Arbeiten nach der Shoah

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Die jüngste Veröffentlichung der Historikerin Jael Geis, die bereits mit mehreren Publikationen zur jüdischen Nachkriegsgeschichte in der frühen Bundesrepublik hervorgetreten ist, zu erinnern ist vor allem an ihre vielfach gelobte Studie „Übrig sein – Leben „danach“. Juden deutscher Herkunft in der britischen und amerikanischen Besatzungszone Deutschland 1945-1949“ (2000), widmet sich dem bislang kaum erforschten „Zusammenhang von Gesundheitsproblemen der Überlebenden mit den Anforderungen der Erwerbsarbeit“ (S. 5) nach der Befreiung Deutschlands vom Nationalsozialismus.

Rezension von Siegbert Wolf

Dauerhafte Schädigungen im Hinblick auf die physische und psychische Arbeitsfähigkeit rührten damals nicht nur aus den „Deportations-, Zwangs-, Arbeits-, Konzentrations- und Vernichtungslagern“, sondern, wie die Autorin betont, „auch durch das Überleben im Versteck, durch die Flucht und das Leben im Exil, durch einmalige Misshandlungen und ängstigende Erlebnisse in einem Kontext, in dem es immer um Leben und Tod ging.“ (ebd.) Langwierige körperliche und seelische Krankheitsverläufe erforderten wirksame Rehabilitionskonzepte und Maßnahmen seitens „internationaler, meist jüdischer, (Hilfs-)Organisationen“ (S. 6) sowie sachkundiges medizinisches Personal.

Während die Literatur über psychische Traumata von Überlebenden der Shoah und ihrer Nachkommen „inzwischen fast unüberschaubar“ ist, gilt dies nicht für Untersuchungen „über die Entwicklung physischer Probleme und über ihr Wechselspiel mit psychischen und gesellschaftpolitischen“ Faktoren. (S. 7) Um das Wechselverhältnis von Körper und Psyche darzulegen, zitiert die Autorin den Shoah-Überlebenden und Schriftsteller Jean Améry (1912-1978), der in der ihm zugefügten Folter, die jegliches Weltvertrauen zerstörte, die Essenz des Nationalsozialismus erblickte: „Die Grenzen meines Körpers sind die Grenzen meines Ichs.“ (zit. S. 8) Da es die Hautoberfläche sei, die den Menschen von der ihn umgebenden Welt abschließe, dürfe dieser, wenn er Vertrauen haben soll, nur zu spüren bekommen, was er „spüren will.“ (ebd.)

Wie können Traumafolgen, physische und psychische Symptomatiken, be- und verarbeitet werden, um ein zuträgliches Weiterleben der Überlebenden nach der Shoah zu ermöglichen? Grundlegend im Blick zu behalten gilt hierbei der „Zusammenhang zwischen der Vernichtung der europäischen Juden, den Verletzungen der Nachkriegszeit und dem physischen sowie psychischen Gesundheitszustand.“ (S. 18) Von beträchtlicher psychischer Bedeutung für die vielfach unter Hungerdystrophie und entsprechendem Gewichtsverlust leidenden Überlebenden waren vor allem die „bread and butter issues“ (S. 14), verbunden mit seelischer Unterstützung, was bedeutete, den Fokus zugleich auf soziale Maßnahmen „wie Wiederherstellung und berufliche Eingliederung“ (S. 18) zu richten. Allerdings war das quantitative Angebot an psychologischen und psychiatrischen Versorgungseinrichtungen dem damals erforderlichen Bedarf nicht gewachsen.

Da die sozio-politischen und gesundheitlichen Problemlagen in einem unauflöslichen Zusammenhang stehen, können sie folglich auch nur gemeinsam einer für alle Betroffenen individuellen Lösung, „medizinscher, therapeutischer und sozialpolitischer Natur“ (S. 19), zugeführt werden. Im Zusammenhang mit den Bemühungen zur Wiederherstellung der körperlichen und seelischen Gesundheit jüdischer Deutscher betont die Autorin die enge Verknüpfung von Arbeit und Wohnsituation. Arbeit bedeute „Begegnung mit der Welt, mit der Natur und dem sozialen Umfeld“, sowie „Selbstbegegnung und soziale Bindung.“ (S. 33) Dabei dürfe nicht verschwiegen werden, dass „die Rechte ehemals Verfolgter“ des NS-Regimes, „in Sachen Kredite, Arbeitsbeschaffung, Wohnungswesen, Sozialversicherung und Lastenausgleich nur sehr zögerlich jenen der Kriegsgeschädigten und Vertriebenen“ (S. 29) angeglichen wurden.

Um etwa die Arbeitsfähigkeit der Überlebenden der Shoah nach den erlittenen körperlichen und seelischen Misshandlungen und ihren nachhaltigen, physischen und psychischen Folgeerscheinungen (z. B. chronische Körperschwäche, Voralterung, Erschöpfung, Kraftlosigkeit, Aufmerksamkeits- und Konzentrationsstörungen, herabgesetzte Reaktionsfähigkeit, Antriebslosigkeit, organische Leiden, Muskel- und Körpergewebsschwund, chronische Entzündungen, Anämie), verbunden mit tiefgreifenden Gefühlen der Hilf- und Hoffnungslosigkeit, überhaupt stabilisieren zu können, Geis spricht aufgrund dieser Krankheitsbilder von Invalidität (S. 69), bezieht sich die Autorin auf medizinische Studien französischer, dänischer und mittel/osteuropäischer Ärzte, die mit der 1951 gegründeten „Fédération Internationale des Résistants“ („Internationalen Föderation der Widerstandskämpfer“) zusammenarbeiteten und zu dem aufschlussreichen Resümee gelangten, „dass die psychischen Symptome der Überlebenden“ auf „äußere und nicht innere Ursachen“ (S. 65) zurückgeführt werden müssten. Daraus ergebe sich die Notwendigkeit einer Fokussierung auf eine psychosomatische Medizin, d.h. nicht auf eine herkömmliche „krankheitszentrierte Medizin“, sondern auf eine „krankenzentrierte Medizin“ (ebd.). Gefragt waren also insbesondere psychsomatisch ausgerichtete Mediziner, wie z. B. Alexander Mitscherlich, Johannes Cremerius und Thure von Uexküll, die zugleich – u.a. auch als Gutachter in Entschädigungsverfahren – daran arbeiteten, die verwerfliche NS-Medizin durch menschengerechte Modelle zu ersetzen.

Jael Geis‘ Einblick in die Rehabilitationskonzepte nach Kriegsende (S. 80ff.), die verschiedenen Heilbehandlungen innerer und chronischer Krankheitsbilder, die konkreten Maßnahmen internationaler, meist jüdischer Organisationen sowie des medizinischen Fachpersonals, veranschaulicht, dass das Ziel jeglicher Heilung die Genesung des erkrankten Körpers und zugleich die seelische Rekonvaleszenz betraf, die „Genesung von Verlust – Verlust von Gesundheit, von Qualifikationen, von wichtigen persönlichen Beziehungen und gesellschaftlichen Verbindungen“ zur „Wieder-Entwicklung von Initiative“ (S. 82), um das „Gefühl für den eigenen Wert und den eigenen Willen“ zu stärken und damit „Selbstachtung und sozialen Status wiederherzustellen.“ (ebd.) Vor allem die Fokussierung auf persönliche und soziale Aktivitäten seien die geeignetsten Mittel, Regression und Apathie zu überwinden und wieder zu einem individuellen Sicherheitsgefühl zu gelangen. Reintegration von DP’s und Wiederherstellung von Selbstwertschätzung, Sozialkompetenz und kooperativem Verhalten könne etwa mittels „Gruppentreffen zur Diskussion anfallender Probleme und zum Austausch von Meinungen“ gefördert werden – vor allem auch, „um die Voraussetzungen gelingender Arbeit“ zu schaffen (S. 84).

Die von der Autorin exemplarisch genannten Rehabilitationszentren in Passau, Bayerisch-Gmain, Ziegenhain und im DP-Lager für Kinder in Aschau sollten neben der medizinischen Versorgung mittels Beschäftigungstherapien und Berufsausbildung zugleich dazu beitragen, für finanzielle Mittel zur Existenzgründung und -sicherung – Stichwort: Darlehnskassen – zu sorgen, damit sich die NS-Überlebenden wieder in das Arbeitsleben integrieren konnten: „Nicht nur für jüdische Oganisationen, auch für viele ihrer Mitglieder war Arbeit […] ein wichtiger Schritt zurück ins Leben, auch wenn sich seiner Umsetzung so manche Erschwernis entgegenstellte.“ (S. 130) So gelang es vielen Überlebenden der Shoah nach 1945 „mithilfe von Arbeit und der damit verbundenen gesellschaftlichen Wertschätzung wieder (Selbst-)Anerkennung“ zu erfahren, die es ihnen ermöglichte die „Position der Schwäche sowie der Fremdbestimmung“ zu überwinden (S. 131).

Die Rehabilitation und Wiederherstellung ehemaliger NS-Opfer vollzog sich dabei „großenteils in jüdischer Eigenregie“ (S. 132) und ermöglichte für entstandene individuelle und kollektive Problemlagen Lösungen zu finden, die, so Jael Geis in ihrer lesenswerten, eine wichtige Forschungslücke schließenden Studie resümierend, „gemessen an den Verletzungen und Bedürfnissen, nie wirklich adäquat sein konnten, jedoch ihren Anteil am Weiterleben und am Fortbestand der persönlichen und kollektiven Existenz hatten.“ (ebd.).

Jael Geis, Arbeiten nach der Shoah. Baden-Baden: Deutscher Wissenschafts-Verlag (DWV), 2022, 147 S., 19,95 €, Bestellen?