Heute: Hermann Popert: Helmut Harringa. Eine Geschichte aus unserer Zeit. Dresden 1910, vorgestellt
Von Christian Niemeyer
Dieses ‚one-hit-wonder‘ von Hermann Popert (1871-1932), dichtender Amtsrichter aus Hamburg, ist ein ‚Kultbuch’ der Jugendbewegung (vgl. Herrmann 1989) und, mit einer Auflage von 310.000 Stück (1925), ein Bestseller sondergleichen. Er wird heutzutage in der Jugendbewegungsszene mehrheitlich als „Anti-Alkoholroman“ (Balcar 2018: 72) rubriziert, auch von John Khairi-Taraki (2017: 121). Die Syphilis wird hier zwar kurz erwähnt, aber im gleichen Atemzug „der Kampf gegen den Alkohol“ als „roter Faden“ des Romans herausgestellt. Leider falsch, wie im Folgenden deutlich gemacht werden soll: Der ‚rote Faden‘ dieses aus literaturwissenschaftlicher Lesart „Anti-Syphilis-Romans“ (Schonlau 2005) ist, wie im Folgenden angedeutet werden soll und andernorts ausführlicher begründet wurde (vgl. Niemeyer 2020: 474 ff.), die Syphiliserkrankung seines (vormaligen) Freundes Hans Paasche, ein Marinekapitän mit kolonialer Vergangenheit, der, ähnlich wie Reimers in Beyerleins Roman ob des Krieges zum Pazifisten und Nietzscheverehrer und Kaiserreichskritiker geworden war. Ziel Poperts, der Gegenseite zugehörend, also den völkischen und bellizistischen Kreisen der Jugendbewegung zugehörend, war es, am Fall Paasche, der in Afrika an Syphilis erkrankt war, seiner rassenhygienischen Besorgnis Ausdruck zu geben, auch seinen Anleihen beim damals grassierenden Antislavismus. (vgl. Niemeyer 2013: 110 ff.) Symptomatisch für Ersteres ist die Programmrede des Romanhelden Helmut Harringa, insbesondere der Passus: „Wer sind denn die, die bei uns so gewaltig zunehmen an Zahl? Welches Stammes Weiber sind es, die Kinder gebären wie Sand am Meer? Der Polen Weiber, nicht die der Deutschen!“ (Popert 201912: 122) Was hier durchklingt, ist die gegen Ende der Weimarer Epoche eskalierende, auch von Herman Nohl adaptierte (vgl. Niemeyer 32010: 172 ff.; 2021: 355 ff.) bevölkerungspolitische Botschaft, ‚der‘ Pole werde beim Kampf um den Platz an der Sonne rein zahlenmäßig irgendwann notwendig obsiegen – falls man nicht gegensteuere.
Deutlicher wird dies, wenn wir uns den Roman in seinen Einzelheiten einmal etwas genauer anschauen. Gestrickt ist die Geschichte nach dem bewährten Rezept der Kontrastierung von Gut und Böse, in diesem Fall: Der gute Syphilitiker heißt Friedrich, hat (wie Nietzsche, soll man hier wohl ergänzen) im jugendlichen Übermut ein einziges Mal ein Bordell besucht, sich unglücklicherweise gleich bei diesem einen Mal infiziert und sucht – wie die Literaturwissenschaftlerin Anja Schonlau knapp zusammenfasste – „den Selbstmord in der See, weil er mit ‚geschändetem Leibe‘ nicht leben will.“ (Schonlau 2005: 437) Instruktiv ist in dieser Frage der Wochen nach der Verlobung abgegangene Abschiedsbrief Friedrichs, wonach er den Freitod gewählt habe und ins Wasser gehen werde, denn: Nach einem feucht-fröhlichen Abend im Kreise seiner Burschenschaftler sei er von einem Mit-Burschenschafter zu einem Bordellbesuch überredet worden. Der ist allerdings nicht folgenlos geblieben – etwas verbrämt geredet, denn die Vokabel ‚Syphilis‘ wird von Popert, wie in seinem 1920er Nachruf auf Paasche, umgangen und versteckt sich, wie üblich, in Sätzen wie: „Der Arzt muß es mir angesehen haben, daß ich mein Schicksal begriff, als er mir den Namen der Krankheit nannte.“ (Popert 201912: 220) So ähnlich vermutlich auch Hans Paasche im Juni 1907 bei seinem Arztbesuch, den ihm, dem aus Afrika zurückgekehrten Marineoffizier, der in Aussicht genommene Schwiegervater jüdischen Glaubens und der wirtschaftlichen Elite des Kaiserreichs zugehörend, verordnet hatte – mit angedeuteten unangenehmen Befund à la Wassermann. Für den Romanhelden Helmut Harringa jedenfalls war die Sache zumal nach dem kurz darauf sich ereignenden Freitod seines Bruders Friedrich, eines „Siegfried, den ein finsterer Hagen erschlug“ (ebd.), klar: „Ich will ein Krieger sein im Heere des Lichts“ – namens und im Auftrag einer wunderlichen Prozession von Untoten, der zuletzt die vom Syphilitiker Eduard Wendland geschändete Lili Brooks „aus dem Dunkel der Nacht“ beitritt, als Rächerin für das ihr angetane Leid. Denn man muss hier bedenken (und sieht sich damit erneut verwiesen auf den roten Faden von Balzacs Contres drôlatiques): Lili erstes Kind wird totgeboren, und auch für die zweite Schwangerschaft lässt sich nach fünf Monaten nichts Gutes hoffen, gab diese der jungen Mutter „nichts von der schwellenden Kraft und Frische, die gesunden Frauen das keimende Leben verleihen kann“ (ebd.: 258), kurz: Das zweite Kind kommt zwar lebend zur Welt, wird aber „nie darüber nachdenken können, welch‘ köstliches Geschenk ein Leben sein kann“, die Mutter landet in der Heilanstalt, Diagnose: „Hirnlähmung“, Prognose bis zum Exitus: „sechs Monate.“ (Schonlau 2005: 359) Und der Vater, also Wendberg? Nun, so Anja Schonlau in pointierter Zusammenfassung: Während Lili „noch ihrem Tod entgegen siecht, hat der skrupellose Wendberg bereits eine neue Braut.“ (ebd.: 437) So, in etwa, sieht sie also aus, diese Mär des Hamburger Amtsrichters, die ihn offenbar das Bild eingab von einem „unendlichen Haufen von blassen Kindern, weinenden Frauen, Jünglingen mit Messerwunden in Brust und Rücken, und Männern in Sträflingskleidern und Spitalsgewand.“ (Popert 201912: 223) Dieses Bild wirkt beinahe wie eine Planskizze zu George Grosz‘ Gemälde Widmung an Oskar Panizza (1917/18) und erinnert an Grosz‘ Beschreibung: „In einer seltsamen Straße wälzt sich zur Nacht eine höllische Prozession entmenschter Figuren, in den Gesichtern spiegeln sich Alkohol, Syphilis, Pest.“ (zit. n. Ullrich 1997: 502)
Kurz: Zu reden ist, laut Popert, von der Gefahr des grundlegenden Verfalls und von gegenwirkenden Eingriffen, die angetrieben werden von der Sorge um die Erbsubstanz des deutschen Volkes und in der Erwartung, „daß die Sache, in deren Dienst sich Helmut Harringa stellte, wenn sie durchdrang, für die Wendbergs keinen Platz ließ auf dieser Erde.“ (Popert 201912: 277) In Übersetzung geredet: Es ging schon 1910 um so etwas wie die Endlösung der Syphilisfrage durch Ausschaltung der Infektiösen.
Autor: Prof. Dr. Christian Niemeyer, Berlin/TU Dresden (i.R.)
Text: Basiert auf meiner Darstellung Sex, Tod, Hitler. Eine Kulturgeschichte der Syphilis (1500-1947) am Beispiel von Werken vor allem der französischen und deutschsprachigen Literatur. Universitätsverlag Winter: Heidelberg 2022. Dort auch alle Literaturhinweise, Nachdruck (S. 261-263) aus jenem Buch mit freundlicher Genehmigung des Verlages.