Lodz – Erinnerungen in einer Stadt des nicht-Erinnerns

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An einem sonnigen Sonntag im Herbst 2022 begaben wir uns, meine Kollegin und ich, zum jüdischen Friedhof in Lodz. Das ist eine der größten jüdischen Grabstätten und beherbergt ca. 180.000 Gräber. Sichtlich müde nach einer Woche Archivarbeit sind wir auf der Suche nach einer jüdischen Familiengeschichte, um ein Skript für einen historischen Animationsfilm zu verfassen. Vielleicht finden wir Gräber der im Fokus stehenden jüdischen Protagonisten dieses Films?

Von Alexander Schneidmesser

Ein Kontakt mit der jüdischen Gemeinde und auch eine Suche mit der Plattform „jiri“ machte uns Hoffnung, dem Ziel schon bald näher zu kommen. Als wir am Ort ankamen, erwartete uns außer zwei Personen von der jüdischen Gemeinde und einem Gärtner ein fast leerer Friedhof.

Nach einer Woche Forschungstätigkeit in Lodz hofften wir, in Lodz das ehemalige Ghetto Litzmannstadt zu besuchen und dort nach Spuren des Erinnerns an den Holocaust zu recherchieren. Sobald man über die ehemalige „Grenze“ von der Lodzer Innenstadt ins Ghetto gelangt, entdeckt man nur wenig von der Geschichte des Ortes.

Das ehemalige Wohnviertel wurde von den Deutschen 1940 dem Erdboden gleich gemacht. Das Gebiet zwischen dem Ghetto und dem sogenannten arischen Stadtgebiet funktionierte als Todesstreifen. Jetzt ist es ein Stadtpark.

Eine Statue des Moses mit den 10 Geboten nimmt Besucher in Empfang wie eine zynische Erinnerung an das ehemalige jüdische Leben in Lodz. Warum gibt es das nicht mehr? Vom Todessstreifen an der Grenze des Ghettos ist nichts zu finden – weder eine Infotafel noch ein Denkmal. Auch die Existenz der Synagoge, die am gleichen Ort stand, ist nirgendwo erwähnt.

Statue des Moses mit den Zehn Geboten

Lodzer Jugendliche erzählten uns, es sei ein Plakat mit den Informationen darüber am Bauzaun gehangen. Von diesem Plakat fehlte am Ort jedoch jede Spur. Nur wenn man sehr genau auf den Boden schaut und weiß, wonach man sucht, findet man eine weiße Markierung des Territoriums des Ghettos.

Ein weiterer Anlaufpunkt ist „das Rote Haus“, ein unübersehbares, komplett mit roten Ziegeln verkleidetes Gebäude. Dort wollten wir uns über die Geschichte des Ortes informieren. Stattdessen trafen wir auf die Verweigerung der Erinnerung oder vielmehr ihre Leugnung.

„Das Rote Haus“Am Beginn des Ghettos, am ehemaligen Kirchplatz östlich von der Großen Kirche hängt ein riesiges Plakat für das polnische Märtyrertum, im „Roten Haus“ befand sich die Schupo und Kripo während des Litzmannstädter Ghettos.

Vor dem Krieg wie auch danach ist es eine Priesterresidenz. Nichts darin erinnert einen Besucher an die Opfer des Ghettos, an die Folter und Morde in diesem Haus während des Kriegs. Im Eingangsraum wird man von Bildern der katholischen Heiligen und Galionsfiguren der Katholischen Kirche empfangen. Diese werden ergänzt von den schwarzweißen Bildern der Priesterseminare und Ausflugsfahrten mit katholischen Jugendlichen. Es riecht stark nach Weihrauch und erzeugt einen schaurigen Hauch von Stanley Kubricks „Shining“.

„Das Rote Haus“ – Eingangsraum

Als ich die anwesenden Priester frage, ob es in diesem Gebäude Gestapo, Kripo oder Schupo gab, wird mir das scharf verneint und ich solle verschwinden.

Offensichtlich arbeitet die polnische Kirche mit der aktuellen Regierung zusammen und die Geschichtspolitik wie auch die Politik gegenüber Frauen sind leider rückwärtsgewandt.

Nach diesem Erlebnis war klar, dass das Baluty Gebiet weitgehend immer noch, wie das Ghetto aussieht. Es wurde nicht wie das Warschauer Ghetto dem Erdboden gleichgemacht, jedoch ist es bemerkenswert, wie das Ghettogebiet von der Stadt vernachlässigt wird.

Wohnblöcke auf dem Gelände des ehemaligen Ghettos Lodz – Treppenhaus

Einen bitteren Beigeschmack hatte für mich der Besuch zweier weiteren Orte auf dem Gebiet des ehemaligen Ghetto Litzmannstadt. Auf dem Gelände des ehemaligen Erschießungsplatzes des Ghettos ist heute eine Psychiatrische Klinik, dort gibt es als ein kleiner Hinweis auf die Geschichte des Ortes nur einen kleinen Stein am Rande des Parks.

Gedenkstein am Ort des Erschießungsplatzes des Ghetto Lodz

Der zweite schockierende Ort ist das umliegende Gebiet, wo sich das Gelände der Feuerwache des Ghetto Litzmannstadt befand. Diese Feuerwache hatte eine traurige Bedeutung in der Geschichte des Ghettos. Dort verkündete Chaim Rumkowski Anfang September 1942 die „Aktion Gehsperre“, infolge derer vom 5. bis zum 12. September 1942 mehr als 20.000 Lodzer Juden, vor allem Kinder unter 10 Jahren und Menschen über 65 Jahren deportiert wurden.

An diesem Ort gibt es ebenso keinen Gedenkstein, kein Denkmal. Lediglich ein selbstgemachter handgeschriebener Zettel ist dort auf einem Baum vorhanden. Über diesem hängt eine Laterne mit einer Jesusfigur auf dem Baum und einer Kerze auf dem Boden.

Gelände der Feuerwache des Ghetto Litzmannstadt

Es gibt aber auch Positives zu berichten. Das Centrum „Dialog“ wurde östlich vom Ghettogebiet in Lodz gebaut, um die Geschichte des Ghetto Lodz weiterzugeben. Das Zentrum versucht der autoritären Regierungspolitik entgegenzusteuern. Im Gedenken an Mark und Alina Margolisa Edelman wird an diesem Ort empathische Pädagogik gelehrt und gelernt, zudem gibt es drei Ausstellungsstände über das Ghetto. Angesichts der politischen Situation halten sich nicht viele Menschen im Zentrum auf. Es gibt Angebote für die ukrainischen Geflüchteten, zum Beispiel Sprachkurse und Austausch.

Volontäre und Besucher am Jüdischen Friedhof Lodz

Eine weitere positive Feststellung machten wir am Jüdischen Friedhof, wo unsere Reise begonnen hatte. Junge Menschen zwischen 16 und 45 waren zu einer Führung über den Friedhof gekommen. Wir sahen zudem, dass mehrere Menschen Harken und Schaufeln dabei hatten und dabei waren, den Friedhof sauber zu gestalten und Laub wegzufegen.

Die Lokalhistorikerin Magda erzählte uns von den Bemühungen, bei den wöchentlichen Treffen den Friedhof in Ordnung zu bringen. Zu den Führungen sollen auch immer mehr Menschen kommen.

Bei unserer Suche nach den Gräbern lernten wir einen Friedhofsbesucher kennen, der uns positiv überraschte. Er heißt Darek, ist Lehrer für Mathematik, Wirtschaft und Sprachen und interessiert sich für die jüdische Geschichte seiner Stadt. Die persönliche Geschichte von Ary Sternfeld, dem jüdisch-polnischen Pionier der Luftfahrt, interessiert ihn ganz besonders. Er bot uns an, eine Tour mit seinem Auto durch die Stadt zu machen, uns nach Radegast zu dem zentralen Deportationsort aus dem Ghetto zu bringen und uns den Erinnerungsort zu zeigen.

Gedenkstätte Radegast

Eine von der Organisation „Topografie des Terrors“ finanziell unterstützte Ausstellung am ehemaligen Bahnhof Richtung Chelmno und Auschwitz präsentiert riesige Grabsteine mit den Namen des Konzentrations- und Vernichtungslagers. Sie sollen an die ermordeten Juden, Sinti und Roma erinnern.

Gedenkstätte Radegast – Grabsteine

Ebenso liegen dort Deportationslisten zur Einsicht aus und bieten die Möglichkeit, nach Verwandten zu suchen und zu recherchieren. Außerdem sind ein Model des Ghettos und Gedenktafeln für Juden aus Österreich, Deutschland und Tschechien zu sehen.

Dies ist ein wichtiger Ort der Erinnerung, jedoch ist er zu weit vom Zentrum der Stadt und vom Beginn des Ghettos entfernt. Es ist wichtig, dass ein Museum mit einem Gedenkstein in der Mitte der Stadt liegt, als ein Ort des Lernens und des Erinnerns, vielleicht in Zusammenarbeit mit dem Centrum Dialog.

Es fehlt ein solcher Ort, wo die Auseinandersetzung mit der grundlegenden Geschichte der Juden und des Holocaust in Lodz möglich und gewünscht ist. Stattdessen wird im Stadtmuseum in Lodz nostalgisch an die jüdische Bevölkerung erinnert, aber nicht der Mord als Grund des Verschwindens genannt.

Darek fuhr uns zu der inzwischen sehr kleinen Jüdischen Gemeinde von Lodz, die Geflüchtete aus der Ukraine aufnimmt und versorgt. Diese verhandelt regelmäßig mit der Besitzerin der einzig übrig gebliebenen Synagoge der Stadt, der Reicher Synagoge in der 28ten Revolutionsstraße von 1905. Wenn die Verhandlungen glücken würden, würde die Jüdische Gemeinde, die 1895 erbaute Synagoge nutzen können.

Reicher Synagoge

Darek hat uns weitere Orte aus dem Ghetto gezeigt, zum Beispiel den Drehort des Films „Europa Europa“ von Agnieszka Holland.

Zusammenfassend haben wir die Erfahrung gemacht, dass Lodz zu seiner jüdischen Geschichte im Nationalsozialismus und dem Holocaust schweigt. Zwar wird im Stadtmuseum und im Textilmuseum über das Jüdische Leben in Lodz gesprochen. Der Grund für das Verschwinden der jüdischen Menschen wird jedoch nicht erwähnt. Besonders zynisch ist zu dem der Verkauf und die Existenz des „Lucky Jew“, einer antisemitisch gezeichneten jüdischen Figur, die laut der polnischen Legende Geld in der Hand haben und dem Besitzer Geld und Erfolg bringen soll.

„Lucky Jew“ in einem Hotel in Lodz

Im Gegenzug dazu geben Menschen wie Darek, Magda, Volontäre und Teilnehmer an der Führung auf dem Jüdischen Friedhof, sowie das Centrum „Dialog“ Hoffnung, dass es in Lodz zu einer erinnerungspolitischen Wende kommt, in der die Bevölkerung sich mit der eigenen Geschichte und der Geschichte von Juden auseinandersetzt und in Cafes und Shops keine „Lucky Jew“ mehr aufstellt.

Bild oben: „Grenzmarkierung“ des ehemaligen Ghetto Lodz 
Alle Fotos: © A. Schneidmesser