Mit Kant und Abraham gegen die Identitätspolitik: Der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm fordert in seinem neuen Buch »Radikaler Universalismus« eine Rückbesinnung auf allgemeingültige Werte – vor allem wenn es um und gegen Israel geht.
Von Olaf Kistenmacher
Zuerst erschienen in: Jungle World v. 10.11.2022
Sich auf universelle Werte zu verständigen, findet in liberalen Demokratien meist Zustimmung. Dass alle Menschen die gleichen Rechte haben sollen, erscheint als Selbstverständlichkeit. Langwierig und mitunter hitzig werden Debatten erst bei der Frage, was daraus folgt. Sollte man Saudi-Arabien so lange boykottieren, bis dort keine Frau mehr gezwungen ist, ein Kopftuch zu tragen? Oder würde das den Ärmeren in Deutschland schaden, weil ein solcher Wirtschaftsboykott das Öl weiter verknappen und verteuern würde? Ähnliche Fragen warf auch schon der traditionelle linke Internationalismus auf, der seinerseits auf universalistischem Denken beruht. Um alle Gruppen und Anliegen gleichermaßen zu berücksichtigen, braucht es ein umfangreiches Wissen über komplexe globale Zusammenhänge.
Komplex werden Probleme aber nicht erst, wenn es um globale Zusammenhänge geht. Auch Konflikte innerhalb einer geographischen Region erweisen sich als äußerst vielschichtig, wobei die Gleichheit von Menschen unter mehreren Gesichtspunkten eine Rolle spielt. Das lässt sich gut anhand des israelisch-palästinensischen Konflikts veranschaulichen: Erkennt man zwischen Israel und Palästina vor allem ethnische Konflikte, könnten zwei Staaten als Lösung erscheinen. Nimmt man hingegen die Rechte von Frauen oder Schwulen im Nahen Osten in den Blick, ist ein von der Hamas regiertes Land überhaupt keine Lösung.
Statt auf Identitäten sollten Liberale und Linke auf universelle Werte pochen, fordert nun der deutsch-israelische Philosoph Omri Boehm in seinem in seinem kürzlich erschienenen Buch »Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität« – und zwar vor allem, wenn es um Rassismus und gegen Israel geht.
Boehm verteidigt den Universalismus zum einen gegen eine linke und rechte Identitätspolitik, zum anderen gegen einen pragmatischen Universalismus, wie ihn US-amerikanische Liberale vertreten. Beiden Seiten wirft er vor, dass für sie Werte nur relativ gälten, nur für bestimmte Menschengruppen, nicht für alle. Boehm beruft sich auf drei kanonische Texte – die Unabhängigkeitserklärung der USA, Immanuel Kants Aufsatz »Was ist Aufklärung?« und die alttestamentarische Erzählung von Abraham, dem Gott befahl, seinen Sohn Isaak zu opfern. Den Universalismus ausgerechnet anhand von Texten zu verteidigen, die gemeinhin zur westlichen, »weißen« Tradition gezählt werden (auch wenn die Tora eigentlich eine orientalische Quelle ist), ist erklärungsbedürftig. Nicht nur postkoloniale Kritik könnte einwenden: Käme Boehm aus Kamerun oder China, wäre sein philosophischer Kanon vermutlich ein anderer.
Der Titel »Radikaler Universalismus« weist das Buch als politische Streitschrift aus. Denn Universalismus muss immer radikal sein. Ein »gemäßigter« Universalismus wäre so widersinnig wie ein 80prozentiger Vegetarismus. In politischen Debatten dient die Berufung auf universelle Werte oft nur dazu, die eigene Position zu rechtfertigen. Boehm zitiert in seinem 2020 erschienenen Buch »Israel – eine Utopie« (Jungle World 20/2020) zustimmend Kants Diktum, es gehe darum, »an der Stelle jedes anderen« zu denken. Aus dem Buch »Radikaler Universalismus« spricht wohl auch die Enttäuschung darüber, dass sich diese anderen von Boehm gar nicht unbedingt repräsentiert fühlen und seine Forderungen etwa zur Lösung des israelisch-palästinensischen Konflikts nicht teilen.
Statt von radikalem hätte Boehm auch von militantem Universalismus schreiben können. Sein Auftaktbeispiel ist eine Gruppe US-Amerikaner um den weißen Abolitionisten John Brown, die Mitte des 19. Jahrhunderts versuchte, einen »Befreiungskrieg« vom Zaun zu brechen, um die Sklaverei zu beenden. Die Befreiungskämpfer wurden festgenommen oder getötet, Brown selbst wurde hingerichtet. Aber, so Boehm, die Aktion der Gruppe zeigte Wirkung. Zwei Jahre später wandten sich Abolitionisten erneut gegen die Sklaverei, »radikal – nicht mehr friedlich, sondern gewaltsam«. Brown und seine Mitstreiter seien Vorbild gewesen. Sie hätten im Sinne einer »universellen Gerechtigkeit« gehandelt, die sich im Notfall gegen die Mehrheitsmeinung und gegen demokratische Entscheidungsprozesse stellen müsse.
In dieser Unbedingtheit sieht der Autor sich in der Tradition der Vernunftethik Immanuel Kants. Natürlich muss Boehm sich damit auseinandersetzen, dass Kant – sogar in seinen wissenschaftlichen Schriften – ein rassistisches Menschenbild vertrat und dass drei der fünf Verfasser der US-amerikanischen Unabhängigkeitserklärung Sklavenhalter waren, die selbst nicht an das Postulat »All men are created equal« glaubten. Doch das sei eben menschlich-allzumenschlich. Was von dem Philosophen Kant bleibe, sei ein »Denken im stärksten Sinne des Wortes: die Wahrheit jenseits von Faktenwissen zu erkennen« und »die Pflicht zur Gerechtigkeit jenseits von Interessen und Konsensen anzuerkennen«.
Originell ist Boehms Auslegung der Abraham-Isaak-Geschichte. Der religiösen Überlieferung zufolge forderte Gott, Abraham solle ihm seinen Sohn Isaak opfern. Als sich Abraham anschickte, die Tat auszuführen, hielt ihn ein Engel im letzten Moment davon ab. Gemeinhin gilt die Geschichte als Parabel für die völlige Unterwerfung unter die göttliche Autorität. Das Kind durfte weiterleben, nachdem Abraham gezeigt hatte, dass er im Dienst Gottes zu allem bereit war. Für Boehm hingegen ist die Geschichte ein Beispiel für den radikalen Universalismus, der mahnende Engel verkörpert die Stimme der universalen Vernunft. Nicht der Monotheismus, sondern die Gerechtigkeit, die »jede Autorität übersteigt«, sogar eine göttliche, sei die »ganz eigene Neuerung« des Judentums.
Wenn es nur für alle politischen Konflikte so einfache Lösungen gäbe wie im Fall der Erzählung von Abraham und Isaak. Neben der Überwindung des Rassismus ist Boehms eigentliches Anliegen ein neuer, ein anderer Staat Israel. Er gehört zu einem linksliberalen Milieu, das den Israel-Boykott nicht für antisemitisch hält. Der Autor hat die Jerusalem Declaration on Antisemitism unterzeichnet und die Documenta fifteen gegen alle Kritik verteidigt. Er gehört damit einem Milieu an, das mit dem Bekanntwerden der offen antisemitischen Darstellungen bei der Documenta vor dem Scherbenhaufen der eigenen politischen Überzeugungen steht.
Das Buch »Radikaler Universalismus« endet mit der Darstellung einer Erfahrung des Scheiterns an der Realität: Boehm war im Juni dieses Jahres auf der Berliner Konferenz »Hijacking Memory« zu Gast und musste mitanhören, was Tareq Baconi forderte (Jungle World 24/2022). Das »Holocaust-Gedenken« solle »für Palästina schlicht irrelevant bleiben«, sagte der palästinensische Sprecher auf der Konferenz und betonte, dass er sowohl eine Zweistaatenlösung als auch einen binationalen Staat ablehne. Das hatte sich Boehm in seinem Buch »Israel – eine Utopie« ganz anders ausgemalt. Israel solle eine binationale Föderation werden, die jüdischen Israelis sollten der Nakba gedenken wie die arabischen Israelis der Shoah. Und dann will eine »der vielversprechendsten palästinensischen Stimmen« von all dem nichts wissen?
Den Gründungsvätern des Zionismus wird heute oft vorgeworfen, sie hätten die arabische Bevölkerung Palästinas schlicht ignoriert. Unabhängig von der Frage, wie berechtigt dieser Vorwurf ist, könnte man ihn auch an Omri Boehm richten, der in seinem Buch »Israel – eine Utopie« für die palästinensischen Akteur:innen spricht, deren extreme Forderungen aber ignoriert. Auf der Konferenz in Berlin wurde der deutsch-israelische Philosoph mit einem Palästinenser konfrontiert, dessen Haltung zu Israel und Palästina so gar nicht zu dem passt, was er sich jenseits von Faktenwissen und an der Stelle jedes anderen ausgedacht hatte.
Omri Boehm: Radikaler Universalismus. Jenseits von Identität. Aus dem Englischen von Michael Adrian. Propyläen, Berlin 2022, 176 Seiten, 22 Euro, Bestellen?