Vom Primat der Humanität

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Flüchtlinge nahe der Grenze zwischen Serbien und Ungarn (25. August 2015), (c) Gémes Sándor/SzomSzed – http://szegedma.hu/hir/szeged/2015/08/migransok-szazai-ozonlenek-roszkerol-szegedre.html / CC BY-SA 3.0

Zur aktuellen Debatte um den europäischen ›Asylkompromiss‹ können aus jüdischer Ethik und Geschichte gespeiste Reflexionen einen andere Perspektiven eröffnenden Beitrag leisten.

Von Thomas Tews

Die Bundesregierung möchte laut ihrem Koalitionsvertrag auf europäischer Ebene »das Leid an den Außengrenzen beenden«. Nichtsdestotrotz stimmte sie am vergangenen Donnerstag im EU-Innenrat dem Kompromiss zu, der die Einführung verpflichtender, beschleunigter Asylverfahren an der EU-Außengrenze für Schutzsuchende mit einer Staatsangehörigkeit, deren Anerkennungsquote unter 20 Prozent liegt, vorsieht. Davon ausgenommen sind nach den aktuellen Plänen nur unbegleitete Minderjährige, nicht aber Familien mit Kindern. Während der bis zu einem Vierteljahr dauernden Grenzverfahren sollen die Schutzsuchenden unter wahrscheinlich haftähnlichen Bedingungen in ›Asylzentren‹ interniert werden.

Betroffen wären z. B. alle Schutzsuchenden mit tansanischem Pass, deren letztinstanzliche Anerkennungsquote in der EU im vergangenen Jahr bei 13 Prozent lag. Wenn zu Recht immer wieder die aus der europäischen Kolonialgeschichte erwachsene Verantwortung betont wird, wäre dann dies nicht eine gute Gelegenheit, sie einmal mit Leben zu füllen? Verantwortung gibt es dem jüdischen Religionsphilosophen Martin Buber (1878–1965) zufolge nur im Lebensvollzug: »Der Begriff der Verantwortung ist aus dem Gebiet der Sonderethik, eines frei in der Luft schwebenden ›Sollens‹, in das des gelebten Lebens zurückzuholen. Echte Verantwortung gibt es nur, wo es wirkliches Antworten gibt.«

Die geplante Internierung von Geflüchteten in ›Asylzentren‹ an der EU-Außengrenze erinnert ein wenig an das Schicksal der 4.515 Shoahüberlebenden, die sich 1947 von Frankreich aus mit dem Schiff »Exodus« auf den Weg in das damals noch britische Mandatsgebiet Palästina machten, dessen Küste sie am 18. Juli erreichten. Doch die Briten betrachteten sie als illegale Einwanderer und verwehrten ihnen die Landung. Stattdessen schleppten sie die »Exodus« in den Hafen von Haifa und brachten die Passagiere auf britische Schiffe, die den südfranzösischen Hafen von Port-de-Bouc anliefen. Dort weigerten sich die jüdischen Geflüchteten drei Wochen lang, von Bord zu gehen, bis sie schließlich gewaltsam nach Deutschland zurückgebracht wurden. Sie kamen in ein britisches Internierungslager in Lübeck, wo sie weiter Widerstand leisteten. Auf internationalen Druck hin ließen die Briten sie am 6. Oktober endlich frei. Viele von ihnen schlugen sich abermals nach Südfrankreich und von dort nach Palästina durch.

Zu den ethischen Grundnormen und handlungsleitenden Maximen im Judentum zählt insbesondere das als ›Goldene Regel‹ bekannte Humanitätsgebot. Der aus Babylon stammende, als Vierzigjähriger nach Jerusalem gekommene jüdische Philosoph Hillel, der von 30 v. u. Z. bis zum Jahr 10 u. Z. wirkte und als jüdischer Sokrates galt, soll dem Babylonischen Talmud zufolge auf die Frage eines Proselyten nach dem alle übrigen Gebote erfüllenden Hauptgebot geantwortet haben: »Was dir nicht lieb ist, das tue auch deinem Nächsten nicht. Das ist die ganze Tora, und alles andere ist nur die Erläuterung; gehe und lerne sie!« Diese Regel auf die vereinbarte Verschärfung der europäischen Asylpolitik angewandt führt zur Frage: Wer von uns würde wollen, mit seinen Kindern nach einer oft langen und lebensgefährlichen Flucht monatelang in wahrscheinlich haftähnliche Bedingungen aufweisenden, überfüllten Lagern interniert zu werden? Vor allem vor dem Hintergrund der psychischen Folgen dieser Internierung, die der auf Lesbos tätige Kinderpsychologe Thanasis Chirvatidis im Dezember 2020 wie folgt beschrieb: »Wir sehen weiterhin Hoffnungslosigkeit, Verzweiflung, Symptome von Depressivität und einige extreme Fälle von reaktiver Psychose, Selbstverletzungen und Suizidgedanken. Die schwersten Fälle von Kindern, die wir sehen, sind diejenigen, die isoliert sein wollen oder den Wunsch zum Ausdruck bringen, ihr Leben zu beenden. Sie wollen die ganze Zeit im Zelt sein, sie wollen keine Kontakte knüpfen und sie wollen tatsächlich sterben, um den Schmerz zu stoppen. Sie wollen einfach aufhören, sich so zu fühlen.«

Dass Regierungen demokratisch verfasster Staaten bestrebt sein müssen, mit ihrer Politik möglichst eine Mehrheit ihrer Bevölkerung mitzunehmen, versteht sich, aber die Würde des Menschen schützende Menschenrechte, die vor allem auch Minderheitenrechte sind, sollten nicht verhandelbar sein. Wer könnte dies besser verstehen als diejenigen, deren Menschenwürde in ihrer zweitausendjährigen Diaspora allzu oft mit Füßen getreten wurde? Daraus erwächst die Verantwortung, in Menschenrechtsfragen den Primat der Humanität zu verteidigen. Bleibt zu hoffen, dass die Abgeordneten des Europäischen Parlamentes dies bedenken, wenn sie über die Asylreform verhandeln.