Die Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (RIAS) Bayern unterstützt jüdische Studierendenverbände in ihren Forderungen nach einer Auseinandersetzung mit Antisemitismus in der Inszenierung des Theaterstücks ‚Vögel‘. Nach Einschätzung von RIAS Bayern enthält die Aufführung in einem Münchner Theater antisemitische Aussagen, die im Lichte der antiisraelischen Stoßrichtung des Werkes zu verstehen sind. Die reflexhafte Abwehr der Kritik verhindert eine inhaltliche Auseinandersetzung.
Nachdem jüdische Studierende eine Inszenierung des Stücks ‚Vögel‘ von Wajdi Mouawad am Münchner Metropoltheater besucht hatten, veröffentlichten die jüdischen Studierendenverbände VJSB und JSUD einen offenen Brief, in dem sie ihr Entsetzen über antisemitische Darstellungen in dem Werk ausdrücken.
„Auf Grundlage der IHRA-Arbeitsdefinition von Antisemitismus und unter Berücksichtigung des stückimmanenten Kontexts sind diverse Passagen der Aufführung als antisemitisch einzustufen“, sagt RIAS-Bayern-Leiterin Annette Seidel-Arpacı. So sagt etwa eine jüdische Hauptfigur in „Vögel: „Wenn Traumata Spuren in den Genen hinterließen, die wir unseren Kindern vererben, glaubst du, unser Volk ließe dann heute ein anderes die Unterdrückung erleiden, die es selbst erlitten hat?“
Hier wird die Situation von Palästinenser:innen mit der Verfolgung der Juden und damit der Schoah gleichgesetzt, die Ermordung der europäischen Juden relativiert. Gleichzeitig wird die Existenz transgenerationaler Traumata durch die Schoah infrage gestellt.
In dem Stück finden sich weitere ähnliche, ungebrochene Aussagen. Insgesamt entsteht der Eindruck, dass Juden tendenziell rassistisch und in erster Linie verantwortlich für palästinensisches Leid seien.
In Reaktion auf den offenen Brief verteidigten unter anderem das Kultureferat der Stadt München, der ehemalige Münchner Oberbürgermeister Christian Ude und der Intendentat des Metropoltheaters Jochen Schölch die Inszenierung gegen die Kritik.
„In den Aussagen finden sich Kernelemente der Abwehr, die den kritisierten Antisemitismus bagatellisieren und den ‚Antisemitismusvorwurf‘ zum eigentlichen Skandal machen wollen. Die viel zitierte Freiheit der Kunst ist ein Scheinargument, dass leider häufig zu hören ist, wenn es um Antisemitismus beziehungsweise um sogenannte ‚Israelkritik‘ geht. Könnte es keine inhaltliche Kritik an Kunstwerken geben, wären Literaturwissenschaft und Kulturwissenschaften im Ganzen obsolet. Eine Auseinandersetzung mit kulturellen Erzeugnissen kann und muss auch inhaltlich sein. Weiter ist die Rede von der Kunstfreiheit und einer Komplexität, denen immanent sei, dass auch „Verletzungen passieren“ könnten. Es ist angesichts einer immer wieder behaupteten Sensibilität für Betroffene erstaunlich, dass Jüdinnen und Juden ihre ‚Verletzungen‘ bitte aushalten mögen“, sagt Annette Seidel-Arpacı.
„Jochen Schölch nennt die Kritik ein ‚moralisches Fallbeil‘. Zu einem Fallbeil gehört eine Hinrichtung und damit ein Henker. Hier klingt eine Täter-Opfer-Umkehr an: Die Betroffenen von Antisemitismus werden zu Tätern, er selbst beziehungsweise das Theater zu Opfern einer zu unrecht gegen sie gerichteten Kampagne“, so Seidel-Arpacı weiter.
Auch bei der von Christian Ude geäußerten Unterstellung, den jüdischen Studierendenverbänden ginge es nicht um Antisemitismus, sondern sie wollten mit einem Antisemitismusvorwurf um den 9. November herum ein „Reizthema“ setzen, handelt es sich um eine Verschiebung.
Solche Unterstellungen eines hintergründigen Plans, dem das Benennen von Antisemitismus lediglich – und bewußt – vorgeschoben sei, lehnen sich an das antisemitische Motiv der jüdischen Lüge, Intrige und Uneigentlichkeit an.
Die Abwehrreflexe im Zuge der Kritik an „Vögel“ verhindern eine inhaltliche Auseinandersetzung mit Antisemitismus. Solche Reflexe sind in allen gesellschaftlichen Milieus gang und gäbe, auch, wie hier, im sich aufgeklärt wähnenden Kulturbereich. Je angesehener die Kritisierten, desto eher schlägt dieser Reflex in einen Angriff auf den Überbringer der schlechten Nachricht um: Die Kritiker:innen und vor allem die Betroffenen des Antisemitismus.
Antisemitismus kennt vielfältige Ausprägungen, was nicht zuletzt die antisemitischen Darstellungen auf der documenta15 zeigten. Im September hat RIAS Bayern eine Analyse veröffentlicht, die sich mit dem Post-Schoah-Antisemitismus, dem Antisemitismus nach der Schoah, auseinandersetzt. Darin wird auch aufgezeigt, wie sich Schuldabwehr und Täter-Opfer-Umkehr mit israelbezogenem Antisemitismus in akademischen Kreisen und dem Kulturbereich verbinden.
Antisemitische Vorfälle, auch solche unterhalb der Strafbarkeitsschwelle, können unter www.rias-bayern.de oder unter 089 1 22 23 40 60 gemeldet werden. RIAS Bayern befindet sich in der Trägerschaft des Vereins für Aufklärung und Demokratie e.V. (VAD) und wird vom Bayerischen Staatsministerium für Familie, Arbeit und Soziales gefördert.