damals in den 1970ern Auschwitzwitze verbreitet und wir lachten oder zumindest schmunzelten darüber. Heute erscheint mir dies ganz irreal und unverständlich, aber es war so.

    Wie war das nur möglich, frage ich mich, dass wir einst ein derart gefühlloses und menschenverachtendes Verhalten an den Tag legen konnten?

    Keiner von uns damals hatte je einen Juden getroffen, Juden zu Freunden gehabt, Juden im täglichen Leben als ganz normale Gegenüber erlebt. Jude und Judentum stand als etwas Fremdes im Raum. Als etwas, das nicht recht zu unserem Verständnis von Bayern und Deutschland passen wollte.

    Unsere Lehrer in der Schule gehörten, wie unsere Eltern, teilweise noch der Kriegsgeneration an und der einzige Jude, den wir im Deutschunterricht näher kennenlernten, war Kafka. Den hassten wir von Beginn an, weil wir ihn nicht begriffen. Unsere Deutschlehrerin gab sich gewiss große Mühe, aber es war bei mir und meinen Schulkameraden verlorene Liebesmüh‘.

    Wir befanden uns damals in einer Phase der Identitätssuche, für meine Mitschüler war diesbezüglich eher alles klar, sie fühlten sich als Bayern und als solche irgendwie allen übrigen Deutschen gegenüber überlegen. Ausländer standen auf dieser selbstgezimmerten Hierarchie noch weiter unten und von Juden sprach man nicht. Ich persönlich konnte bayerischen Wertesystemen schon damals nichts abgewinnen, empfand hingegen deutsch und sah mich mit Deutsch auch irgendwie ‚oben‘ auf der Werteskala. Allerdings fehlte mir die Komponente Ausländerfeindlichkeit aufgrund meines migrantischen Hintergrundes. Juden sahen wir gewöhnlich als Leute an, die nur das Eine im Sinn hatten, mit ihren Erinnerungen an deutsche Schmach unserem ‚guten‘ deutschen Ruf Schaden zufügen zu wollen. Klar hatten wir nur eher selten ernsthaft vom Holocaust gehört. Er lag uns irgendwie zu fern, war uns nicht recht vorstellbar und unsere Geschichtsbücher waren uns keine Hilfe, wenn wir versuchten, etwas nachzulesen. Nirgends erfuhr man zum Beispiel etwas über die Sonderstellung Bayerns als Brutstätte, Geburtsort und Wiege des Nationalsozialismus, bzw. niemand sagte unsereinem, dass es ohne unser Bayern den NS wohl gar nicht hätte geben können.

    Wer sich einen Eindruck von den die Shoah betreffenden Inhalten bayerischer Geschichtsbücher jener (unserer Jugend-) Jahre machen möchte, dem sei dieser Beitrag zum bayerischen Starhistoriker vieler Jahrzehnte, Karl Bosl (dem Doktorvater des gleichfalls umstrittenen Wolfgang Benz), ans Herz gelegt:
    https://www.hagalil.com/2009/03/bayern-ns/

    Die Nachfolger des hier zerlegten Bosl, namentlich Hubensteiner, Prinz, Kraus, Zorn et alteri gaben sich ebenfalls keine große Mühe, die ganze unheilvolle Rolle Bayerns vor und im NS darzulegen.

    Kurzum, dem CSU-Staat, der Bayern seit nun schon sieben Jahrzehnten regiert, war es nie ein besonderes Anliegen gewesen, die Bayern über ihre wahre Geschichte zu informieren. Sonst hätte er doch wohl seinen beamteten Haushistorikern den Auftrag zu umfassender Information erteilt, oder (?).

    All dies entschuldigt Aiwanger, sollte er tatsächlich der Autor dieses Pamphlets gewesen sein, nicht. Der VJSB hat somit das allervollste Recht Aufklärung zu fordern.

    Blicke ich heute auf meine ehemaligen Mitschüler (und auf mich), so stelle ich fest, dass sie immer noch fast nichts über die Rolle Bayerns im NS wissen, dass sie sich unter Vorgabe verschiedener Ausreden (vom Beruf zu sehr strapaziert, soeben in einer persönlichen Krise, psychisch angeschlagen, so kurz nach der Scheidung nicht in der Lage) weigern, sich zu informieren oder gar, dass sie alle inzwischen bekannt gewordenen Schweinereien Bayerns heftig und entschieden als Lüge oder Unwahrheit abtun.

    Keiner der Mitschüler war je in Auschwitz oder Sachsenhausen/Oranienburg, von Yad Vashem oder dem Memorial für den Warschauer Ghettoaufstand ganz zu schweigen. Keiner kennt haGalil oder eine andere jüdische Internetplattform. Keiner bringt einen vollständigen und korrekten Satz in polnischer, ukrainischer, russischer oder hebräischer Sprache zustande. Keiner liest israelische Autoren oder kann einen israelischen Sänger oder ein hebräisches Lied nennen.

    Alle bedauern sie inzwischen, was damals „mit den armen Juden“ geschah. Aber: „Es ist doch schon so lange her“ und „alles so furchtbar deprimierend“, dass „jemand von uns ernsthaft verlangen kann“ uns darüber „noch“ einzulesen. Vielfach erschallt auch: „Lasst uns doch lieber nach vorne blicken“ bzw. „auch den Juden täte es gut, mal wieder positiv zu denken, dann kämen sie doch auch mit den Palis besser klar!“

    Bei mir ist das alles etwas anders verlaufen.
    Warum? — Ich traf im Studium und beruflich immer wieder Juden, mit denen ich mich nicht nur oberflächlich austauschte sondern auch anfreundete. Ich heiratete die Tochter eines Juden, der nur knapp den Verfolgungen entgangen war. Den Leseempfehlungen meiner Frau und meiner jüdischen Freunde folgte ich aufmerksam und mit Gewinn, ich lernte jüdische/israelische Musik kennen und schätzen, nahm an Kursen von Ulpan teil, besuchte all die genannten Gedenkstätten, freute mich darüber, als mein Sohn sich dafür entschied, sein soziales Jahr in Israel zu verbringen, reise selbst alljährlich nach Erez Israel…

    All das hatte unser lieber Freund Aiwanger (wohl?) nicht, wofür er mir ganz schrecklich leid tut.

Kommentar verfassen