Arbeit, Dienst und Führung – Der Nationalsozialismus und sein Erbe

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Theresienstadt, Foto: Matthias Köhne / CC BY-SA 3.0

Der nur als Zynismus aufzufassende Satz „Arbeit macht frei“ an den Eingangstoren von deutschen Konzentrationslagern wie Dachau, Groß-Rosen oder dem sogenannten Stammlager Auschwitz I ist wohl die einer breiteren Öffentlichkeit bekannte Ikone, mittels derer das Verhältnis von Nationalsozialismus und Arbeit angesprochen wird. Nicolas Lelle geht in seiner unter dem Titel „Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe“ erschienenen Dissertation dem Verhältnis von Arbeit als sowohl inkludierendem als auch ausgrenzendem Moment für die Konstruktion der nationalsozialistischen Volksgemeinschaft nach.

Von Igor Netz

Nicolas Lelle verortet sich in der Kritischen Theorie. Deren hegelmarxistische Grundierung betrachtet (kapitalistische) Vergesellschaftung nicht allein als ein den Individuen äußerliches Ausbeutungsverhältnis, sondern als eines, das die Subjektkonstitution der Einzelnen bestimmt und sie herrschaftskonform werden lässt. Den Nationalsozialismus fasst Lelle als radikalisierte Form moderner Gesellschaft, deren Antisemitismus dazu diene, sich kapitalismuskritisch zu äußern, ohne die kapitalistische Eigentumsordnung als solche infrage zu stellen. Als zugleich integrierendes wie auch exkludierendes Moment des NS-Staates macht Lelle eine spezifische Form „deutscher Arbeit“ aus, das er in erster Linie historisch herleitet.

Lelles historischer Längsschnitt setzt nicht zufällig bei Martin Luthers Schriften und der Reformation ein. Luther steht noch an der Grenze zur Moderne, hat zu dieser mit ihrer Sakralisierung der Arbeit zum sinnstiftenden Beruf jedoch einen grundlegenden Beitrag geleistet. Zudem findet sich in Luthers berühmt-berüchtigtem Buch „Von den Juden und ihren Lügen“ bereits „die Gegenüberstellung von hart arbeitender deutscher Bevölkerung und jüdischen Wucherern“ (27), die letztlich in der Aufforderung zu zeitgenössischer Zwangsarbeit und Pogrom mündet. So findet sich bereits bei Luther die Grundlage zur späteren Behauptung von jüdischer Nicht- oder Anti-Arbeit. Luther verglich in einer anderen Schrift Jüdinnen*Juden mit Sinti*zze. An dieser Stelle wäre ein Hinweis auf Luthers Schrift „Vom Schem Hamphoras und vom Geschlecht Christi“ angebracht gewesen, um auch Luthers frühes Ressentiment gegen Sinti*zze samt seinem Verhältnis zur Arbeit zu beleuchten. Im Text aus dem Jahr 1543 heißt es, „daß die Juden seiner Zeit zu einer ‚grundsuppe aller losen, bösen Buben aus aller Welt zusammen geflossen‘ seien, die ‚wie die Tattern oder Zigeuner‘ nur darauf aus seien, ‚die leute zu beschweren mit wucher, die Lender zu verkundschaften und zu verrathen, wasser zu vergiften, kinder zu stehlen und allerley meuchel schaden zu thun‘.“ (Wolfgang Wippermann: „Auserwählte Opfer?“ Berlin 2012, S. 16)

In dem von Lelle gespannten historischen Bogen in das 19. Jahrhundert taucht der Topos „deutscher Arbeit“ bei antisemitischen Klassikern wie Gustav Freitag, Wilhelm Marr, Wilhelm Heinrich Riehl sowie auch bei Heinrich von Treitschke unter veränderten gesellschaftlichen Verhältnissen auf. Es geht nun nicht mehr wie bei Luther um die angebliche jüdische Faulheit, sondern wie bei Freytag um vorgebliche Rastlosigkeit und Umtriebigkeit als jüdisches Merkmal. Bei Riehl kann die Dualität von „Schaffen und Raffen“ festgestellt werden, wenn auch noch nicht an das Kapital gebunden, so doch an den vorgeblich jüdischen Materialismus. Die jüdische Arbeit soll an Aktivität und Umtriebigkeit gebunden sein, so das antisemitische Denken. Sie soll nicht allein Nicht-Arbeit, sondern Anti-Arbeit sein. Diesen Ausdruck adaptiert Lelle triftig von Felix Axster , da im Vorwurf der Umtriebigkeit oder Agilität bereits das angeblich zersetzende Element angelegt ist. Hier liegt denn auch ein Unterschied zwischen dem antisemitischen und dem antiziganistischen Ressentiment. Lelle greift diese Differenz an anderer Stelle seines ersten von drei Großkapiteln auf. So soll auch die Nicht-Arbeit der als ‚Zigeuner‘ Stigmatisierten gefährlich sein. Anders als ‚der Jude‘ stehen Sinti*zze und Rom*nja im Ressentiment für ein vormodernes Element und erinnern „an eine verdrängte sowie ersehnte Zeit vor der Arbeitsgesellschaft“ (116).

Auch im kolonialen Rassismus spielt das „Ideologem ‚deutsche Arbeit‘“ (35) eine Rolle bei der Bestimmung von Fremd- und Selbstbildern, insbesondere dort, wo ein vorgeblich guter Kolonisator als Fortschritts- und Zivilisationsbringer fungieren soll. Arbeit um ihrer selbst willen soll hier „das deutsche Wesen auszeichnen“ (36). Das, was die Spezifik „deutscher Arbeit“ sein soll, bleibt darüber hinaus bis in die Weimarer Republik hinein unbestimmt und findet sich, wie Lelle nachweist, insbesondere in Reden Adolf Hitlers ausbuchstabiert. Dessen im Münchner Hofbräuhaus vom August 1920 gehaltene Rede zur Frage „Warum sind wir Antisemiten?“ kann „als erste Präsentation der nationalsozialistischen Arbeitsauffassung“ (52) gelesen werden, die „gemeinnützig“ (53) nicht für sich, sondern für andere, gemeint ist hier die deutsche Volksgemeinschaft, geleistet werde: „Die Volksgemeinschaft soll durch Arbeit geschaffen und erhalten werden.“ (53) Dabei geht es nicht darum, was gearbeitet wird, sondern in welchem Geist und von wem die Arbeit verrichtet wird. Dass die als jüdisch definierte Anti-Arbeit und damit ihre Träger*innen aus der Volksgemeinschaft ausgeschlossen werden ergibt sich in der antisemitischen Logik nahezu von selbst. Arbeit wird in der NS-Ideologie als Dienst am Ganzen, also für Nation und Staat, verstanden. Das Individuum hat im Dienst zurückzustehen. Das geht hin zur Bereitschaft, jederzeit das eigene Leben für eine Volksgemeinschaft zu opfern, die auf der Grundlage eines radikalisierten Rassismus und Antisemitismus stand. Gleichzeitig werden jene bis zur Vernichtung ausgeschlossen, die weder dem Rassegedanken noch der nationalsozialistischen Arbeitsauffassung folgen können oder wollen. Letztere fielen unter die vage „Kategorie ‚Asozialität‘“, bzw. „gemeinschaftsfremd“ (123).

Diejenigen, die in die volksgemeinschaftliche Konstruktion integriert waren, galt es zu mobilisieren. Der zentrale Begriff hierfür ist bei Lelle der von „Gefolgschaft“, die „im Nationalsozialismus die Verbundenheit von Führern und Geführten“ (130) schafft. Der Ort, an dem dies geschieht, ist der Betrieb bzw. der Arbeitsplatz. Die Mittel zur Herstellung von Gefolgschaft basieren nicht ausschließlich „auf Befehl und Kadavergehorsam, Zwang und Kontrolle“, sondern auch auf „Aktivierung, Involvierung und Disziplinierung von Arbeitenden“ (ebda.) und ihrer totalen, lebenslangen Einbindung. Aus der Volksgemeinschaft sollte es kein Entrinnen geben. Führen und Dienen waren in dieser Denkweise keine Widersprüche. Auch wer führt, leistete seinen Dienst am Ganzen. Lelle zeigt dies sowohl in einer philosophischen Herleitung auf als auch an konkreten Maßnahmen wie dem Gesetz zur Ordnung der nationalen Arbeit (AOG), das am 20. Januar 1934 verkündet wurde, nachdem bereits 1933 die Gewerkschaften zerschlagen wurden. Mit dem AOG wurde mitnichten die kapitalistische Eigentumsordnung infrage gestellt, vielmehr zielte es auf eine „Änderung der ideelle(n) Seite von Arbeit“ (156): Aus dem Unternehmer wurde der „Betriebsführer“, aus den Arbeitern und Angestellten die „Gefolgschaft“. Der Dienst in der „Betriebsgemeinschaft“ war zugleich einer für die Volksgemeinschaft, der eine entsprechende Menschenführung benötigte, die auf Leistung und Kameradschaft der Führenden mit ihrer Gefolgschaft setzte.

Lelle macht darauf aufmerksam, dass auch hier der Nationalsozialismus bereits bestehende Konzepte aufgriff und radikalisierte. So galt zur Leistung nur der „arische“ Arbeiter als fähig. Nur er, es ging um das männliche Individuum, galt als berufen, im nationalsozialistischen Gedanken Leistung aus Eigenverantwortung bzw. Selbstverpflichtung für die Gemeinschaft zu erbringen, indem er Freiheit als „Einüben des Notwendigen“ (181) erkennt. Das Subjekt existiert im Nationalsozialismus, anders als im aufklärerischen Denken, nur in Bezug auf die Gemeinschaft. Seine Freiheit sucht es in der Abhängigkeit von Herrschaft, die es stützt. Es ist „Herr und Knecht zugleich“ (182), wie Lelle im Sinne der Hegelschen Dialektik festhält. Wie eine im nationalsozialistischen Sinne moderne Menschenführung idealerweise aussehen sollte, wird am Beispiel der in Köln ansässigen Klöckner-Humboldt-Deutz-Maschinenfabrik (KHD) aufgezeigt. Dort wurde „mit dem Leistungslohn eine neue Lohnordnung eingeführt“ (196), deren Zweck es war, über die selbstständige Festsetzung der Akkorde durch die Arbeitenden ihnen die Möglichkeit zu eröffnen, die Höhe des eigenen Lohns selbst zu bestimmen und die Produktivität zu erhöhen. „Arbeitsunwillige Gefolgschaftsmitglieder“ (199) wurden über Hausbesuche zur Aufnahme der Arbeit gedrängt. Freiwilligkeit, Überwachung und Repression gehörten zusammen. Die Erfolgreichen und deshalb Ausgezeichneten sollten auf die Arbeitsunwilligen einwirken. Das KHD blieb im NS-Staat ein Experiment. Es zeigt allerdings, wie im Nationalsozialismus auf eine neue Form der Subjektivierung hingewirkt wurde. Lelle nennt sie das „folgende Selbst“ (202), das durch seine Aktivierung wollen soll, was es soll.

Der Frage, inwiefern von einem „Fortleben der Vergangenheit im Nachkriegsdeutschland“ (208) gesprochen werden kann, geht Lelle weniger an personellen Kontinuitäten nach, wenngleich auch diese festgemacht an der Person Reinhard Höhn eine Rolle spielen. Zentral geht es Lelle um „ideologische Kontinuitäten“ (213), die sich demokratisch im Topos Arbeit transformiert haben. In seiner Rekonstruktion will Lelle vor allem aufzeigen, ob und wie Arbeit in der Bundesrepublik Deutschland der Nachkriegszeit als, von offenem Antisemitismus und Rassismus bereinigter, Form von Vergemeinschaftung verstanden wurde und inwiefern dies Auswirkungen einerseits auf die betriebliche Praxis der Menschenführung, andererseits auch auf die postnationalsozialistische Subjektkonstruktion habe – eine Subjektform, die Lelle als führendes Selbst bezeichnet. Ausgeführt werden die Überlegungen mittels einer Studie zum Harzburger Modell. Mit dieser Form betrieblichen Managements wurde bis in die 1970er-Jahre an die „aktivierende Idee, den Arbeiter zum Mitarbeiter zu machen“ (222) angeknüpft. Entwickelt wurde das Harzburger Modell vom ehemaligen SS-Oberführer sowie NS-Staat- und Verwaltungsrechtler Reinhard Höhn. Es wurde zum zu einem Erfolgsmodell der Nachkriegszeit: „Bis 1972 wurden eine Viertel Million Menschen in über 8.000 Lehrgängen geschult.“ (230) Abgesehen von seinem bis in das Jahr 1921 zurückreichenden Engagement in völkischen und antisemitischen Gruppierungen war Höhn unter anderem am Aufbau des Sicherheitsdienstes der SS beteiligt. Er darf also mit Fug und Recht als überzeugter Nationalsozialist gelten. Seiner Nachkriegskarriere hat dies nicht geschadet. Seit 1953 baute er als Geschäftsführer der „Deutschen Volkswirtschaftlichen Gesellschaft“ in Bad Harzburg die 1956 gegründete „Akademie für Führungskräfte“ auf. Ein wesentliches Charakteristikum des Harzburger Modells stammte aus dem Militär. In der Idee des Stabes sollten Entscheidern Personen beratend zur Seite stehen und so Verantwortung delegiert werden. Dieses Modell übertrug Höhn auf die Wirtschaft und reaktiviert so die Idee des Dienstes. „Stab ist Dienst, nicht Kommando“, zitiert ihn Lelle (232). Im Harzburger Modell geht es nicht um eine Demokratisierung von Unternehmen. Vielmehr blieben die großen Leitlinien und Entscheidungen in den Händen der Kapitaleigner*innen. Die Aktivierung von Mitarbeitern war auf Fragen zur Zielerreichung beschränkt. Diese Form des Delegierens von Verantwortung, das Prinzip von Mitarbeit und Gefolgschaft, ist bereits in Texten von Höhn aus den 1930er-Jahren zu finden. Aus seiner Studie zum Harzburger Modell schlussfolgert Lelle, dass die „Entideologisierung“, also der Verzicht auf offensichtlich rassistische und antisemitische Volksgemeinschaftsideologie, „eine Entnazifizierung“ war, die aber (…) durchaus ihr NS-Erbe bewahrt“ haben. „Denn entideologisiert wurden auch Traditionselemente aus dem »Dritten Reich«,­ militärische und solche der Menschenführung.“ (249)

Der Wert von Lelles Arbeit liegt darin, etwas eigentlich ganz Selbstverständliches aufzuzeigen. Dass nämlich die nationalsozialistische Vernichtungspolitik nicht geschichtslos urplötzlich erschienen ist, sondern, dass Antisemitismus und Antiziganismus mit der „deutschen Arbeit“ eine Radikalisierung von gesellschaftlichem Einschluss und Ausschluss im Konstrukt der NS-Volksgemeinschaft erfahren haben und zudem in der kapitalistischen Vergesellschaftung fundiert sind. Der Zusammenhang zwischen deutschem Faschismus ist nicht etwa der einer angeblich terroristischen Diktatur des Finanzkapitals wie es der regressive Antikapitalismus à la Dimitroff sah. Auch Max Horkheimers Satz „Wer aber vom Kapitalismus nicht reden will, sollte auch vom Faschismus schweigen“ aus dem Aufsatz „Die Juden und Europa“, geschrieben am Vorabend des Zweiten Weltkriegs, greift hier noch zu kurz. Horkheimer schrieb seinen Text ist in erster Linie als eine Abrechnung mit dem Liberalismus. Der Kritische Theoretiker konnte notwendigerweise das unter der so kulturindustriell wie religiös geprägten Bezeichnung „Holocaust“ bekannt gewordene beispiellose Massenverbrechen nicht vorausahnen.

Lelles Analyse ist hier komplexer. Er greift weit in die Geschichte zurück um die Tradition dessen, was als „deutsche Arbeit“ firmiert, aufzuzeigen und verbindet diese mit Betrachtungen über den Zusammenhang zu Antisemitismus und Rassismus beziehungsweise Antiziganismus. Dies geschieht nicht in teleologischer Absicht. Historische Brüche und Transzendierungen finden ihren dialektischen Raum ebenso wie Kontinuitäten. Das ist nicht selbstverständlich angesichts von manchen Tendenzen, die letztlich ahistorisch einen ewigen Antisemitismus postulieren oder solchen, die positivistisch bestrebt sind, die Komplexität von Antisemitismus in definitorische Formeln zu zwängen. Angesichts dessen kann leicht darüber hinweggesehen werden, dass Lelles Epilog, in dem er den Versuch unternimmt „Bausteine für eine kritische Theorie von Arbeit“ zu entwerfen, entgegen der eigenen Einsicht ein wenig utopistisch geraten ist.

Nicolas Lelle: Arbeit, Dienst und Führung. Der Nationalsozialismus und sein Erbe. Verbrecher Verlag Berlin 2022, Bestellen?

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Bild oben: Theresienstadt, Foto: Matthias Köhne / CC BY-SA 3.0