Der Beginn einer wunderbaren Freundschaft?

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Ganz offiziell existieren die diplomatischen Beziehungen zwischen Israel und Marokko erst seit Dezember 2020. Doch sie haben eine lange Vorgeschichte. Und während der Austausch von Botschaftern in Israel als außenpolitischer Erfolg gefeiert wird, bleiben die Kontakte zum jüdischen Staat unter Marokkanern ein Streitthema.

Von Ralf Balke

Zwei Ereignisse aus jüngster Zeit verweisen auf die Schwierigkeiten bei der Einschätzung. Als nach dem 2:1-Spiel gegen Kanada auf der Fußball-WM in Katar der überraschende Gruppensieg von Marokko feststand, rannten einige der marokkanischen Kicker, allen voran Jawal al Yamig und Selim Amallah, eine Ehrenrunde auf dem Platz, wobei sie unter dem Beifall der Zuschauer palästinensische Fahnen schwenkten. Aber auch während der Krawalle, die marokkanische Jugendliche in Brüssel und anderswo nach den überraschenden Siegen Marokkos in Europa initiierten, waren immer wieder palästinensische Fahnen zu sehen. Sogar bei friedlich verlaufenden  Jubelfeiern, beispielsweise in Düsseldorf, brüllten marokkanische Fans regelmäßig die Parole „Free Palestine“.

Zur gleichen Zeit gab es in Marokko eine Premiere. In der Hauptstadt Rabat wurde das israelische Musical „Bustan Sephardi“ aufgeführt, und zwar auf Hebräisch. Die neue Version des 1969 entstandenen Stücks zeigt den Alltag in einem sephardisch-geprägten Viertel im Jerusalem der 1930er Jahren und wurde damals von Yitzhak Navon geschrieben, später Israels fünfter Staatspräsident. Die Initiative zu der Aufführung ging von Navons Sohn Erez aus. Denn die Familie selbst hat marokkanische Wurzeln, 1742 wanderten die Vorfahren aus dem damaligen Sultanat in die osmanische Provinz Palästina aus.

„Wir wurden vom israelischen Sicherheitspersonal diesmal nicht aufgefordert, auf keinen Fall Hebräisch zu sprechen oder jüdische Symbole zu verstecken. Wir haben uns so verhalten, wie wir es in Jerusalem tun würden“, berichtet Noam Semel, Direktor des israelischen Nationaltheaters Habima, der Presse. Auch endete die Performance mit der israelischen Nationalhymne, gemeinsam gesungen von einem marokkanischen Chor und den israelischen Schauspielern. „Es ist verrückt, ich kann nicht glauben, dass wir auf der Bühne des marokkanischen Nationaltheaters Hebräisch sprechen“, freut sich der israelische Schauspieler Tal Mosseri. Auch die Reaktionen des Publikums sollen äußerst positiv ausgefallen sein. „In Marokko lebten einst Muslime und Juden zusammen“, so ein marokkanischer Zuschauer gegenüber dem israelischen TV-Sender Kanal 12. Und der ebenfalls anwesende Minister für Jugend, Kultur und Kommunikation, Mohamed Mehdi Bensaid, ergänzt: „Es gibt viele Marokkaner in Israel, so dass die Aufführung eine Brücke zwischen beiden Gemeinschaften darstellt.“

Beides zeigt, dass unter Marokkanern offensichtlich keine Einigkeit über das im Dezember 2020 von Israel und Marokko unterzeichnete Abkommen, das die Normalisierung der Beziehungen beider Länder einleiten sollte, herrscht. Während Israelis als Touristen von den seither möglich gewordenen direkten Flugverbindungen reichlich Gebrauch machen und zumeist begeistert über die freundliche Aufnahme wieder zurückkehren, gibt es im Gegenzug in Marokko reichlich Unwillen über die neue Freundschaft. „Der diplomatische Schritt hat – wenig überraschend – eine Vielzahl öffentlicher Reaktionen bei den politischen Parteien und in der Zivilgesellschaft ausgelöst, die von ehrlicher Begeisterung bis hin zu Vorwürfen des Verrats reichen“, lautet dazu die Einschätzung von Dr. Sadik Rddad, einem der Gründer des Moroccan Cultural Studies Center in Fez, in einem Beitrag für das „Fikra-Forum“, einer Initiative des Washington Institute for Near East Policy. „Begleitet wird das Ganze durch den Hashtag #NormalisierungistVerrat.“

Selbstverständlich leitete König Mohammed IV. nicht aus plötzlicher Begeisterung für den Zionismus die Normalisierung der Beziehungen beider Länder ein, sondern aus ganz pragmatischen Gründen. Denn Israel hat genau das im Angebot, was Marokko so dringend braucht, und zwar reichlich Hightech und Waffensysteme. So unterzeichneten im Februar 2022 beide Länder einen Deal, der vor wenigen Jahren noch undenkbar gewesen wäre. Für rund 500 Millionen Dollar erwarb Marokko das hochmoderne Luftabwehrsystem Barak MX, das von Israel Aerospace Industries hergestellt wird. Es war nicht das erste Geschäft. Schon ein Jahr zuvor hatte Rabat das Anti-Drohnen-System Shylock in Israel bestellt. Und im Juli 2022 war Israels Generalstabschef Aviv Kohavi in Begleitung von Brigadegeneral Effie Defrin sowie dem Chef der Militärischen Recherchedivision, Amit Saar, zu Gesprächen im Land eingetroffen – alles ganz offiziell und in Uniform. Sogar gemeinsame Militärmanöver sollen bald stattfinden. Inoffiziell bestanden solche Kontakte bereits seit Jahrzehnten, vor allem auf Geheimdienstebene. So hatte Mitte der 1960er Jahre der damals regierende König Hassan II. dem Mossad sogar erlaubt, die Gespräche eines Gipfels der Arabischen Liga in Casablanca live mitzuhören. Im Gegenzug halfen die Israelis dem marokkanischen Monarchen dabei, einige unliebsame Oppositionelle im französischen Exil kalt zu stellen.

Auch gab es schon einmal semi-offizielle Kontakte. Das war in den 1990er Jahren, als der Friedensprozess von Oslo ein Ende des Konflikts zwischen Israelis und Palästinensern versprach. Beide Länder eröffneten im jeweils anderen ein Verbindungsbüro. In der Diplomatie ist das eine Ebene unterhalb des Austauschs von Botschaftern. Nach dem Ausbruch der Zweiten Intifada machte Rabat diese Vertretung in Tel Aviv aber wieder dicht. Trotz des Nichtvorhandenseins offizieller Beziehungen konnten israelische Touristen via Frankreich oder andere Länder aber problemlos in das nordafrikanische Land einreisen. Von dieser Option machten jedes Jahr rund 50.000 Israelis Gebrauch – schließlich haben knapp eine Million Israelis marokkanische Wurzeln, weshalb viele von ihnen das Land immer wieder besuchen.

Im Kontext dieser neuen Freundschaft mit Israel erfolgte die Anerkennung der Souveränität Marokkos über die ehemalige Spanisch-Sahara durch die Vereinigten Staaten – für viele Marokkaner ein wichtiger Schritt, weil die Herrschaft des nordafrikanischen Staats über dieses Territorium international weiterhin umstritten ist. Vor allem in Algerien reagierte man verschnupft auf das Ganze, sprach von einem „häßlichen Deal“, bei dem man sowohl die westsaharische Befreiungsorganisation Polisario als auch die Palästinenser gleichermaßen verraten hätte. „Die Normalisierung der diplomatischen Beziehungen zwischen Rabat und Tel Aviv ist heute Teil des binären Paradigmas in den politischen Narrativen in Marokko, die durch die Hashtags #Marokkozuerst und #NormalisierungistVerrat gekennzeichnet sind“, bringt es Sadik Rddad auf den Punkt. „Die Befürworter einer Annäherung an Israel vertreten dabei ganz pragmatische Standpunkte. Sie wollen die territoriale Integrität schützen und die enormen wirtschaftlichen Chancen nutzen, die sich nun ergeben. Nur stehen sie jetzt vor der Herausforderung, all das mit ihrer traditionellen Haltung in Einklang zu bringen, bei der es um die Verteidigung der Rechte der Palästinenser ging, wobei man sich gegen eine Normalisierung aussprach.“

Die Befürworter von engen Kontakten mit Israel verweisen stets auf die einzigartigen historischen, kulturellen sowie persönlichen und spirituellen Verbindungen Marokkos zu Israel. Damit meinen sie die Präsenz einer großen Gruppe von Menschen, deren Familiengeschichte eng mit dem nordafrikanischen Staat verbunden ist, sowie die Anerkennung des Judentums als Bestandteil der nationalen Identität durch die 2011 verabschiedete Verfassung. Marokko habe, so heißt es immer wieder, seit 1948 fast alle seiner jüdischen Bürger verloren, weshalb in Israel eine marokkanische jüdische Gemeinschaft entstanden ist, die schon König Hassan II. als Botschafter Marokkos bezeichnet hatte. Die Gegner dagegen sprechen von einem „Verbrechen“, allen voran Ahmed Ouihman, Leiter einer sogenannten Marokkanischen Beobachtungsstelle gegen eine Normalisierung. „Dieses Abkommen leitet eine neue Welle des zionistischen Vordringens ein und ist als eklatanterer Versuch zu bewerten, die Würde der Marokkaner zu verletzen“ erklärte er gegenüber Alresala TV. „Tatsächlich trägt das Abkommen mit zu den israelischen Verbrechen gegen unsere palästinensischen Brüder bei.“ Ahmed Ouihman ist der Meinung, dass die Souveränität über die Sahara nicht erst von Zionisten anerkannt werden muss, sondern dort bereits eine historische, soziale und kulturelle Realität sei. Selbstverständlich sind für ihn alle Befürworter von Kontakten mit Israel bezahlte Agenten.

Obwohl Marokko eine islamisch legitimierte Monarchie mit konstitutionellen und demokratischen Ansätzen ist, hat in allen relevanten Fragen letztendlich der König das Sagen. Demonstrationen gegen seine Israelpolitik würde er wohl nicht zulassen, aber ablehnende Stimmen wie Ahmed Ouihman können sich wohl innerhalb eines bestimmten Rahmens äußern und ihre Kritik formulieren ohne gleich sanktioniert zu werden. Umgekehrt wäre es aus der Perspektive des Königs nicht sehr geschickt, die Gegner einer Annäherung direkt mundtot zu machen. Das könnte Folgen haben. Denn Antisemitismus ist in Marokkos Gesellschaft ebenfalls nichts völlig Unbekanntes, wie der Politikwissenschaftler Rachid Touhtouh im „Deutschlandfunk“ anmerkte: „Israel wird dämonisiert, das ist eine Folge der ideologischen Indoktrinierung von Kindesbeinen an: Israel ist schlecht, alles Jüdische ist schlecht. Und auch im marokkanischen Dialekt sagen wir: Ach bist du jüdisch, um zu sagen, jemand betrügt dich.“ Zugleich verweist er aber ebenfalls auf sich verändernde Mentalitäten. Die jüngere Generation sei nicht so ideologisch vorbelastet wie die seine, die noch von den Kriegen zwischen Israel und arabischem Nationalismus geprägt ist.

Genau dieser arabische Nationalismus spielt bei vielen Marokkanern eine zunehmend untergeordnete Rolle. Über ein Drittel der Bevölkerung des Landes sind ohnehin Berber, also keine Araber, die zudem eigene Sprachen sprechen. Auch hat sich vor allem unter den Jüngeren eine stärkere marokkanische Nationalidentität entwickelt, weshalb in manchen politischen Kontexten die Palästinenser eben keine so große Rolle mehr spielen, wobei Parallelen zu den neuen Beziehungen Israel in der Golfregion zu beobachten sind. So sehen die Vereinigten Arabischen Emirate oder Bahrain in Israel einen Partner, weil man sich ebenfalls vom Iran bedroht fühlt. Und Marokko befindet sich seit vielen Jahren im Clinch mit dem Israel gleichermaßen sehr feindlich gegenüber eingestellten Algerien, weshalb auch in diesem Fall gemeinsame Sicherheitsinteressen überwiegen. Und noch etwas ist auffällig: Sowohl die marokkanischen Fußballspieler, die mit Palästinaflaggen rumrannten, als auch die „Free Palestine“-Rufer leben zumeist gar nicht in Marokko selbst, sondern in Europa, wo sie auch sozialisiert worden sind.