Die Israelis haben gewählt. Aller Voraussicht nach wird Benjamin Netanyahu eine Vier-Parteien-Koalition mit ihm als Ministerpräsidenten an der Spitze bilden. Gewinner und Verlierer der Wahl gibt es also einige – eine kleine Wahlnachlese.
Von Ralf Balke
Die Stimmen vom 1. November sind ausgezählt. Der neue Ministerpräsident in Israel wird Benjamin Netanyahu heißen – wieder einmal. Erwartungsgemäß ist seine Partei, der Likud, mit 32 Mandaten als stärkste Kraft aus dem Rennen hervorgegangen. Auch die Ergebnisse der meisten anderen Parteien kamen nicht unbedingt überraschend. Zwar hat der amtierende Ministerpräsident Yair Lapid mit seiner Yesh Atid-Partei im Vergleich zu den Wahlen im März 2021 satte sieben Sitze hinzu gewonnen und kommt daher erstmals auf 24 Sitze in der Knesset. Doch wird ihn dieses Rekordergebnis nicht darüber hinwegtrösten können, dass es mit der Regierungsbildung mangels ausreichend potenter Koalitionspartner Essig wird. Und während auf Seiten der Noch-Opposition der Jubel keine Grenzen kennt, herrscht bei nicht wenigen Israelis Katerstimmung vor.
Mit seinen drei Partnern, und zwar den Religiösen Zionisten sowie den beiden Parteien der Ultraorthodoxie, Shass und Vereintes Torah-Judentum, wird sich Netanyahu aller Voraussicht nach auf eine Mehrheit von 64 der 120 Knesset-Abgeordneten stützen können. Erstmals seit Beginn der politischen Dauerkrise, die im Herbst 2019 ihren Anfang nahm, sieht es so aus, als ob Israel eine halbwegs stabile Regierung erhält und die Israelis nicht wieder in ein paar Monaten erneut zu den Wahlurnen gerufen werden müssen. Dabei zeigt das Wahlergebnis vom 1. November bei genauerer Betrachtung, dass der Sieg des rechtsreligiösen Blocks mehrere Gründe hat. Denn im Unterschied zu den letzten Wahlen im März 2021 hatten vor einigen Tagen mehr Israelis von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht, und zwar 71 Prozent statt 67 Prozent. Interessant ist in diesem Kontext, in welchen Orten die Zahl der Wähler höher war und wo nicht. So blieb in den urbanen Zentren, in denen traditionell eher die politische Mitte oder liberale und vielleicht linke Parteien stark sind, also in Tel Aviv, Herzelyia, oder Kfar Saba, Givatayim und Ra’anana, die Wahlbeteiligung im Vergleich praktisch unverändert. Ganz anders dagegen sah es in Beer Sheva, Ashdod, Asheklon oder Kiriyat Gat aus, allesamt Orte, die eher als rechte Hochburgen gelten. Dort lag sie um drei bis sieben Prozentpunkte höher.
Oder anders formuliert: Im Frühjahr 2021 haben 2,22 Millionen Israelis ihre Stimme für Parteien abgegeben, die der „Bloß-nicht-Bibi!“-Parole folgten. Das Pro-Bibi-Lager kam dagegen auf nur 2,13 Millionen Wählerstimmen. Am 1. November konnten die Gegner des alt-neuen Ministerpräsidenten zwar ein Plus von fünf Prozent erzielen, kamen demnach auf 2,33 Millionen Wähler. Aber das sollte ihnen nicht viel helfen. Denn der Netanyahu-Block konnte sogar elf Prozent dazugewinnen, kam demnach auf 2,36 Millionen Stimmen, gewann somit 230.000 Stimmen hinzu, die anderen jedoch nur halb so viel.
Noch deutlicher werden diese Zahlen, wenn man sich die einzelnen politischen Gruppierungen der jeweiligen Lager anschaut. Und da zeigt sich, dass die Parteien der Ultraorthodoxen es am besten verstanden hatten, ihre Anhänger zu motivieren. Sie konnten die Gesamtzahl ihrer Wähler um satte 19 Prozent steigern. Beim Likud sowie den Religiösen Zionisten sah das Ganze etwas bescheidener aus. Aber auch sie brachten mindestens acht Prozent mehr Wähler dazu, für sie zu stimmen. Yesh Atid, die Nationale Allianz von Benny Gantz und Gideon Saar, sowie die Arbeitspartei und Meretz dagegen hatten nicht so viel Überzeugungskraft. Insgesamt büssten diese vier Parteien sogar ein Prozent ein, was zeigt, dass ihre Kampagnen nicht die erhoffte Resonanz hatten. Und die Tatsache, dass die Wahlbeteiligung der arabischen Israelis im Vergleich zum März 2021 diesmal um 35 Prozent höher lag als im März 2021, kam zwar ihren Parteien zugute und garantierte der Hadash-Ta’al-Liste sowie Ra’am den Wiedereinzug in die Knesset, änderte aber wenig am Endresultat.
Schwachpunkt der Bibi-Gegner war der Umstand, dass es sich bei ihnen um vergleichsweise viele Parteien mit einer eigenen Agenda handelte, die zudem von der 3,25 Prozent-Hürde bedroht waren. Einigen von ihnen sollte darüber hinaus die hohe Wahlbeteiligung zum Verhängnis werden. Denn als Faustregel gilt: Je mehr Israelis ihre Stimme abgeben, desto eher profitieren die großen Parteien davon. Wackelkandidaten mit einer relativ kleinen Basis kommen dann in Bedrängnis – egal, ob sie über eine stabile Anhängerschaft verfügen oder nicht. Ihr Anteil an den Gesamtstimmen fällt im Verhältnis dann stets kleiner aus. Sehr deutlich zeigt sich dies bei der Arbeitspartei sowie den Linkszionisten von Meretz. Zusammen kamen beide Parteien im März 2021 auf immerhin 471.000 Wählerstimmen, was ihnen sieben beziehungsweise sechs Sitze in der Knesset bescherte, addiert also die Existenz eines linken Blocks von dreizehn Parlamentariern bedeutete. Nun aber hatten nur noch 327.000 Israelis diese beiden Parteien gewählt, Meretz fehlten knapp 4.000 Stimmen, um über die 3,25-Prozent-Hürde zu kommen, so dass sie außen vor bleiben und die israelische Linke jetzt mit den gerade einmal vier Sitzen der Arbeiterpartei im Parlament sitzt. Genau diese Entwicklung sollte Netanyahu helfen, seinen Vorsprung nicht nur knapp, sondern recht deutlich auszubauen.
Eine andere Gruppierung, die ebenfalls an der 3,25 Prozent-Hürde scheitern sollte, war die arabische Balad-Partei. Ihr fehlten rund 15.000 Stimmen. Und obwohl alle arabischen Parteien dank der hohen Wahlbeteiligung zusammen auf 511.000 Stimmen kamen, also ungefähr gleich viel wie die Religiösen Zionisten, kommen diese auf zusammen gerade einmal zehn Sitze in der Knesset. Das Votum der 130.000 Araber, die diesmal mehr mobilisiert werden konnten, verpuffte wegen des Scheiterns von Balad an der 3,25-Prozent-Hürde wieder – ein weiterer Grund für die letztendlich stabile Mehrheit des Pro-Bibi-Lagers. Die 0,1 Prozent beziehungsweise die 0,35 Prozent, die Meretz und Balad fehlten, stehen für sechs bis sieben Sitze in der Knesset, die letztendlich Lapid nicht bekam, um eine Koalition zusammenzuzimmern, die sich auf mindestens 61 Mandate stützen könnte. Aber selbst wenn es Balad geschafft hätte – die Beteiligung oder Unterstützung einer Lapid-geführten Regierung durch mehrere oder alle arabischen Parteien wäre damit keinesfalls in trockenen Tüchern gewesen.
Viele Akteure und politische Kommentatoren in Israel fragen sich nun, was die eigentlichen Gründe für den Sieg Netanyahus, aber vor allem für den sensationellen Erfolg von Rechtsextremen wie Itamar Ben Gvir sind, dessen Otzma Yehudit-Partei in einer Listenverbindung mit den Religiösen Zionisten zur drittstärksten Kraft mit vierzehn Sitzen in der Knesset aufsteigen konnte. Und wenig überraschend werden dabei vor allem gegenseitige Schuldzuweisungen laut. So steht das Führungspersonal von Meretz und der Arbeitspartei, Zehava Galon und Merav Michaeli, in der Schusslinie, weil sie sich geweigert hatten, einer gemeinsamen Listenverbindung zuzustimmen – obwohl über beiden die 3,25-Prozent-Hürde als Damoklesschwert geschwebt hatte. Der gängige Vorwurf lautet dabei: „Die Linke hat ihre Stimmen weggeworfen“ – so eine Überschrift in „Haaretz“. Galon beschuldigt Merav der Blockadehaltung, beide wiederum machen Lapid dafür verantwortlich und durch seine Kampagne gegen die Arbeitspartei und Meretz agiert zu haben. Dabei ist der Absturz der Linken alles andere als neu oder überraschend. Beide sind schon lange nur noch ein Schatten ihrer selbst. Hatten sie zusammen 1992 satte 44 Prozent der Stimmen erhalten, waren es 1996 nur noch 34 Prozent. Und in den fünf Wahlen der vergangenen 43 Monate bewegten sie sich immer zwischen sieben und 10,7 Prozent, mehr war nie drin. Längst ist das Vakuum, das durch den Bedeutungsverlust der Linken entstanden ist, durch zentristische Parteien aufgefüllt worden. Vor über 15 Jahren war das die wieder verschwundene Kadima, in der Gegenwart Yesh Atid und ihre Klone.
Generell ist das Lamentieren über die Niederlage flächendeckend. „Ihr wollt Bibi, aber ihr bekommt Ben Gvir“, tobte beispielsweise die linke Kolumnistin Sima Kadmon in „Yedioth Ahronoth“. „Ihr werdet eigenhändig das Ende des Landes herbeiführen, wie wir es kannten.“ Einige Prominente erklärten bereits, Israel den Rücken kehren zu wollen und der Philosoph Asa Kasher, immerhin Mitautor des Ethikkodex der israelischen Streitkräfte sowie Israel-Preisträger des Jahres 2000, wetterte plötzlich in einem Facebook-Post über die „Haredi-Mutation“ und die „nationalistische Mutation“ des Judentums, die das Land übernommen hätten, und erklärte, angesichts solcher Entwicklungen würde er sich nicht mehr als Jude betrachten, sondern lediglich „jüdischer Herkunft“. Mittlerweile ist das große Jammern selbst linken Kommentatoren zu viel – offenbart es doch ein hohes Maß an Konzeptlosigkeit und Mangel an Strategien, wie einer rechtsreligiösen Koalition unter Führung von Netanyahu überhaupt zu begegnen ist.
Doch der Wahlsieger muss erst einmal selbst seine Koalition auf die Beine stellen. Und dabei könnten sich die Religiösen Zionisten noch als Problemfall erweisen. Bezalel Smotrich und Itamar Ben Gvir strotzen aufgrund ihrer Wahlerfolges geradezu vor Selbstbewusstsein, was sich in den Forderungen der beiden nach Schlüsselressorts wie Verteidigung, Außenministerium oder den Chefsessel im Ministerium für öffentliche Sicherheit zeigt. All das beinhaltet ebenfalls noch reichlich Konfliktpotenzial – allein deshalb, weil Washington als wichtigster Alliierter Israels über eine derartiges Bündnis mit den Radikalen nicht gerade glücklich ist und bereits einige Warnungen aus den Vereinigten Staaten zu hören waren, auch von wichtigen jüdischen Lobby-Gruppen. Das letzte Wort bei der Regierungsbildung ist daher noch nicht gesprochen. Ob die rechtsreligiöse Koalition in dieser Form Wirklichkeit wird, wie von vielen befürchtet, gilt abzuwarten. Denn nichts ist in der israelischen Politik so sicher wie eine Überraschung.