Israel und der Libanon konnten dank amerikanischer Vermittlung ein Abkommen über ihre gemeinsame Seegrenze unterzeichnen. An der Tatsache, dass sich beide Staaten offiziell im Kriegszustand befinden, ändert das nichts.
Von Ralf Balke
Der Lob kam von allerhöchster Stelle. Am Dienstag hatte US-Präsident Joe Biden zweimal zum Telefonhörer gegriffen. Erst rief er Ministerpräsident Yair Lapid an, um ihm dafür zu gratulieren, dass Israel seine Zustimmung für ein Abkommen gegeben hat, das einen Schlussstrich unter den jahrzehntelangen Streit mit seinem nördlichen Nachbarn, dem Libanon, setzen soll, und zwar die Festlegung der Seegrenze zwischen beiden Ländern. Im Oktober 2020 hatten die Verhandlungen dazu begonnen, nun also – dank amerikanischer Vermittlung – die Einigung. „Sie schreiben Geschichte“, sagte Biden zu Lapid – das jedenfalls wurde aus dem Büro des Ministerpräsidenten verlautet. Dann ließ er sich mit Michel Aoun, dem Präsidenten des Libanons, verbinden. Auch für ihn fand er freundliche Worte. Darüber hinaus betonte Biden, dass das Abkommen „Israels Sicherheits- und Wirtschaftsinteressen schützt, die für die Förderung seiner regionalen Integration von entscheidender Bedeutung sind“, zugleich aber dem Libanon „den Spielraum gibt, seine eigenen Energieressourcen zu erschließen“.
Zugleich ermahnte der US-Präsident beide Seiten, ihre Verpflichtungen einzuhalten. Denn ein kleines Problem gibt es da noch: In beiden Ländern sind derzeit nur geschäftsführende Regierungen am Ruder. Und am 1. November stehen in Israel noch Wahlen an. Lapid jedenfalls betonte auf Twitter, dass „dieses einzigartige Abkommen Israels Sicherheit stärken wird, gut für unsere Wirtschaft ist und anderen Ländern saubere wie auch bezahlbare Energie bringen wird“. Am Mittwoch wird das Abkommen dem Sicherheitskabinett vorgelegt, dann in einer Sondersitzung in der Regierung diskutiert. Auch der libanesische Verhandlungsführer, der stellvertretende Parlamentssprecher Elias Bu Saab, zeigte sich zufrieden: „Herausforderung war es, dass beide Seiten die nötigen Garantien erhalten und das bekamen, was sie wollten – in einem fairen Abkommen. Ich kann sagen, wir haben eine Einigung erzielt, die uns beide zufrieden stellt und jeder kann sich ja vorstellen, wie schwierig es ist, eine solche Lösung zu finden.“
Hintergrund des ewigen Streits, wer nun welche Fläche im Mittelmeer als Wirtschaftszone ausschließlich für sich beanspruchen kann, ist ein rund 860 Quadratkilometer großes Gebiet vor der Küste in Höhe des israelischen Grenzortes Rosh HaNikra, der auf der anderen Seite Ras an-Naqura heißt. Eigentlich würde das Ganze auch heute weder Jerusalem noch Beirut besonders interessieren – wenn nicht vor wenigen Jahren in der Region Erdgasvorkommen entdeckt worden wären. Zwei davon, das nördlichere Kana-Feld sowie das südlicher gelegene Karish-Feld, liegen genau in dieser Wirtschaftszone. Und von deren Erschließung erhoffen sich beide Seiten Vorteile, insbesondere der Libanon, der seit geraumer Zeit Richtung Staatsbankrott sowie der sozialen wie auch wirtschaftlichen Implosion entgegensteuert. Die nun getroffene Einigung sieht vor, dass der Libanon die Möglichkeit hat, das Kana-Feld anzuzapfen, während Israel Exklusivrechte am Karish-Feld erhält, wo man ohnehin bereits begonnen hat, die Förderung von Erdgas vorzubereiten. Vor wenigen Tagen erst meldete das britisch-griechische Unternehmen Energean, das mit der technischen Umsetzung beauftragt ist, einen erfolgreichen Test der Leitungssysteme zwischen Plattform und israelischer Küste.
Dafür, dass der Libanon nun alleiniges Zugriffsrecht auf das Kana-Feld bekommt, erhält Israel einen finanziellen Anteil – die Summe steht allerdings noch nicht fest – als Ausgleich für die Nichtnutzung der südlichen Teile dieses Erdgasvorkommens aus den von Beirut daraus erzielten Einnahmen. Doch bis das geschehen wird, kann es eine Weile dauern. Zwar wünschen sich die Libanesen, dass so schnell wie möglich Erdgas aus dem Kana-Feld gefördert wird, weshalb sie bereits in Verhandlungen mit dem französischen Energiekonzern Total Energies stehen. Doch in trockenen Tüchern ist noch gar nichts, weil sehr unterschiedliche Einschätzungen darüber kursieren, ob es eigentlich profitabel ist, Kana zu erschließen. Darüber hinaus verfügt der Libanon über keinerlei technische Voraussetzungen, um Erdgas, das nicht im eigenen Land verbraucht wird, zu exportieren, beispielsweise nach Europa, wo es dringend benötigt würde. Bis der marode und finanziell klamme Libanon auch nur einen Euro oder Dollar Einnahmen aus den Erlösen für den Verkauf von Erdgas, das dort – wenn überhaupt – gefördert wird, in der Staatskasse sieht, dauert es wohl eine Weile.
Und es gibt einige Unsicherheiten. Denn Israel befindet sich im Wahlkampfmodus. Ende September bereits hatte Lapids Herausforderer Benjamin Netanyahu die Verhandlungen mit dem Libanon um die Wirtschaftszone als Wahlkampfthema für sich entdeckt und in einem Video behauptet, Lapid sei angesichts der Drohungen von Hassan Nasrallah einfach „eingeknickt“. Denn der Hisbollah-Boss hatte mehrfach damit gedroht, israelische Förderanlagen vor der Küste mit Raketen anzugreifen. Und dreimal hatte die israelische Luftabwehr schon Drohnen der Schiiten-Miliz vom Himmel geholt, die in Richtung Karish-Feld unterwegs waren. In dem Video unterstellte Netanyahu Lapid ferner, dass er mit der Erdgasförderung dort aus Angst vor der Hisbollah warten würde, dem Libanon aber gleichzeitig die Exklusivrechte zur Ausbeutung des Kana-Felds zugestehe, wodurch „Milliarden von Dollar“ auch in die Kriegskasse von Nasrallah fließen würden, der damit Raketen anschaffen kann, die dann auf israelische Städte niedergingen. Lapid bezeichnete die Anschuldigungen seitens Netanyahu als „schrecklich verantwortungslos“ und betonte zugleich, dass Israel mit der Erschließung des Karish-Felds wie geplant beginnen wird, egal ob es eine Übereinkunft mit dem Libanon gibt oder nicht Und Verteidigungsminister Benny Gantz erklärte, dass jeder Angriff auf die israelischen Förderanlagen mit militärischen Vergeltungsschlägen beantwortet werden würde, die für den Libanon verheerend ausfallen würden.
Unmittelbar nach der Bekanntgabe, dass Israel und Libanon sich geeinigt hätten, sagte Innenministerin Ayelet Shaked am Dienstagabend, dass eine Interimsregierung einem solchen Deal nicht zustimmen kann. Nur die Knesset sei dafür zuständig. Doch dort gäbe es wohl keine Mehrheiten. Der Kabinettssitzung tags darauf blieb sie daher erst einmal fern. Israels Generalstaatsanwältin sieht das Ganze etwas anders und gab am Mittwoch grünes Licht für die Entscheidungskompetenz des Kabinetts. Zwar muss nach einem 2014 verabschiedeten Gesetz jeder Plan, der die Abtretung von Gebieten innerhalb der Grenzen des Staates Israel vorsieht, entweder von der Knesset mit einer Mehrheit von 61 Stimmen sowie einem anschließenden Referendum von der Öffentlichkeit abgesegnet werden. Alternativ kann das Parlament ein solchen Vorhaben aber auch durch eine „Super-Mehrheit“ von mindestens 80 Stimmen gebilligt werden. Da es sich aber um eine Wirtschaftszone im Mittelmeer vor Küste handelt und nicht um Staatsland, sei die Situation eine andere. Und in diesem Fall könne auch eine Interimsregierung allein entscheiden. Entsprechend erteilte das Kabinett am Mittwochnachmittag sein vorläufiges Ok. Das Ganze wird dann noch der Knesset zur Prüfung vorgelegt. Angesichts der „Wichtigkeit der Angelegenheit“ soll deshalb die Feiertagsbedingte Tagungspause des Parlaments unterbrochen werden. Wenn die Abgeordneten alles geprüft haben werden, was ungefähr zwei Wochen dauern dürfte, ist noch eine endgültige Entscheidung des Kabinetts notwendig. Daraufhin würde Washington als Vermittler erklären, dass das Abkommen endgültig unter Dach und Fach und damit gültig sei. Alle drei Parteien, also die Vereinigten Staaten, Israel und der Libanon, müssten dann nur noch die Vereinten Nationen über die Korrekturen ihrer maritimen Grenzen informieren.
Wenn möglich, sollte alles vor dem Wahltermin am 1. November über die Bühne gegangen sein. Dummerweise gibt es da ein Problem. Denn Libanons Präsident Michel Aoun hat bereits vor einiger Zeit erklärt, dass er Ende Oktober von seinem Amt zurücktreten werde. „Es ist also gut möglich, dass es im Libanon über Monate hinweg keinen Präsidenten gibt“, so Omer Barlev, Israels Minister für innere Sicherheit. „Aber nur der Präsident kann ein solches Abkommen unterzeichnen.“ Das könnte ein endgültiges Inkrafttreten verzögern. Fakt jedenfalls ist, dass die Mehrheit der Israelis eine solche Übereinkunft unterstützen. Laut jüngsten Meinungsumfragen wären 40 Prozent dafür und lediglich 29 Prozent explizit dagegen. Auch die meisten Politiker stehen der Sache wohlgesonnen gegenüber. Selbst wenn Benjamin Netanyahu wie am Dienstag geschehen Lapid eine „historische Kapitulation“ unterstellt und die Übereinkunft sowie das Prozedere auf dem Weg dahin ablehnt, im Wahlkampf groß punkten kann er mit dem Thema nur bedingt.
Last but not least hat sich nun auch die Hisbollah zu Wort gemeldet – denn nichts kann im Libanon ohne ihre Zustimmung geschehen. Über ihren TV-Sender „al-Manar“ ließ man verlautbaren, dass diese Übereinkunft, die selbstverständlich nicht als Beginn eines möglichen Friedensprozesses zwischen Israel und dem Zedernstaat zu verstehen ist, nur deswegen zustande gekommen sei, weil man militärischen Druck auf die Gegenseite aufgebaut habe. „Wenn der Präsident verkündet, dass es die offizielle Position des Libanon sei, das Abkommen zu unterstützen, dann sind für uns die Dinge erledigt“, ließ Nasrallah erst einmal wissen. Man „bleibe aber wachsam“, bis Michel Aoun die endgültige Entscheidung verkündet und die Delegationen beider Länder das Abkommen in der Stadt Naqoura im Libanon unterzeichnen. „Wir müssen vorsichtig sein, denn es gibt Leute, die ihre Meinung jederzeit ändern könnten.“ Gemeint waren damit Mitglieder des israelischen Kabinetts. Man werde deshalb weder Versprechungen machen, noch irgendwelche Drohungen formulieren. Ob sie Schiiten-Miliz weiterhin den Ball flach halten wird und nicht plötzlich quer schlägt, scheint ziemlich wahrscheinlich – schließlich käme, vorausgesetzt es findet sich ein Energieunternehmen als Partner, durch die Erschließung des Kana-Feldes irgendwann einmal Geld in die Staatskasse. Denn in einem Punkt haben Israel und Hisbollah ein gemeinsames Interesse, nämlich die Aufrechterhaltung eines Minimums an Stabilität des Libanons. Den völligen wirtschaftlichen Zusammenbruch und die damit einhergehende humanitäre Katastrophe wollen beide nicht – jeder aus seinen Interessenlagen heraus.
Foto: Die israelische Marine bewacht das Karish-Gasfeld (IDF)