Der Kibbuz – Renaissance einer alten Idee

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Beit Alpha 1923, National Foto Collection Israel, D828-065

Vor einhundert Jahren wurde Beit Alfa gegründet. Es war der erste Kibbuz, den die säkulare und links-zionistische Jugendbewegung HaShomer HaTzair errichtet hatte. Grund genug für einen Blick zurück auf die Geschichte der Gemeinschaftssiedlungen und zu schauen, was aus ihr geworden ist.

Von Ralf Balke

Totgesagte leben länger. Vor wenigen Tagen meldete die israelische Presse, dass erstmals seit mehr als 30 Jahren wieder ein neuer Kibbuz gegründet wird. Entstehen soll diese Gemeinschaftssiedlung, deren Name noch nicht feststeht, in der Nähe der Wüstenstadt Arad, ungefähr 140 Kilometer südöstlich von Jerusalem. Sie wird Teil eines Clusters von fünf neuen Kommunen sein, der für die Region projektiert ist. Eine davon ist für Beduinen vorgesehen, eine weitere soll ultraorthodoxe Juden anziehen. Auf diese Weise will die Regierung die Entwicklung des östlichen Negev vorantreiben und die Ballungsräume Tel Aviv und Jerusalem ein wenig entlasten. So sollen allein in dem geplanten Kibbuz bis zu einhundert Familien ein neues Zuhause finden. Vor allem Menschen, die bereits in der Landwirtschaft gearbeitet haben und Kibbuz-Erfahrungen werden dort wohl leben.

Zugleich ist dies ein Signal. Denn die Kibbuzim, früher eine Art Aushängeschild des jungen Staates, befanden sich lange Zeit im Krisenmodus. In den späten 1970er Jahren, nachdem die Arbeitspartei den Stab an den Likud weiterreichen musste und Menachem Begin Ministerpräsident wurde, flossen nicht mehr so viele Subventionen wie früher in die Gemeinschaftssiedlungen. Zugleich hatten sich zahlreiche Kibbuzim durch Investitionen in Industriebetriebe finanziell verhoben, so dass manche von ihnen hochverschuldet waren und der Pleitegeier über sie kreiste. Darüber hinaus hatte utopische Modell des Zusammenlebens an Attraktivität verloren. Vor allem die jüngere Generation hatte keine Lust mehr auf Kollektiv, Kinderhaus und Küchendienst, weshalb man in die Städte zog. Was folgte, war ein schmerzhafter Prozess der Umstrukturierung.

Dabei sind zahlreiche Kibbuzim deutlich älter als der Staat Israel selbst. Einer von ihnen feiert dieser Tage gerade seinen 100. Geburtstag, und zwar Beit Alfa, wenige Kilometer nordwestlich von Beit She’an am Fuße des Berges Gilboa gelegen. Am 4. November 1922 hatten dort Mitglieder des HaShomer HaTzair, die überwiegend aus Polen stammten, den Kibbuz nahe des damals schon verlassenen arabischen Dorfes Khirbet Beit Ilfa, das damit auch Namensgeber wurde, errichtet. Es war der erste von 85 Kibbuzim, die von der säkularen und links-zionistischen Jugendbewegung gegründet wurden. Und in mancher Hinsicht steht er exemplarisch für die Entwicklung der Kibbuzim insgesamt. Denn der Anfang war wie überall alles andere als einfach. Erst mussten mühsam Sümpfe trocken gelegt und Straßen gebaut werden. Zudem plagte Malaria die Pioniere, die in den ersten Jahren in löchrigen Zelten lebten. Und immer wieder gab es Überfälle durch Araber, die wie bei den Unruhen von 1929 und 1936 die Felder von Beit Alfa niederbrannten oder Mitglieder des Kibbuz attackierten und ermordeten.

Hinzu kam eine dezidiert religionsfeindliche ideologische Ausrichtung, die den Kibbuzim in bewusster Abgrenzung zum Leben im Ghetto in der Diaspora zu eigen war. Als man beispielsweise in Beit Alfa 1928 beim Graben eines Bewässerungskanals die Überreste einer Synagoge aus dem 6. Jahrhundert mitsamt einem farbenreichen Mosaik, das auch hebräische Inschriften aufwies, entdeckte, wollten die jungen Sozialisten das Ganze gleich wieder zuschütten. Am Ende tat man es aber doch nicht. Prominenten Besuch gab es ebenfalls in dem Kibbuz. So machte im April 1927 der tschechoslowakische Staatspräsident Tomáš Masaryk auf seiner Reise dort Station wie auch im März 1932 der deutsche Sexualwissenschaftler Magnus Hirschfeld, der in Beit Alfa zwei Vorträge hielt und darüber hinaus auf Wunsch eines der – wie er es formulierte – „intellektuellen Anführer“ des Kibbuz über „Die sexuelle Aufklärung und die sowjetische Lösung der Sexualfrage“ referierte. Weil die Mehrheit der Kibbuz-Mitglieder zu diesem Zeitpunkt aus den deutschsprachigen Regionen der Tschechoslowakei sowie Österreich stammte, konnte Hirschfeld, der sich in seinen Berichten über die Fahrt nach Palästina auch begeistert über die Warmherzigkeit der Bewohner von Beit Alfa und das Konzept der Gemeinschaftserziehung von Kindern äußerte, vor Ort in seiner Muttersprache vortragen.

Nach der Entdeckung der Synagogen erklärt der Ausgrabungsleiter dem Publikum die Bedeutung der Entdeckung. Im Hintergrund ein Eierlager und der Stall. Beit Alpha 1928.

Aber irgendwann musste auch Beit Alfa anfangen, sich zu diversifizieren und damit dem „kapitalistischen System“ zu öffnen. Erst wurde eine Unternehmen ins Leben gerufen, das auf Auftrag von Privatpersonen und dem Verteidigungsministerium Möbel zu produzieren begann. 1966 gründete man dann Beit Alfa Technologies, eine Firma, die Spezialfahrzeuge, unter anderem zur Brandbekämpfung und den Einsatz bei der Polizei, herstellt und in 30 Länder exportiert. Und Beit Alfa war der erste Kibbuz, der in Israel eine automatisierte Milchwirtschaft einführte. Ferner entstand ein Gästehaus, das regelmäßig auch Ultraorthodoxe beherbergt, weswegen in diesen Zeiten Männer und Frauen im Kibbuz-eigenen Swimming-Pool getrennt baden und ein blickdichter Zaun hochgezogen wurde – die säkularen Gründer von Beit Alfa dürften sich wohl im Grabe umdrehen. Last but not least errichtete man Neubauten, die als Feriendomizile oder Wohnungen an Nicht-Kibbuz-Mitglieder für teuer Geld verkauft wurden. Auf diese Weise konnte sich Beit Alfa finanziell stets über Wasser halten, die Krise der 1980er und 1990er Jahre einigermaßen unbeschadet überstehen und sich neu positionieren.

Sogar vom gemeinschaftlichen Essen im Speisesaal hatte man sich längst vielerorten verabschiedet. Um zu überleben, wurden überall sozialistische Prinzipien auf den Prüfstand gestellt und verschiedene Formen der Privatisierung durchgeführt. Die Kibbuznikim mussten irgendwann sogar für Nahrungsmittel oder Kleidung selbst aufkommen. Statt eines monatlichen Zuschusses, der sich an Kriterien wie Alter, Zahl der Familiengehörigen oder ähnlichem orientiert, gibt es heute ein Gehalt, das abhängig von der Qualifikation des Einzelnen und seiner Tätigkeit ist. Hätte man nicht wie auch in Beit Alfa alte Gewohnheiten abgelegt und sich nicht neuen Idee gegenüber geöffnet, nur eine Handvoll der heute 230 säkular ausgerichteten und und 20 religiösen Kibbuzim würde heute noch existieren. Finanzielle Not machte manchen Kibbuz erfinderisch. Aber die Entwicklung war alles andere als einheitlich. Während einige Kibbuzim quasi ihr Tafelsilber veräußern mussten, um über die Runden zu kommen, hatten andere dagegen einen Riesenerfolg mit ihren Geschäftsideen. Kibbuz Sasa nahe der Grenze zum Libanon ist so einer. Dort gibt es seit 1985 Plasan Sasa, ein Unternehmen, das Panzerungen für Fahrzeuge herstellt und nach der Jahrtausendwende gleich mehrere KfZ-Zulieferer in den Vereinigten Staaten und Frankreich übernahm. Heute verzeichnet der Kibbuz-eigene Betrieb einen Umsatz von über einer Milliarde Dollar und beschert den 250 Mitgliedern der Gemeinschaftssiedlung einen Leben in ungeahntem Wohlstand. Längst ist die Landwirtschaft nicht mehr die Haupteinnahmequelle. Drei Viertel aller Gelder, die die Kibbuzim erwirtschaften, stammen mittlerweile aus den industriellen Betrieben oder  dem Tourismusbereich.

„Erneuerte Kibbuzim“ lautet das Schlagwort, das diese Prozesse beschreibt. Und auch der noch namenlose Kibbuz, der bald entstehen soll, wird weder Gemeinschaftsküche, noch -wäscherei, geschweige Kinderhaus haben, also keine der klassischen Merkmale einer solchen Siedlung. Die Gründe dafür nennt Nir Meir, Generalsekretär der Kibbuz-Bewegung: „Wir wollen nicht mit dem Aufbau von etwas beginnen, das wir kurz darauf wieder dichtmachen müssen. Das haben wir alles schon längst hinter uns.“ Was den neuen Kibbuz von anderen ländlichen Siedlungen unterscheiden wird, ist die Tatsache, dass bestimmte Versorgungseinrichtungen und Ressourcen allen gehören. Und natürlich der Gemeinschaftsgeist, der in mancher Hinsicht ein Versprechen von sozialer Sicherheit beinhaltet, das es anderswo in Israel nicht mehr gibt. Und genau das scheint gefragt zu sein. „Aktuell haben wir eine Warteliste von 30.000 bis 40.000 Personen, die sofort in einen Kibbuz ziehen möchten, wenn denn der Platz für sie da wäre“, so Generalsekretär Meir weiter. „Aber wer immer sich auch darum bewirbt, sollte wissen, dass dies eine Verpflichtung ist, die ein Leben lang andauert und kein Abenteuer für ein paar Jahre.“ Derzeit leben rund 200.000 Israelis in einer der insgesamt rund 250 Kibbuzim – aber nur ein Drittel davon sind auch wirklich Mitglieder dieser Gemeinschaftssiedlungen, von denen die allererste 1909 ins Leben gerufen wurde, und zwar Degania Aleph am See Kinnereth. Und der jüngste Kibbuz entstand 1989: Neot Smadar in der südlichen Arava-Wüstensenke. Die Krise, die damals die Kibbuzim durcheinanderwirbelte, hatte dafür gesorgt, dass es lange keine Neugründungen mehr gab. Bis jetzt jedenfalls.

„Wir haben immer gesagt, dass wir uns nicht aufdrängen werden“, bringt es Meir auf den Punkt. „Aber wenn die Regierung schon mal einen Beschluss fasst, neue Siedlungen zu bauen, wollten wir ebenfalls mit von der Partie sein. Als die Wahl dann auf den östlichen Negev fiel, haben wir uns an die Behörden gewandt und gesagt, dass wir gerne es gerne sehen würden, wenn eine dieser Gemeinden ein Kibbuz wird. Erst zeigte man sich sehr überrascht, aber letztendlich erfreut.“ Nur die Stadt Arad war nicht sonderlich von den Plänen begeistert. „Wir waren der Meinung, dass die Regierung, bevor sie etwas Neues gründet, erst einmal in bereits existierende Kommunen wie unsere investieren sollte“, so ihr Bürgermeister Nisan Ben-Hamo. Doch seine Bedenken vor Kannibalisierungseffekten konnten zerstreut werden. Was Ben-Hamo schließlich davon überzeugte, seine Einwände zurückzunehmen, war die Erkenntnis, dass diese neuen Gemeinden keine Bedrohung für seine Stadt darstellen. „Uns wurde klar, dass wir nichts zu befürchten hatten, da diese neuen Kommunen nicht mit uns in Konkurrenz treten werden. Im Fall des Kibbuz zum Beispiel soll es um Familien gehen, die von außerhalb der Region kommen und hauptsächlich in der Landwirtschaft arbeiten. Und die Menschen, die in Arad leben, wollen keine Landwirte sein.“

Bild oben: Beit Alpha 1923, National Foto Collection Israel, D828-065

1 Kommentar

  1. Danke für den Beitrag!

    Es gibt jedoch, meiner Meinung nach, auch einen nicht ideologischen Aspekt, der für gesamt Israel wichtig ist. Kibbuzime sollten -wieder- die Jugend der Welt sammeln, die durchaus für diese Art des Zusammenlebens affin ist.

    Habe mit 19 -Anfang der 80`- mit dem Yellow Monster Orangen gepflückt, in den Monaten dort ganz Israel besucht und Freundschaften mit jüdischen und nicht jüdischen Menschen geschlossen. Wir waren, in unterschiedlichen Zusammensetzungen, überall im Land unterwegs und haben es kennengelernt. (zu Dritt: der Ami pöbelt den Deutschen und den Engländer aufgrund der Vergangenheit an, und dann schlafen wir friedlich wieder bei Mister.A. auf den Dächern der Altstadt)

    Israel ist ein völlig irres Land!

    Man sollte es Allen zeigen! Besonders der Jugend!

    Je mehr – um so freundlicher!

    Ente

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