Juden in der Ukraine – Historischer Hintergrund III

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Der durch den russischen Krieg des Jahres 2022 ausgelöste Exodus von Juden aus der Ukraine gab den Anlass, historische Texte zu sichten und auf Eignung für eine Neuveröffentlichung zu untersuchen. Die aktuelle Geschichtsschreibung setzt nämlich bisweilen andere Akzente als ihre Vorgänger und es könnten somit wichtige Gesichtspunkte unberücksichtigt bleiben. Diesmal steht die Broschüre eines englisch-jüdischen Komitees von 1891 im Fokus, welche die massiven Diskriminierungen von Juden im Zarenreich anprangerte.

Von Robert Schlickewitz

–> Direkt zum Text „Die Verfolgung der Juden in Rußland“

Beabsichtigt man als Deutscher über Judenfeindlichkeit in der Ukraine oder in Russland zu schreiben, sollte man sich der eigenen bedrückenden Judengeschichte, also der historischen Ereignisse im eigenen Lande, wie auch der Verfolgung und Ermordung von Juden und Slawen in der Sowjetunion während des Zweiten Weltkriegs durch die eigenen Vorfahren bewusst sein.

Deutsche weisen eine einzigartige, tausendjährige Geschichte des Antijudaismus und Antisemitismus („Pogromkultur der Deutschen“) auf, und, Deutsche tragen mit ihrem Angriffskrieg gegen die Sowjetunion die Verantwortung für den Tod von 5 bis 15 Millionen Ukrainern, unter ihnen Christen, Juden und Atheisten – von den in den Jahren 1941-1945 ums Leben gekommenen Millionen Russen, Weißrussen und Angehörigen anderer Völker der UdSSR hier einmal abgesehen.

Angesichts der offensichtlichen Unsicherheit, die bei den statistischen Angaben zu den ukrainischen Toten des Zweiten Weltkriegs besteht, geht der Autor dieses und weiterer Beiträge bis auf weiteres von 8 bis 10 Millionen Ukrainern aus, wobei er sich auf internationale Forschungsergebnisse berufen kann.

Mehr oder weniger präzise Angaben zu den ukrainischen Opferzahlen des Zweiten Weltkrieges machten u.a.:

Orest Subtelny: Ukraine. A History. Vierte Auflage. Toronto u.a. 2009/2012. S. 479.
Arkady Joukovsky: Histoire de L’Ukraine. Dritte Auflage. Paris 2022. S. 130.
Serhii Plokhy: The Gates of Europe. A History of Ukraine. Penguin Books UK 2015. S. 291.
Andreas Kappeler: Kleine Geschichte der Ukraine. Achte Auflage. München 2022. S. 224.
Kerstin S. Jobst: Geschichte der Ukraine. Ditzingen 2015/2022. S. 223.

Als weitgehend gesichert gilt die Anzahl der von Deutschen, Österreichern und deren „fremdländischen“ Helfern ermordeten ukrainischen Juden. Stellvertretend für ihre Kollegen sei die in der obigen Auflistung zuletzt genannte Autorin zitiert (S.209):

„Insgesamt stammte jedes vierte der etwa sechs Millionen Opfer der sog. Endlösung der europäischen Judenfrage aus den ukrainischen Gebieten.“

Zum ausgewählten Text

Im kaiserlichen Berlin des Jahres 1891 kam in deutscher Sprache eine 116seitige Broschüre heraus, die weder Verfasser- noch Herausgebernamen, lediglich Name und Adresse ihrer Druckerei enthält: H. Itzkowski, Berlin, Gr. Hamburger-Straße 18-19.

Der Titel der Druckschrift lautet: „Die Verfolgung der Juden in Rußland“ und sie bezieht sich auf Verhältnisse und Ereignisse in den neun Jahren nach der Ermordung von Zar Alexander II. im Jahre 1881, sowie auf deren Vorgeschichte.

Die Broschüre enthält drei Hauptteile, von denen der erste Teil, eine Schilderung der Lage der russischen Juden, hier reproduziert wird. Der Zweite Teil besteht aus einer Zusammenstellung der bis zum 1. Dezember 1890 kodifizierten und nur für Juden geltenden russischen Ausnahmegesetze. Der dritte Teil ist mit „Das Guildhall-Meeting zu Gunsten der russischen Juden“ betitelt und stellt einen stenografierten Bericht zu Teilnehmern, Ablauf und Inhalt jener Konferenz vom 10. Dezember 1890 dar, auf der das Schicksal der russischen Juden besprochen wurde.

Es kann selbstverständlich problematisch sein, x-beliebige anonyme Schriften ungeprüft für authentisch zu erklären und einer erneuten Veröffentlichung zuzuführen. Jedoch spricht im vorliegenden Fall der Inhalt der ausgewählten Schrift, den man anhand allgemein anerkannter Erkenntnisse leicht überprüfen kann, für deren Seriosität.

Dass jener omnipräsente, virtuell agierende Marktgigant die englische Originalfassung als Nachdruck in seinem Sortiment auflistet (Stand: Sept. 2022), und dass die Schrift heute noch in ihrer deutschen Übersetzung in gut sortierten Antiquariaten der BRD angeboten wird, stellt hingegen kein hinreichendes Argument für ihre Authentizität dar.

Zur Vertiefung bzw. zu Vergleichszwecken folgt eine Auswahl neuerer und neuester Literatur, zum Antisemitismus im Zarenreich und in den frühen Jahren der Sowjetmacht:

Robert Weinberg u.a.: Jews under Tsars and Communists. The Four Questions. Bloomsbury Academic 2023 (yet to be published).

Jeffrey Veidlinger: In The Midst of Civilized Europe. The Pogroms of 1918 – 1921 and the Onset of the Holocaust. Picador – Pan Macmillan – London 2021 (also available in German).

Werner Bergmann: Tumulte – Excesse – Pogrome. Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789 – 1900 (Studien zu Ressentiments in Geschichte und Gegenwart des Zentrums für Antisemitismusforschung, Band 4). Wallstein – Göttingen 2020.

Elias Heifetz: The Slaughter of the Jews in the Ukraine. Alpha Editions 2020 (Reprint des Originals von 1921).

Julian Batchinsky, Arnold Margolin, Mark Vishnitzer, Israel Zangwill : The Jewish Pogroms in Ukraine. Authoritative Statements on the Question of Responsibility for Recent Outbreaks Against the Jews in Ukraine. Reprint des Originals von 1919. Reihe: Scholar Select. Franklin Classics Trade Press – USA o.J.

Trond Berg Eriksen u.a.: Judenhass. Die Geschichte des Antisemitismus von der Antike bis zur Gegenwart. Vandenhoeck & Ruprecht 2019.

Paul Robert Magocsi und Yohanan Petrovsky-Shtern: Jews and Ukrainians. A Millennium of Co-Existence. Second Revised Edition. University of Toronto Press – Toronto 2018.

Irina Marin: Peasant Violence and Antisemitism in Early Twentieth-Century Eastern Europe. Palgrave Macmillan 2018.

Irina Astashkevich: Gendered Violence. Jewish Women in the Pogroms of 1917 to 1921. Academic Studies Press – Boston 2018.

Henry Abramson: Ukrainians and Jews in Revolutionary Times 1917 – 1920. A Prayer for the Government. Revised Edition. Henry Abramson 2018.

Victoria Khiterer: Jewish City or Inferno of Russian Israel? A History of the Jews in Kiev before February 1917. Reihe: Jews of Russia & Eastern Europe and Their Legacy. Academic Studies Press (Reprint) 2017.

Götz Aly: Europa gegen die Juden. 1880 – 1945. Fischer – Frankfurt a/M 2017.

Stefan Wiese: Pogrome im Zarenreich. Dynamiken kollektiver Gewalt (Reihe: Studien zur Gewaltgeschichte des 20. Jahrhunderts). Hamburger Edition 2016.

Andreas W. Hohmann und Jürgen Mümken (Hg.): Kischinew. Das Pogrom 1903. Edition AV 2015.

Robert Nemes u.a.: Sites of European Antisemitism in the Age of Mass Politics. 1880-1918. Brandeis University Press 2014.

Karl Schlögel und Karl-Konrad Tschaepe (Hg.): Die Russische Revolution und das Schicksal der russischen Juden. Eine Debatte in Berlin 1922/23. Matthes & Seitz, Berlin 2014.

Robert Weinberg: Blood Libel in Late Imperial Russia. The Ritual Murder Trial of Mendel Beilis (Indiana-Michigan Series in Russian and East European Studies). Indiana University Press 2013.

Eugene M. Avrutin und Harriet Murav: Jews in the East European Borderlands. Essays in Honor of John D. Klier. (Reihe: Borderlines. Russian and East European-Jewish-Studies). Academic Studies Press 2012.

Charles King: Odessa. Genius and Death in a City of Dreams. W.W. Norton & Company – New York und London 2011.

Leonid Livak: Jewish Persona in the European Imagination. A Case of Russian Literature. (Stanford Studies in Jewish History and Culture). Stanford University Press 2010.

Sonja Weinberg: Pogroms and Riots. German Press Responses to Anti-Jewish Violence in Germany and Russia (1881-1882). Peter Lang GmbH 2010.

Ute Drechsler: Judendiskriminierung und Antisemitismus im Russischen Reich bis 1917 – Funktionen und Gründe. GRIN-Verlag 2010 (Studienarbeit an der Martin-Luther-Universität Halle-Wittenberg).

Jean-Jacques Marie: L‘ Antisémitisme en Russie. De Cathérine II à Poutine. Tallandier 2009.

The Jews of Odessa. A Cultural History, 1794 – 1881. Stanford University Press – Stanford 1986/2004.

Orlando Figes: Die Tragödie eines Volkes. Die Epoche der Russischen Revolution 1891 bis 1924. Berlin Verlag – Berlin 1998.

David I. Goldstein: Dostoyevsky and the Jews. University of Texas Press 1981.

 

Die Bezeichnungen „Russland“ und „russisch“ in historischen Publikationen:

Unter dem Begriff „Russland“ stellen wir uns heute in der Regel konkret das Territorium der Russischen Föderation vor und gehen wir bei der Nationalitätenbezeichnung „Russe/n“ von ethnischen Russen aus, also nicht auch von Ukrainern oder Weißrussen (Belarussen).

Eine derart komplexe Differenzierung überforderte freilich die große Mehrheit der Deutschen, die bisher gewohnt war, alles Unbekannte jenseits von Polen mit „Russland“, „russisch“ oder „Russen“ zu bezeichnen.

Unterschieden denn die Gebildeten im zu Ende gehenden 19. Jahrhundert, um das es hier geht, ebenso klar zwischen „Russisch“, „Ukrainisch“ und „Weißrussisch“ wie wir heute, oder war das damals anders?

Da keine lebendigen Zeitzeugen mehr befragt werden können, müssen wir uns mit schriftlichen Quellen, zum Beispiel mit alten deutschen Enzyklopädien, behelfen. Vor allem drei Enzyklopädien erwarben sich im Jahrhundert Marxens, Wagners, Fontanes und Bismarcks ein herausragendes Renommee: Brockhaus, Pierer und Meyer. Wir wollen für unsere Zwecke in den Pierer von ab 1875 und in den Meyer von ab 1893, jeweils in die großen, mehrbändigen Auflagen, blicken.

Russen (Großrussen, Kleinrussen, Weißrussen), s(iehe) u(nter) Rußland VII.

Rußland VII Geogr(aphie)

B e v ö l k e r u n g  u(nd)  V o l k s b i l d u n g. Die Bevölkerung des Russ. Reiches besteht schon in Europa aus sehr verschiedenen Bestandteilen; den Hauptstock jedoch bilden die der A.  s l a v i s c h e n  Völkerfamilie angehörenden  R u s s e n  (über 50 Millionen), … Sie zerfallen in  G r o ß r u s s e n  (34 Millionen, am stärksten vertreten in den nordöstl. und den nördl. und in den östl. Gouvernements bis zu den unteren Gebieten der Wolga u. des Don u. im Zentrum des Landes, Moskau, Tula, Twer, Kaluga) u.  K l e i n r u s s e n  (14 Millionen, in der Ukraine, Bessarabien, Podolien, Volhynien), endlich  W e i ß r u s s e n  (3 Millionen, in den Gouvernements Grodno, Minsk, Mohilew, Smolensk, Wilna, Witebsk). Der russ. Stamm ist infolge der Schicksale des Landes vielfach mit mongolischen und türkisch-tatarischen Elementen gemischt. Zu ihm ist wahrscheinlich auch der Mischstamm der  K o s a k e n  (…) zu rechnen…

Pierers Universal-Conversations-Lexikon. Neuestes encyklopädisches Wörterbuch aller Wissenschaften, Künste und Gewerbe. Sechste Auflage. Fünfzehnter Band. Oberhausen und Leipzig 1878.

Russen (russ. Russkije, Einzahl Russki), das herrschende slawische Volk im russischen Reiche, benannt nach den normännischen (sic!), in Schweden angesessenen Rus, die im 9. Jahrh. den jetzigen russischen Staat gründeten. Reine Slawen sind die Russen nicht. Am wenigsten fremde Beimischung zeigen die Kleinrussen in den südwestlichen Provinzen, während die Großrussen im Osten und Westen finnische und türkische, die Weißrussen im mittleren Westen litauische und polnische Einflüsse zeigen…

Die Zahl der Russen im europäischen Rußland beträgt etwa 77 Millionen unter 106 Millionen überhaupt. Davon entfällt bei weitem der größte Teil auf:

1.) die  G r o ß r u s s e n  oder   M o s k o w i t e r , die etwa 55 Millionen Seelen stark, in zusammenhängendem Ganzen das gesamte sogen. Großrussland bewohnen; nur in den Gouvernements Kursk und Woronesh sind 23,6 bzw. 35,25 Proz. Kleinrussen, im Gouvernement Smolensk 42,5 Proz. Weißrussen. Sie bewohnen ferner das Gouv. St. Petersburg, die Uralgouvernements, zwei Drittel des Donischen Gebietes und das untere Wolgatal. Innerhalb des letzteren sind im Gouv. Samara 5,3, in Saratow 8,5 und in Astrachan 31,4 Proz. der Bevölkerung Kleinrussen. Auch der russische Teil der Bevölkerung von Taurien wird aus Großrussen gebildet. Auf kleinrussischem Gebiete bilden sie in Cherson über 1, in Jekaterinoslaw 4,75, in Tschernigow 5,4 und in Charkow fast 30 Proz. der Gesamtbevölkerung. Auch die meisten der über Sibirien verbreiteten Russen muss diesem Stamm zugezählt werden…

2) Die  K l e i n r u s s e n  nehmen in einem geschlossenen Ganzen den südwestlichen Teil des europäischen Rußland ein, mit Ausschluss der Krim und der anstoßenden Landschaften des Festlandes. Ihr Gebiet umfasst die westrussischen Gouvernements Wolhynien und Podolien, die südliche kleinere Hälfte von Grodno, die Osthälfte von Sjedletz und Lublin, ferner die sogen. Ukraine (Kiew, Tschernigow, Poltawa, Charkow), Stücke von Kursk und Voronesh, ein Drittel des Donischen Gebiets und die neurussischen Gouvernements Jekaterinoslaw, Cherson und Bessarabien. In dem letzteren sind sie mit Rumänen gemischt; ein größeres zusammenhängendes kleinrussisches Gebiet finden wir noch am Ostufer des Asowschen Meeres. Eine Reihe ansehnlicher kleinrussischer Enklaven verläuft nach Osten über Saratow bis zum Uralfluss. Die Gesamtzahl der im europäischen Rußland lebenden Kleinrussen beträgt etwa 17 1/3 Millionen. Doch setzt sich der Volksstamm noch über die heutige russische Grenze fort, da die Ruthenen (…) in Galizien, der Bukowina und den nordungarischen Komitaten ihm angehören. Die Zahl der Ruthenen betrug 1890 in Österreich 3 101 497, in Ungarn 383 323, so dass die Gesamtzahl aller Kleinrussen auf 21 Millionen veranschlagt werden kann… Obgleich in allen Behörden und Schulen nur die großrussische Sprache angewandt wird, herrscht die kleinrussische doch im Volksverkehr. Den Polen sowohl als den Großrussen gegenüber hat der Kleinrusse sich immer ablehnend verhalten, obschon seine politischen Geschicke bald mit dem einen, bald mit dem anderen dieser beiden Völker verbunden waren. Erst neuerdings macht sich in Rußland eine größere Annäherung auf geistigem Gebiete zwischen Klein- und Großrussen geltend, während in Galizien der Ruthene dem Polen entschieden feindlich gegenübersteht. Der Kleinrusse, der Nachkomme der am Dnjepr ehemals angesessenen Poljanen, zeigt den slawischen Typus sehr rein…

3) Die  W e i ß r u s s e n , … sind der kleinste (etwa 5 Mill.) der drei russischen Hauptstämme. Sie werden im Süden von den Kleinrussen, im Osten und Nordosten von den Großrussen, im Westen von Litauern und Polen begrenzt. Sie bewohnen die nördliche (größere) Hälfte des Gouvernements Grodno, die Gouvernements Witebsk und Wilna, die Westhälfte des Gouv. Smolensk, ferner Mohilew und Minsk und ein kleines nordwestliches Stück von Tschernigow…

Meyers Konversations-Lexikon. Ein Nachschlagewerk des allgemeinen Wissens. Fünfte Auflage. Vierzehnter Band. Leipzig und Wien 1897.

 

Unsere Vorfahren von vor rund 130 Jahren hegten also eine etwas andere Vorstellung von „Russland“ als wir heute. „Russen“ konnten für sie Russen oder Weißrussen oder Ukrainer (Kleinrussen, Ruthenen) oder alle zusammen sein.

Statistiken zur ethnischen Zusammensetzung der Bevölkerung des zaristischen Russlands ergeben folgendes Bild für gegen Ende des 19. Jahrhunderts:

Russen: 44 %
Ukrainer: 18 %
Muslime (Tataren, Kaukasier, Mittelasiaten): 12 %
Polen: 7 %
Weißrussen: 5 %
Finnen und Balten: 5 %
Juden: 4 %

Auch die Zahlen von gegen Ende des Sowjetimperiums, aus dem Jahre 1989, verdienen Beachtung:

Russen: 51 %
Muslime: 19 %
Ukrainer: 15,5 %

(Jeweils: Andreas Kappeler: Russische Geschichte. München 2008. 5. Aufl. S. 72)

Die Statistiken machen deutlich, wie unzutreffend die Pauschalbezeichnung „Russe“ für die Menschen im alten Russland bzw. in der UdSSR sein konnte.

Vielvölkerstaat mit selektiver Diskriminierung

Angehörigen der beiden kleineren ostslawischen Stämme, Ukrainern und Weißrussen, standen, ausreichend individuelle Anpassungsfähigkeit vorausgesetzt, sowohl im Zarenreich als auch danach, in der Sowjetunion, sämtliche Türen nach ganz weit oben offen. Man denke nur an den zu den bedeutendsten Schriftstellern Russlands des 19. Jahrhunderts gezählten Ukrainer Nikolaj Gogol oder an den ebenfalls aus der Ukraine stammenden sowjetischen Dauerstaatschef Leonid Breschnew oder an den gebürtigen Weißrussen und Langzeitaußenminister der UdSSR Andrej Gromyko.

Aber auch Nichtslawen bzw. Nichtorthodoxen boten sich offensichtlich im zaristischen Russland gar nicht so schlechte Entfaltungsmöglichkeiten; lediglich für Juden galten gewisse Einschränkungen:

„Im dynastisch-ständisch legitimierten Rußländischen Reich spielten ethnisch-sprachliche Kriterien und sogar die Religion eine untergeordnete Rolle. Nachdem Widerstand mit Gewalt unterdrückt worden war, kooptierte die Zentrale die loyalen nichtrussischen Eliten in den Adel des Reiches, wenn sie dem Muster des landbesitzenden russischen Adels entsprachen. Das galt nicht nur für Orthodoxe wie Ukrainer oder Georgier, sondern auch für Lutheraner (Deutschbalten, Finnländer), die katholischen Polen und sogar für die Muslime an der Wolga, auf der Krim und in Aserbaidschan. Sie hatten wie der russische Adel für Ruhe und Ordnung in ihren Regionen zu sorgen und dem Staat Dienste zu leisten. Der soziale Status quo wurde zunächst nicht angetastet, die fremden Bekenntnisse anerkannt. Spezifische Fähigkeiten der nichtrussischen Eliten wurden für die Zentrale genutzt, so in Militär, Bürokratie (hier besonders die Deutschbalten), Wissenschaft und Handel (so die Diasporagruppen der Juden und Armenier) …

… In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts führten das Auftreten nationaler Bewegungen bei Nichtrussen und Russen und die auf Uniformierung und Systematisierung ausgerichtete Modernisierungspolitik erstmals zu einer forcierten Russifizierungspolitik gegenüber den Nichtrussen im Westen und Süden des Reiches. Ein wichtiger auslösender Faktor war der polnische Aufstand von 1863/64, der harte Repressionen nicht nur gegen den polnischen Adel, sondern auch gegen die ukrainische, weißrussische und litauische Sprache zur Folge hatte. Gleichzeitig faßte der Nationalismus in Teilen der russischen Gesellschaft Fuß und beeinflusste die Politik der Regierung, die seit 1881 auch die Juden vermehrt diskriminierte.“

(Andreas Kappeler: Russische Geschichte. München 2008. 5. Aufl. S. 72f)

Der Antisemitismus im Zarenreich

Setzt man die Namen der bedeutendsten, national wie international anerkannten, Dichter und Denker europäischer Länder mit ihren jeweiligen Lebensdaten auf eine Liste, kann man interessante Feststellungen treffen:

Dante (1265-1321), Petrarca (1304-1374), Boccaccio (1313-1375);
Cervantes (1547-1626), Lope de Vega (1562-1635);
Shakespeare (1564-1616); Pieter Corneliszoon Hooft (1581-1647);
Molière (1622-1673), Voltaire (1694-1778), Rousseau (1712-1778);
Kant (1724-1804), Goethe (1749-1832), Schiller (1759-1805);
Puschkin (1799-1837), Dostojewskij (1821-1881), Lew Tolstoj (1828-1910), Tschechow (1860-1904).

Italien – Spanien – Großbritannien – Niederlande – Frankreich – Deutschland – Russland.

Ganz deutlich zeichnet sich, chronologisch gesehen, eine West-Ost-Wanderung der Kultur ab. Die Russen waren eindeutig die letzten, die den „Kuss der Muse“ zu verspüren bekamen. Ihre Nationalkultur ist im Vergleich zu der der anderen europäischen Völker eine verspätete Kultur. Sie ist nicht unbedingt schlechter, aber sie ist ganz klar die jüngste und ihre Vertreter konnten von bereits existierenden Vorarbeiten aus dem Westen profitieren.

Russland schielte in seiner Geschichte sehr häufig nach dem Westen, um sich zu orientieren oder um an Neuerungen teilhaben zu können. Eigene Impulse blieben zwar nicht aus, waren jedoch für die schiere Größe des Landes eher von bescheidenem Umfange. Eine führende Stellung konnte Russland in Europa bis dato nur in wenigen Bereichen für sich reklamieren.

Was für Philosophie, Literatur, europäische Musik, Kunst (nicht Volkskunst!) ganz allgemein, und natürlich die Technik gilt, müsste auch für den sozialen Bereich Gültigkeit besitzen. Zu diesem, die menschliche Gesellschaft unmittelbar betreffenden Bereich, gehören u.a. die Menschenrechte, die Gleichheit vor dem Gesetz, der Grad der persönlichen Freizügigkeit etc.  

Inwieweit hat Russland auch diesbezüglich auf die westlichen Vorbilder geblickt? Inwieweit sich an ihnen womöglich orientiert oder sie gar imitiert?

Zu den relativ erschöpfend erforschten, gesellschaftlichen Phänomenen europäischer Länder gehört deren Antijudaismus bzw. Antisemitismus. – Zeichnen sich hier, auf Russland bezogen, eventuelle Muster ab?

In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhundert kam es in mehreren Teilen unseres Kontinents zu einer ganzen Reihe von Verfolgungen von, Ausschreitungen gegenüber und Massakern an Juden, von den alltäglichen Diskriminierungen und Repressionen nicht zu reden:

1861 im Schweizer Kanton Aargau
1861 und 1866 in Böhmen (Prag) und Mähren (Moravia)
1865/66 in Franken (Deutsches Reich)
1866 in Galizien („Polnische“ Donaumonarchie)
1866-1878 in Rumänien
1873 in Stuttgart
1877/78 in Bulgarien und in Chania/Kreta („Osman.“ Griechenland)

(Werner Bergmann: Tumulte, Excesse, Pogrome. Kollektive Gewalt gegen Juden in Europa 1789 – 1900. Göttingen 2020. S.331-419.)

Und in Russland? – Im Zusammenhang mit dem Türkisch-Russischen Krieg von 1877/78 kam es zu vereinzelten Judenpogromen. Ansonsten setzten die ganz besonders opferreichen Ausschreitungen erst nach der Ermordung des Zaren Alexanders II., 1881, ein. Eine Ausnahme bildete die heute zur Ukraine gehörende Hafenstadt Odessa. In ihr herrschten ganz besondere interethnische Verhältnisse und so fanden dort 1859 und 1871 Pogrome statt. Ansonsten jedoch war die Lage für die Juden im Zarenreich zwar höchst bedrückend, aber relativ sicher.

Russische Politiker und Intellektuelle verfolgten aufmerksam das Aufkommen des politischen Antisemitismus im Westen, sie informierten sich über Judengesetze und staatliche Maßnahmen gegen Juden in anderen Ländern, sie sannen über eigene Maßnahmen nach, verfügten schließlich jene ganz besonders einschneidenden Gesetze und betrauten ihre Exekutivorgane mit deren Durchsetzung; all das ebenfalls mit gehöriger Verspätung, im Vergleich zum übrigen Europa.

Was die russische Staatsspitze offensichtlich, so neuere Erkenntnisse, nicht tat, war, die Bevölkerung zu Pogromen zu ermuntern. Zugleich jedoch konnten zahlreiche Mörder und Vergewaltiger mit ausgesprochener Milde vor Gericht rechnen, oder mussten gar nicht befürchten, strafrechtlich verfolgt zu werden. Die Regierung und die Exekutive sahen den sich ab 1881 entladenden Volkszorn, der sich in erster Linie gegen Juden richtete, als Ventil an. Sie waren froh, einen Sündenbock gefunden zu haben, um von vielfachem staatlichen und von gesellschaftlichem Versagen ablenken zu können.

(u.a. Werner Bergmann: Geschichte des Antisemitismus. München 2016. 5. Aufl. S. 58-65; Martin Sixsmith: Russia. A 1000 Year Chronicle of the Wild East. London 2012. S. 140-155)

Die opferreichsten Judenverfolgungen auf dem Territorium Russlands setzten nach 1881 ein und ebbten erst ab, als sich die Sowjetmacht nach dem Bürgerkrieg etablieren konnte, also in den frühen 1920ern.

Zur Ehrenrettung der Russen muss hinzugefügt werden, dass es bei ihnen stets auch besonnene, aufgeschlossene, rational denkende und humanistisch empfindende Menschen gab, die die eigenen Missstände klar erkannten und den ehrlichen Willen zu positiver Veränderung besaßen. Allzu oft allerdings mussten sie einsehen, dass sie sich nicht durchsetzen konnten gegen die zahlreichen Traditionalisten und Bewahrer überholter Wertesysteme.

 

Wiedergabe des ersten Teils des historischen Texts:

[Weitgehend der modernen Orthographie angeglichen; Hervorhebungen entsprechen dem Original; Erläuterungen bzw. Glossar folgen dem Text]

Die Verfolgung der Juden in Rußland

Nebst Anhang:

I.

Zusammenstellung sämtlicher die Juden in Russland betreffenden Special- und Ausnahme-Gesetze

II.

Das Guildhall-Meeting zu Gunsten der russischen Juden

(Stenographischer Bericht.)

Berlin

1891.

Die nachstehenden Ausführungen – eine erweiterte Bearbeitung der vom englisch-jüdischen Komitee herausgegebenen Schrift „The Persecution of the Jews in Russia“ – bedürfen keines begleitenden Wortes: die schlichte Darstellung der Tatsachen, deren Zuverlässigkeit über jeden Zweifel erhaben ist, wird genügen, um die Leiden und Verfolgungen, denen die fünf Millionen Juden Rußlands um ihres Glaubens willen ausgesetzt sind, zu kennzeichnen und die Gesitteten, die menschlich fühlenden aller Konfessionen in Unwillen und Entrüstung über diese Barbarei zu vereinigen.

„Alle in England geborenen Juden werden als Ausländer betrachtet. Kein Jude darf in einem anderen Theile des vereinigten (sic!) Königreiches, als in Wales und den Grafschaften Cheshire, Shropshire, Hereford und Monmouth wohnen, mit Ausnahme derer, welche die Universitätsexamina gemacht haben, ferner der Mitglieder eines gelehrten Standes, der Handwerker, die einen Befähigungsnachweis geliefert, und der Mitglieder einer Handelskammer, welche als solche fünf Jahre hintereinander je 2000 Mark bezahlt haben. Kein Jude darf ein Staatsamt oder ein städtisches Amt bekleiden. Kein Jude darf Grundbesitz erwerben oder pachten. Alle Juden müssen für die Ausübung ihrer rituellen Gebräuche besondere Steuern zahlen. Keine Synagoge darf ohne Genehmigung der Königin eröffnet werden; öffentlicher Gottesdienst darf nicht außerhalb einer Synagoge stattfinden. Verheiratete Juden, welche sich zur anglikanischen Kirche bekehren, sind ipso facto geschieden, aber die Frau darf, wenn sie Jüdin bleibt, nicht wieder heiraten. Alle Juden, welche das Alter von 20 Jahren erreicht haben, müssen 5 Jahre im stehenden Heere und 13 Jahre in der Reserve dienen, kein Jude darf aber Offizier oder auch nur Offiziersbursche sein. Kein Jude darf in der Marine dienen.“

Ein Zustand, wie der geschilderte, ist so unmöglich, daß unsere Darstellung leicht ein Lächeln hervorruft. Und doch schildert sie – zum besseren Verständnis in englische Verhältnisse eingekleidet – die Zustände, in denen die russischen Juden seit mehr als hundert Jahren leben. Von der Wiege bis zum Grabe war das Leben des russischen Juden stets durch derartige Ausnahmegesetze eingeengt. Ausführlicher, wenn auch keineswegs vollständig sind dieselben im Anhang auseinandergesetzt. Berücksichtigt man, daß außer diesen Ausnahmegesetzen das allgemeine russische Gesetz mit seiner Fülle von Einzelvorschriften für die Juden bindend ist, so ergeben sich Zustände, die einem Engländer unerträglich erscheinen würden. Aber unerträglich wurde die Last, hart wurde dieses Joch durch Verordnungen, welche vor ungefähr acht Jahren erschienen sind, und deren strenge Durchführung während der letzten drei oder vier Jahre betrieben wurde. Dieselben sollten sogar – so fürchtete man – erweitert und verschärft werden. Schon jetzt läßt sich ihre Wirkung in das umschriebene Gesetz zusammenfassen: „Kein russischer Jude darf sich seinen Lebensunterhalt erwerben.“

Historischer Überblick.

Um einen historischen Überblick zu geben, wird man zunächst auf die allgemeine Haltung der russischen Regierung den Juden gegenüber und auf die Ursachen der berüchtigten Ignatieff’schen Gesetze vom 3. Mai 1882 zurückgreifen müssen. Wie allgemein bekannt, befindet sich Rußland noch in dem mittelalterlichen Zustande der Entwicklung, in welchem Kirche und Staat identisch sind. Diejenigen, welche nicht zur orthodoxen russischen Kirche gehören, werden nicht als echte Russen angesehen: Juden sind also in den Augen der Russen sowohl Ketzer als Fremde. Den Anhängern anderer Konfessionen gegenüber konnte dieses Prinzip nicht vollständig durchgeführt werden, ohne zu internationalen Verwicklungen zu führen. Aber die russischen Juden haben keine natürlichen auswärtigen Beschützer, und so wird das Prinzip ihnen gegenüber in vollster Strenge angewandt. Sie gehören nicht zur orthodoxen Kirche, sind also Ausländer und werden als solche in den Gesetzbüchern bezeichnet und angesehen, obgleich ihre Ahnen in manchen Gegenden lange Zeit vor der russischen Herrschaft ansässig waren.

Noch eine andere Ursache zog ihnen den Haß und die Verfolgung der russischen Regierung zu. Die russischen Juden werden als „polnische Erbschaft“ betrachtet und sie sind bis zum heutigen Tage hauptsächlich in den Grenzen des alten Königreichs Polen zusammengepfercht, innerhalb dessen sie zuerst unter die russische Herrschaft kamen. Außer dem eigentlichen Polen gehörten die 8 Gouvernements des westlichen Rußlands (Wilna, Kowno, Witebsk, Grodno, Minsk, Mohilew, Wolhynien, Podolien) früher zu Polen. Abgesehen von diesen gibt es Juden in den 3 Gouvernements der Ukraine oder Kleinrußlands (Kiew, Tschernigow und Pultawa) und in den 4 Gouvernements Südrußlands (Jekaterinoslaw, Taurien, Cherson und Beßarabien). West-, Klein- und Südrußland bilden die bekannte jüdische Niederlassungsgrenze: innerhalb dieser Begrenzungslinie muß der nichtprivilegierte Jude leben und sterben. Er darf keinen Fuß in’s heilige orthodoxe Groß-Rußland, in die Zartümer Kasan und Astrachan, nach Finnland oder den baltischen Provinzen setzen. Dieser zwangsweise Aufenthalt in den westlichen Gouvernements, welcher unter all‘ den Rassen, Religionsgemeinden und Nationalitäten, die das große Rußland bilden, nur den Juden vorgeschrieben ist, ist die Quelle aller Übel. Solange dieses Gesetz besteht, ist keine Aussicht auf dauernde Besserung. Es schränkt die gewerbliche und kaufmännische Tüchtigkeit der Juden ein, brandmarkt sie allen Landsleuten gegenüber als Fremde und eine Kaste von Parias, gegen welche jede erniedrigende und herabwürdigende Behandlung erlaubt ist. Ähnlich gequält und gemaßregelt, wie sie, werden in Rußland nur die freigelassenen Verbrecher. Einige Versuche unter früheren Regierungen, die Juden in Ackerbaukolonien außerhalb der erwähnten Grenzen anzusiedeln, hatten wenig Erfolg, wegen der drückenden Bedingungen, welche man den Ansiedlern stellte. Unter der milderen Regierung Alexanders II. wurden ihnen einige Vergünstigungen eingeräumt. Im Jahre 1865 erließ der Zar ein Edikt, inhalts dessen er jüdischen Handwerkern erlaubte, sich außerhalb der Grenzlinie niederzulassen. Außerdem ermutigte die Regierung um diese Zeit das Bildungsstreben jüdischer junger Leute. Sobald sie eine Universität absolviert hatten oder Mitglieder eines gelehrten Berufs geworden waren, durften sie sich außerhalb der Grenzlinie niederlassen. Dadurch wurde es einer ganz beträchtlichen Anzahl Juden ermöglicht, sich außerhalb der Grenzlinie niederzulassen, die Zurückbleibenden wurden von deren Konkurrenz entlastet, der jüdischen Industrie wurden neue Gebiete eröffnet. Obgleich sie in anderer Hinsicht behindert waren, erlaubte ihnen diese unbedeutende Vergünstigung, nach allen Richtungen hin vorwärts zu kommen, besonders aber sich zu bilden.

Nach dem Tode Alexander‘s II. trat eine Änderung ein. Der Antisemitismus Deutschlands war lediglich theoretisch und nur in Worten zum Ausdruck gekommen. Aber er weckte den chronischen Antisemitismus Rußlands, und das bejammernswerte Ergebnis waren die antijüdischen Unruhen des Jahres 1881. Vielleicht war es den Regierungsmännern gar nicht so sehr unangenehm, daß die Erregung des Volkes sich gegen die Juden kehrte. Außerdem aber ergab sich, daß mehrere Nihilisten Juden von Geburt waren, obgleich seit langer Zeit ohne alle Beziehungen zu ihrem Glauben und zu ihrem Volke. Dieser Umstand diente den Regierungskreisen als Entschuldigung dafür, daß sie den entsetzlichen Unruhen untätig zusahen.

An der Spitze des Ministeriums des Innern stand in jener Zeit General Ignatieff. Er bewies, daß er die Ansichten des antisemitisch gesinnten Beamtentums teilte. Im September 1881, noch während der Unruhen, forderte er nämlich von den Lokalbehörden Gutachten, auf welche Weise der „Ausbeutung der Bauern durch Juden“ Einhalt zu tun sei. Nachdem er einige Zeit hatte verstreichen lassen, um die Antworten zu empfangen, erließ er die berüchtigten Maigesetze vom 3. Mai 1882. Der genaue Text derselben ist wichtig genug, um wörtlich wiedergegeben zu werden, wie er in No. 42 der offiziellen Gesetzessammlung enthalten ist:

Die Mai-Gesetze.

„272. B e t r e f f e n d    A u s f ü h r u n g    d e r    t e m p o r ä r e n    V e r f ü g u n g e n    b e z ü g l i c h    d e r    J u d e n.

Das Ministerium beschloß, nachdem es den Bericht des Ministers des Innern gehört hatte, über die Ausführung der temporären Gesetze (1) betreffend die Juden wie folgt:

  • Als zeitweilige Maßregel und bis zu einer allgemeinen Revision der die Juden betreffenden Gesetze wird den Juden verboten, sich in Zukunft außerhalb der Städte und Marktflecken niederzulassen. Ausgenommen sind die bestehenden jüdischen Kolonien, deren Einwohner Ackerbauer(n) sind.
  • Zeitweilig hat die Legalisierung von Verträgen über Immobilien und Hypotheken zu unterbleiben, wenn Juden Käufer sind, desgleichen die Eintragung von Juden als Pächter ländlicher Grundstücke, sowie die Ausstellung notarieller Vollmachten, welche Juden zur Verfügung über solche Ländereien berechtigen.
  • Den Juden wird verboten, an Sonntagen und den christlichen Hauptfeiertagen Geschäfte zu betreiben; die bestehenden Gesetze, betreffend das Schließen der den Christen gehörenden Geschäfte an solchen Tagen sind auf die den Juden gehörenden Geschäfte auszudehnen.
  • Die in den Paragraphen 1, 2 und 3 enthaltenen Bestimmungen gelten nur für die Gouvernements innerhalb des jüdischen Niederlassungsrayons.

Seine Majestät der Kaiser geruht allergnädigst, obigen Beschlüssen der Ministerversammlung vom 3. Mai 1882 seine Zustimmung zu geben.“ –

Der 1. Paragraph dieser Verfügung bewirkte eine Grenzlinie innerhalb der Grenzlinie. Bis jetzt konnten sich Juden, wenn ihnen auch außerhalb der Grenzlinie die Niederlassung verwehrt war, von der Stadt auf’s Land und von einem Dorf in’s andere ziehen. Dem sollte aber ein Ende gemacht werden. Im Laufe der Zeiten werden natürlich alle Juden in den Städten und Flecken innerhalb der Grenzlinien zusammengepfercht werden, bis sie aus Mangel an Raum zu Grunde gehen.

Der 2. Paragraph war nicht minder einschneidend; er bezweckte dasselbe, wie der 1., indem er die Möglichkeit einer Niederlassung auf dem Lande noch mehr beschränkte. Wenn es einem Juden nicht erlaubt sein sollte, Land zu erwerben, sei es durch Kauf, Pfand oder Pacht, oder wenn er keine Geschäfte mehr mit Ländereien machen durfte, so mußte sein Leben auf dem Lande natürlich unmöglich werden, und auch die Privilegierten, denen es als alten Einwohnern gestattet war, in den Dörfern zu wohnen, würden keine Beschäftigung haben.

Der 3. Paragraph war in Orten mit überwiegender jüdischer Bevölkerung, die ihren Sabbath und ihre Festtage als Ruhetage zu feiern gewöhnt war, besonders hart.

Der letzte Paragraph jedoch bedeutete eine Erleichterung, da innerhalb Polens freie Bewegung bleiben sollte.

Ignatieff begann, seine temporären Gesetze zur Ausführung zu bringen, aber der Unwille, welchen in West-Europa die Verfolgung der russischen Juden erregte, brachte im Herbst 1882 seinen Sturz zuwege; mit seinem Schwinden gerieten seine Gesetze in einem gewissen Maße in Misskredit, so daß sie nur zum Teil ausgeführt wurden. In der Tat waren Viele der Ansicht, daß dieselben gänzlich zurückgezogen seien, und im November 1884 erklärte der General-Gouverneur von Wilna auf eine Anfrage bezüglich einer Bestimmung dieses Gesetzes, daß die Gesetze suspendiert seien und vom Senat einer weiteren Erörterung unterzogen würden.

Aber ob milde oder streng angewandt, die Maigesetze blieben im russischen Staatsgesetz bestehen, und es bedurfte nur einer Wiederbelebung der antisemitischen Gefühle in den Regierungskreisen, um dieselben zur vollen Ausführung zu bringen. Durch die steigende Macht Pobedonoßzeffs, der seit 1880 Prokurator des heiligen Synod ist, und durch seinen verderblichen Einfluß auf seinen früheren Schüler, den gegenwärtigen Zaren, ist in Rußland eine Ära religiöser Intoleranz eingeleitet. Christliche Sekten haben Unterdrückung und Gewalt zu erdulden, Lutheraner und römische Katholiken leiden in bestimmtem Maße ebenfalls, wenn auch nicht so sehr als die Juden, unter der Absicht Pobedonoßzeffs, Alles, was nicht streng orthodox ist, zu unterdrücken.

Gegen die Juden waren neue Maßregeln nicht nötig: die Maigesetze bestanden bereits, und je weiter die Zeit fortschritt, desto strenger, desto grausamer wurden die vom Senat als höchstem Gerichtshofe gegebenen Auslegungen der Gesetze. Bei einer Gelegenheit wurde entschieden, daß Juden, die sich in einem Dorfe des Grenzgebietes vor Mai 1882 niedergelassen, nach einem andern Dorfe nicht auswandern dürfen. Dieser Fall wurde ein Präjudiz, so daß das Wort „ansiedeln“ mit dem Wort „interniert werden“ identisch wurde. Ein Jude, der sich in einem russischen Dorfe innerhalb des Grenzgebietes festgesetzt hatte, ist tatsächlich dort festgelegt. Jener Senats-Entscheidung war die wichtige Begründung hinzugefügt, daß der Zweck der Maigesetze „die vollständige, wenn auch allmähliche Entfernung der Juden vom offenen Lande“ sei.

Die Entfernung der Juden sollte allmählich erfolgen, sonst wäre ja der Hauptzweck zu offen hervorgetreten, und die sich daraus ergebende Zusammenpferchung der Juden hätte eine Epidemie im Gefolge gehabt. Aber die Maigesetze wurden ortsweise und mit Unterbrechungen innerhalb des gesamten Niederlassungsgebietes zur Ausführung gebracht. Von den Dörfern wurden die Juden in die Städte getrieben; ihre zwangsweise Entfernung verursachte in den meisten Fällen die gänzliche Verarmung ihrer Familien, da die Möglichkeit, Beschäftigung in den Städten zu finden mit jedem neuen Zuzuge aus den Dörfern sich verringerte. So begreift man leicht, welch ungeheures Leid und Elend z.B. den Juden der Stadt Tschernigow verursacht wurde, als die benachbarten Dörfer alle ihre jüdischen Einwohner dorthin entsandten. Innerhalb 18 Monaten stieg die ohnehin zu zahlreiche jüdische Bevölkerung der Stadt von 5000 auf 20 000 Seelen, so daß jetzt vier Personen ihren Lebensunterhalt finden müssen, wo früher einer das Durchkommen schwer genug war.

Geplante Ausdehnung der Maigesetze.

Während des Winters 1889 – 90 wurde es bekannt, daß das offizielle Rußland die Maigesetze nicht zurückzunehmen beabsichtige, obgleich ihre unglückselige Wirkung offen zu Tage lag, dieselben vielmehr ausdehnen und verschärfen, sogar zu permanenten Gesetzen machen wolle. Die General-Gouverneure wurden benachrichtigt, daß man dem Zaren eine Ausdehnung der Maigesetze, eine Verschärfung der alten Beschränkungen und die gesetzliche Fixierung früher erlassener judenfeindlicher Entscheidungen des Senats vorschlagen wolle. Man hörte, daß der Großfürst Michael, Präsident des Kaiserlichen Rats, seine Stimme gegen diese Vorschläge erhob, und man berichtete sogar, daß der Zar selbst seine Missbilligung über diese Verfolgungspolitik ausgesprochen habe. Aber trotz dieser mächtigen Intervention, welche hochgespannten Hoffnungen Raum gab, wurden auf unerklärliche Weise Auszüge der projektierten Gesetze an die Gouverneure der verschiedenen Provinzen gesandt, vorgeblich zu dem Zwecke, dieselben zu einem Gutachten zu veranlassen.

Wunderbar genug handelten einige dieser Gouverneure, als ob die Gesetze schon ratifiziert wären. Auf diese Weise wurden die Gesetze den Juden und anderen Leuten bekannt; Abschriften der Gesetzesauszüge zirkulierten ganz frei in Paris, London, Wilna und Warschau, und die Aufmerksamkeit der europäischen Presse wurde auf den drakonischen Charakter dieser Gesetze gelenkt. Die Londoner „Times“ erhob als erste ihre Stimme, um der Welt von der beabsichtigten Tyrannei Kenntnis zu geben. Sofort beeilten sich die russischen Gesandten und andere offizielle Personen zu versichern, daß keine neuen Gesetzesvorschläge durchgegangen, und daß keine neuen Edikte gegen die Juden beabsichtigt seien.

Es muß in der Tat der russischen offiziellen Welt klar geworden sein, daß neue Gesetze unnötig sind, um das gewollte Ziel zu erreichen, die ländlichen Distrikte von Juden zu entblößen und letztere in den Städten zu internieren. Durch strenge Anwendung des ersten Maigesetzes und durch die dolose Deutung, welche der Senat ihm gegeben, konnten sie wenigstens in Bezug auf das Niederlassungsgebiet ihr Ziel erreichen. Das russische Recht kann zu jeder Zeit als ein entsetzliches Verfolgungsmittel dienen und zwar lediglich durch die Wiederbelebung alter Gesetze und die Daumenschraube der Polizeiwillkür. Die Ungerechtigkeit, welche darin liegt, glauben zu machen, daß diese Gesetze obsolet geworden sind und sie dann plötzlich zur Ausführung zu bringen, springt in die Augen. Das Bestehen solcher Gesetze – selbst als toter Buchstabe – ist ein Missgeschick, da sie eine beständige Drohung sind und die Juden als Paria-Klasse hinstellen. Die erneute Anwendung toter Gesetze ist aber nicht nur ein Übel an sich, die Juden wissen überdies niemals, wann die Waffe des Gesetzes sich wieder gegen sie kehren wird. So leben die russischen Juden in einem Zustande beständiger Unsicherheit, man kann sagen, daß sie am Rande eines Vulkans leben. Eine weitere Bedrückung erfahren sie durch die Auslegung des Gesetzes, welches von dem Senat, dem höchsten Appellationsgerichtshof, stets in einem den Juden feindlichen Sinne gehandhabt wird. Bei einer Gelegenheit hat man die Entscheidung im judenfeindlichen Sinne sogar als  R e c h t s r e g e l  aufgestellt. Ein Jude, der das Wohnrecht außerhalb des Niederlassungsgebietes hatte und deshalb auch berechtigt war, ein Haus außerhalb dieses Gebietes zu besitzen, glaubte, ein Haus auf den Namen seiner Frau eintragen lassen zu können, da nach russischem Gesetz an den bürgerlichen Rechten des Ehemannes dessen Frau teilnimmt. Die Beamten weigerten sich aber, diese Eintragung vorzunehmen, und der Senat bestätigte diese Entscheidung, da grundsätzlich die russischen Gesetze den Juden gegenüber in beschränkendem Sinne auszulegen seien. Mit anderen Worten, wenn das russische Gesetz den Juden nicht ausdrücklich sagt: „Ihr dürft“, so sagt es: „Ihr dürft nicht.“ Ein weiteres Unglück für die beklagenswerten russischen Juden ist die Härte, mit welcher das Gesetz von den Beamten gehandhabt wird.

Austreibung aus Dörfern.

Einige Beispiele sollen den Leser in Stand setzen, die Wirkungen der Maigesetze mit Bezug auf die Austreibung der Juden aus Dörfern, in denen sie vor 1882 nicht wohnten, zu würdigen. Die mittelbaren Folgen solcher Austreibungen werden wir später betrachten. In den Dörfern Gawinoski und Alexejewki bei Okna (Podolien) erhielten alle Juden Ausweisungsbefehle, weil ihre Namen in den Registern vor Mai 1882 sich nicht befänden. Trotzdem sie alle in diesen Dörfern 10 bis 15 Jahre gewohnt hatten und trotzdem die Bauern und Grundbesitzer bestätigten, daß sie allesamt dort vor 1882 ansässig gewesen waren, wurden sie gezwungen, unverzüglich fortzuziehen. Es war gerade mitten im Winter, und sie erbaten die Erlaubnis, bis zum Frühjahr zu bleiben; aber ihre Bitte wurde abgeschlagen, während des rauhen Winters wurden sie aus ihren Häusern getrieben und mußten in den Städten Zuflucht suchen. Vier jüdische Familien wurden ohne weiteres aus Stanislawowsky vertrieben. Unter ihnen war eine schwerkranke Frau, welche den Distriktsbeamten bat, ihr aus Gesundheitsrücksichten eine kleine Frist zu bewilligen. Aber er verweigerte dieselbe nicht nur, sondern untersagte allen Bauern in der Nachbarschaft, einem vertriebenen Juden auch nur für eine Nacht Obdach zu gewähren.

In Szebesch (Witebsk) wurde die Vertreibung der Juden sehr gründlich ausgeführt, da unter den Ausgewiesenen sich auch viele Handwerker befanden. Ein Jude scheint jedoch mit seiner Familie der Wachsamkeit der Polizei entgangen zu sein. Als der Polizei-Inspektor davon hörte, fuhr er mitten in der Nacht in einem Bauernwagen nach dem Dorfe, packte die Kinder und das Gepäck in den Wagen, und los ging’s mit ihnen nach der nächsten Stadt, während die Eltern hinterher traben konnten. Zwei Werst vor der Stadt setzte er die Kinder und das Gepäck auf der Landstraße ab, ließ sie in der Kälte und Dunkelheit stehen und fuhr weiter. Wie das Gesetz aufgefasst wird, beweist auch folgender Fall. Die Bevölkerung des Dorfes Palitzky, welches fast groß genug ist, um als Stadt zu gelten, bestand nahezu ausschließlich aus Juden. Plötzlich besann sich die Polizei, daß es ein Dorf und nicht eine Stadt sei, und vertrieb alle vor Mai 1882 dort nicht ansässigen Juden. Unter den Vertriebenen befand sich auch ein gewisser M. M., der dort geboren und erzogen war und mit einer Ausnahme nie den Ort verlassen hatte. Kurze Zeit vorher war er ein paar Tage abwesend, um ein Mädchen aus Szebesch zu heiraten. Bei der Rückkehr mit seiner jungen Frau bekam er den Befehl, sofort den Ort zu verlassen. Sein früherer Aufenthalt wurde nicht in Betracht gezogen, er galt nach den Maigesetzen als neuer Ansiedler und wurde als solcher vertrieben. Ein jüdischer Soldat, der nach Ablauf seiner Dienstzeit in dasselbe Dorf zurückkehrte, wurde von dort vertrieben, obgleich er vor seinem Eintritt in die Armee in diesem Dorf ansässig war. Sein früherer Aufenthalt blieb gänzlich unberücksichtigt, ebenso die Tatsache, daß die Ableistung der Militärpflicht die Ursache seiner Abwesenheit gewesen. Seine Rückkehr wurde als neue Ansiedlung angesehen, und er mußte deshalb den Ort verlassen. Man fand Mittel und Wege, die Juden sogar aus nichtländlichen Bezirken zu vertreiben. Die Vorstädte großer Städte wurden als außerhalb der Grenzen des Weichbildes liegend erklärt und deshalb als Dörfer betrachtet. Aufgrund dieser Auslegung wurden die jüdischen Familien aus den Vorstädten von Wilna in das schon überfüllte Ghetto dieser Stadt getrieben. Ein Ort namens Reszhilowko war stets als Stadt betrachtet und als solche auch in öffentlichen Dokumenten bezeichnet worden. Vor Kurzem ordnete ein Erlaß die Vertreibung der Juden aus dem Ort an, da derselbe ein Dorf sei. Auf den Einwand, daß der Ort offiziell als Stadt anerkannt worden, erfolgte der Bescheid, es könne, da es keinen Magistrat besitze, keine Stadt sein.

Vertreibung von Handwerkern.

Durch diese Mittel sucht die russische Verwaltung die Absichten der Maigesetze zu verwirklichen, die Juden vom flachen Lande zu verjagen und sie in den Städten zusammenzupferchen. Die Bauern des Zars sind eben nicht weniger eifrig und geschickt, die vielen Tausende, denen es gelungen ist, jenem Gefängnisse zu entkommen, in die jüdischen Niederlassungsgebiete zurückzutreiben. Die größte Zahl dieser Juden besteht aus Handwerkern, denen, wie wir gesehen, das Recht einer freien Bewegung von Alexander II. im Jahre 1865 eingeräumt wurde. Es wäre vielleicht zu rücksichtslos, dieses Recht direkt zu verweigern, aber gerade der allgemeine Charakter der Erlaubnis gibt den Beamten Gelegenheit, dieselbe zu umgehen. Das Gesetz gibt Handwerkern die Erlaubnis, sich außerhalb der 15 Gouvernements niederzulassen, aber wer kann genau sagen, welche Arten Arbeiter unter dem Ausdruck Handwerker zu verstehen sind. So hat die Administration des Gouvernements Smolensk beschlossen, daß die jüdischen Bäcker, Schlächter, Glaser und Weinessig-Fabrikanten nicht länger mehr als Handwerker angesehen werden sollen. Deshalb wurden alle Juden, die einer dieser Kategorien angehören, aufgefordert, Smolensk zu verlassen und in das Niederlassungsgebiet zurückzukehren. Die Behörden von Simbirsk entnahmen hieraus die Anregung, verschiedene jüdische Handwerker und ihre Familien zu vertreiben. Ein Essig-Fabrikant, der dort 30 Jahre gewohnt und seit 1869 sein Geschäft betrieben hatte, wurde aufgefordert, den Ort zu verlassen, da die Handwerkerzunft erklärt hatte, dass die Essig-Fabrikation nicht als Handwerk zu betrachten sei, obgleich der Senat ein Jahr vorher entschied, daß Essig-Fabrikanten als Handwerker anzusehen seien, daher überall in Rußland wohnen dürfen. Trotzdem wurde der erwähnte Jude, der 72 Jahre alt war und seine Familie durch sein Geschäft zu ernähren hatte, gezwungen den Ort zu verlassen: er und seine Familie waren dadurch ruiniert. Aus derselben Stadt wurde ein jüdischer Bäcker, der dort 25 Jahre gewohnt hatte, vertrieben, wahrscheinlich weil ein Bäcker nicht mehr als Handwerker angesehen wird. Der Ausweisungsbefehl betraf, wie üblich, die ganze Familie. Der älteste Sohn, Schüler der Prima des Gymnasiums, wurde ebenfalls gezwungen, die Stadt zu verlassen; er mußte seine Studien unterbrechen, als er sich dem Ziele derselben näherte. Zu bemerken ist, daß das Recht, außerhalb des Niederlassungsgebiets zu wohnen, nicht auf die Kinder übergeht, die nicht selbst Handwerker sind; diese letzteren müssen, wenn sie 21 Jahre alt sind, innerhalb des Niederlassungsgebiets Wohnsitz nehmen.

Ein anderes Beispiel der Dehnbarkeit des Ausdrucks „Handwerker“ liefert das Buchdruckereigeschäft. Vor Kurzem wurden 25 jüdische Arbeiter einer wohlbekannten Druckerei in Moskau summarisch entlassen und in das Niederlassungsgebiet zurückgeschickt, obwohl mehrere derselben seit 1874 als Schriftsetzer außerhalb dieses Gebiets gewohnt hatten. Als Grund der Ausweisung wurde angegeben, daß Druckerei kein Handwerk, sondern ein Kunstgewerbe sei, so daß also Schriftsetzer nicht als Handwerker anzusehen seien.

Einen weiteren Vorwand bietet den Beamten der Umstand, daß der Handwerker sich über seine Befähigung ausweisen muß. Bei der ungeheuren Arbeits-Teilung in der modernen Industrie ist selten ein Handwerker zu finden, der in allen Teilen seines Geschäfts tüchtig ist; man hat also zur Maßregelung nur nötig, von einem Handwerker eine Arbeit seines Handwerks zu verlangen, mit der er sonst nicht vertraut ist. So wird vom Zuschneider die Arbeit eines Büglers verlangt oder umgekehrt, und ist er dazu nicht im Stande, so wird das unglückselige Opfer aus der Gilde ausgestoßen und aus der Stadt vertrieben, in der er sich wenigstens seinen Lebensunterhalt verdiente. Meistens wird von dem Altmeister der Gilde ein Gutachten über die Fähigkeit des Arbeiters erfordert. In London lebt ein jüdischer Schuhmacher aus Livland, der aufgrund eines solchen Gutachtens ausgewiesen ist, welches der Altmeister abgegeben hatte. Ferner muß der Handwerker in seinem Beruf tätig sein, um das Privilegium zu behalten. Wenn die Polizei aber eine Inspektion am Sabbat vornimmt, an welchem der Arbeiter natürlich unbeschäftigt ist, hat sie einen Vorwand zur Ausweisung.

Noch rücksichtsloser wird diese Vorschrift auf Handwerker angewandt, die zur Arbeit zu alt sind und sie nicht mehr ausüben können. Dieselben werden erbarmungslos in’s Niederlassungsgebiet zurückgeschickt und müssen die Städte verlassen, in denen sie ein Leben ehrlicher Arbeit verbracht haben.

Selbst innerhalb des Niederlassungsgebiets wird den Handwerkern keine Begünstigung zuteil, da die Maigesetze zu ihren Gunsten keine Ausnahme machten. Im Dorfe Lepeticha (Gouvernement Melitopol) wurden gegen nahezu 100 Familien Ausweisungsbefehle erlassen, und zwar unter dem Vorwande, daß die Namen ihrer Familien nicht vor 1882 in die Register eingetragen seien. In dem Dorfe bestand aber weder vor, noch zu jener Zeit ein besonderes Register, die Eintragung war daher unmöglich, selbst wenn die Juden eine solche beantragt hätten. Ein offizieller, auf Urkunden beruhender Beweis war daher nicht zu erbringen, aber die Aussagen der Nachbarn bewiesen, daß jene Familien mehr als 10 Jahre im Dorfe gewohnt hatten. Viele der Ausgewiesenen waren Handwerker, deren Zeugnisse ergaben, daß sie in dem Dorfe als Arbeiter schon vor 1882 tätig waren. Aber dies nützte ihnen ebensowenig wie der Einwand, daß sie als Handwerker das Recht hätten, überall in Rußland zu wohnen. Man erklärte ihnen, daß die Maigesetze keinen Unterschied zu Gunsten der Handwerker machten, letztere dürften zwar außerhalb des Niederlassungsgebiets wohnen, aber nicht in Dörfern innerhalb desselben. Die 100 Familien mußten das Dorf innerhalb 30 Tagen verlassen, wenn sie nicht in Gesellschaft von Verbrechern, je zwei und drei zusammengefesselt, abgeschoben werden wollten.

So wendet man innerhalb der 15 Gouvernements alle Mittel an, um die Juden in die Städte zu zwingen; außerhalb derselben wird jeder Vorwand benutzt, die zahlreiche Klasse tüchtiger jüdischer Handwerker, die diesem Ghetto zu entkommen wagen, zurückzutreiben. Noch raffinierter sind die Mittel, durch welche die Regierung für die Zukunft das Verlassen des Niederlassungsgebiets zu erschweren sucht. Freiheit der Bewegung wird außerhalb des Grenzgebiets nur folgenden drei Klassen gewährt: 1) jungen Männern, welche die höheren Grade der Universitätsbildung erreicht haben, 2) gewissen Klassen von Berufen und 3) Kaufleuten erster Gilde. Für die beiden ersten Klassen sind aber neuere Bestimmungen erlassen, augenscheinlich in der Absicht, die Anzahl derjenigen zu beschränken, denen die Ausbildung ihrer Anlagen die Befreiung aus dem Ghetto ermöglichen würde.

Beschränkung der Bildung.

Die Juden sind wegen der Sorgfalt bekannt, die sie auf die Erziehung ihrer Kinder verwenden. In Rußland kommt als weiterer Antrieb die Aussicht hinzu, durch Bildung ihre Kinder aus dem Gefängnis des Niederlassungsgebiets zu befreien. Seit Alexander II. seinen jüdischen Untertanen den Besuch der Landesschulen erlaubte, haben die Juden mit großem Eifer von diesem Rechte Gebrauch gemacht. Jeder, der nur einigermaßen geistige Fähigkeiten verriet, wurde ermutigt, sich dem Studium zu widmen. War der Vater nicht reich genug, um den Sohn während der Studienzeit zu unterhalten, so taten die Nachbarn sich zu seiner Unterstützung zusammen. In Folge dieses Bildungsstrebens war die Zahl der jüdischen Kinder in den Schulen, besonders den höheren, stets verhältnismäßig größer, als das der Gesamtbevölkerung, eine Tatsache, die, so sollte man glauben, nur zu Gunsten der Juden spricht. Dies ist jedoch nicht die Ansicht der russischen Beamtenwelt; seit einiger Zeit sucht sie die Anzahl der auf Gymnasien und Universitäten studierenden Juden zu vermindern, und dadurch wird die Anzahl derer, die in der nächsten Generation zur Ansiedlung außerhalb des Niederlassungsgebiets berechtigt wären, beschränkt. Man wird schwerlich glauben dürfen, daß die beiden Tatsachen nicht zueinander in Beziehung stehen.

Bisher wurde dem lobenswerten Eifer der jüdischen Eltern, ihren Kindern die bestmögliche Erziehung zu Teil werden zu lassen, kein Hindernis entgegengesetzt. Aber vor drei Jahren wurde ein neues Verbot erlassen, welches ein typisches Beispiel bürokratischer Verfolgung ist. Durch Verordnung wurde die Zahl jüdischer Studierender an den Universitäten und Gymnasien auf 10 % innerhalb des Niederlassungsgebiets, auf 5 % außerhalb desselben und auf 3 % in Moskau und St. Petersburg festgesetzt. Im ersten Augenblick scheint diese Bestimmung nicht unbillig, da die Juden innerhalb des Grenzgebiets nur etwa 12 % der Bevölkerung ausmachen. Hierbei ist aber die Landbevölkerung mitgezählt, während Universitäten und höhere Schulen sich natürlich nur in Städten befinden; in diesen ist aber die Zahl der jüdischen Einwohner wesentlich größer, nämlich in 82 Städten über 50 %, in 4 Städten über 80 %. Diese statistischen Angaben rühren aus dem Jahre 1884 her, also aus einer Zeit, in welcher die Maigesetze die Anzahl der Juden in den Städten noch nicht so ungeheuer vermehrt hatten. Es ist eine offenbare Ungerechtigkeit, daß in einer Stadt, in der die Juden die Hälfte der Bevölkerung ausmachen, nur der zehnte Teil der Schüler einer höheren Schule jüdischen Glaubens sein darf. So ist es z.B. eine handgreifliche Ungerechtigkeit, daß an der Universität von Odessa, wo unter einer Bevölkerung von 240 000 Seelen 106 000 jüdischen Glaubens sind, nur 5 % der Studenten Juden sein dürfen. Die Bestimmung ist desto härter, weil in Rußland der Besuch von Universität und Polytechnikum die Voraussetzung zur Ausübung bestimmter Berufe bildet.

Da die Juden so von den öffentlichen Schulen Rußlands ausgeschlossen sind, könnten sie billiger Weise beanspruchen, daß ihnen die Errichtung eigener Schulen erlaubt würde. Eigentlich soll auch dem Gesetze nach der Überschuss der für das rituelle Schlachten erhobenen Steuer diesen Zwecken dienen; in Wirklichkeit wird es selten dazu verwendet. In einem Falle „entlieh“ der Gouverneur von Kischeneff diesen Überschuss 100 000 Rubel, um sich dafür einen Regierungspalast bauen zu lassen. Wiederholt wurden Juden, welche auf ihre eigenen Kosten höhere Schulen errichten wollten, auf Grund eines neuen Erlasses dahin beschieden, daß die Volksschulen den Juden offen ständen. Hieraus geht klar hervor, daß die neueren Verordnungen die Zahl der höher gebildeten Juden und der jüdischen Handwerker, die das Recht der freien Bewegung hätten, beschränken wollen. Derselbe Grund war maßgebend, als die russische Regierung das großartige Anerbieten des Baron Hirsch, welcher 2 Millionen Pfund Sterling für die wissenschaftliche und technische Ausbildung der Juden anweisen wollte, ablehnte.

Selbst in denjenigen Schulen, welche dem Gemeinsinn reicher Juden ihr Bestehen verdanken, wird das Verhältnis der jüdischen Schüler streng innegehalten. So war z.B. in Vinitza (Podolien), von dessen 25 000 Einwohnern etwa 10 000 Juden sind, auf Kosten des verstorbenen Herrn Weinstein, Mitglied der dortigen jüdischen Gemeinde, vor Kurzem eine technische Schule eröffnet worden. Obgleich die Juden ungefähr die Hälfte der Bevölkerung ausmachen und die Schule durch einen Juden gegründet war, wurden nur acht Schüler jüdischen Glaubens (gegen 80 christliche) zugelassen. Ähnlich geschah es in Goslowka, wo der verstorbene S. S. von Poljakoff, der bekannte jüdische Eisenbahn-Unternehmer, eine Bergakademie gegründet hatte. In der Hoffnung, Zutritt zu dieser Anstalt zu erhalten, bereitete sich eine Anzahl junger Leute ein Jahr lang vor, um den Vorlesungen folgen zu können, es wurde aber nur die gesetzlich vorgeschriebene Zahl von 5 % zugelassen. Die übrigen mußten, so gut sie konnten, sich darüber trösten, ein Jahr ihres Lebens unnütz verbracht zu haben.

Beschränkungen der Berufswahl.

Die russische Regierung hat die Berufswahl nicht nur dadurch verhindert, daß sie die Zahl derer, welche die erforderliche Vorbildung genießen und die Examina ablegen dürfen, beschränkte, sondern hat neuerdings auch denen, welche durch einen Glückszufall sich unter den in den höheren Schulen zugelassenen 10 Prozent befinden, Hindernisse in den Weg gelegt. Kürzlich erlassene Verfügungen bestimmen, daß kein Jude mehr Militärarzt werden darf (die einzige Tierarzneischule im Lande, die in Charkow, ist den Juden verschlossen worden); Juden können nicht Ingenieure werden, sie sind vom Staatsdienst und allen öffentlichen Ämtern ausgeschlossen. Die Ausübung der Advokatur, in welcher Juden Tüchtiges leisteten, ist ihnen nur mit Genehmigung des Justiz-Ministers gestattet, welche jedoch, wie die Erfahrung lehrt, niemals erteilt wird (2). Das russische Gesetz bestimmt also tatsächlich: „Ihr Juden dürft Jura studieren, aber nicht Advokaten sein; Ihr dürft Techniker werden, aber Ihr dürft nicht als solche tätig sein.“  Zweifellos sind diese engherzigen Maßregeln zum Teil wenigstens gleichfalls in der Absicht getroffen worden, die Zahl derer zu vermindern, welchen die Ansiedlung außerhalb des Niederlassungsgebietes gestattet ist. Als ein Beispiel, wie energisch die Regierung in dieser Richtung tätig ist, erwähnen wir folgenden jüngst vorgekommenen Fall: Der Beruf einer Hebamme gewährt Freizügigkeit außerhalb der westlichen Provinzen, aber ein jüngst erlassener Ukas bestimmt, daß eine Hebamme dieses Recht nicht auf ihre Kinder überträgt, sondern daß sie dieselben zurücklassen muß, wenn sie im eigentlichen Rußland ihren Beruf ausüben will.

Kaufleute erster Gilde.

Freie Bewegung innerhalb ihres Geburtslandes genießen außer den bisher erwähnten  Klassen nur diejenigen Kaufleute erster Gilde, welche die Einschreibegebühr von ungefähr 1000 Rubeln jährlich fünf Jahre lang innerhalb des Niederlassungsgebietes bezahlt haben und fortfahren, dieselben außerhalb dieses Gebietes zu bezahlen. Es liegt auf der Hand, daß diese Klasse nur sehr klein sein kann, dafür aber den niederen Beamten um so willkommener, deren Einkommen ganz beträchtlich durch Erpressungen vergrößert wird. Aber auch diesen Kaufleuten sind Beschränkungen auferlegt. Sie können einen jüdischen Kommis mit sich führen, wenn derselbe sie aber verläßt, darf der Ersatz nicht aus dem Niederlassungsgebiet kommen, und bis vor Kurzem durften sie keinen christlichen Kommis oder Bedienten halten. Ein solcher Kaufmann darf seine Kinder bei sich haben, bis sie 21 Jahre alt sind, aber er darf seine Eltern nicht mitbringen. Wie uns bekannt ist, hat ein Kaufmann, um dieser barbarischen Beschränkung zu entgehen, seinen alten Vater als Bedienten und seine Mutter als Köchin eintragen lassen.

Ausdehnung der Wirkung der Vertreibung.

Es ist klar, daß die neuere russische Gesetzgebung bezüglich der Juden äußerst folgerichtig auf zwei Punkte hinarbeitet: alle Juden innerhalb des Niederlassungsgebiets in die Städte zu treiben und ihre Zahl außerhalb desselben soviel als möglich zu verringern. Man hat die Zahl der russischen Juden, welche durch die neuen Beschränkungen aus ihrer Heimat vertrieben werden, abgeschätzt. Die Schätzung ist oberflächlich und gibt nur runde Summen, ist aber immerhin nützlich, um die Sachlage, wenn auch annähernd zu übersehen. Es werden betroffen werden:

Durch die Vertreibung aus den Dörfern innerhalb des Niederlassungsgebiets      500 000

Durch die Vertreibung der Handwerker, die außerhalb des

Niederlassungsgebiets leben                                                                                   200 000

Durch die Vertreibung aus den Handelsstädten, die außerhalb des

Niederlassungsgebiets liegen (Riga etc.)                                                                  500 000

Durch die Vertreibung aus der Zone von 50 Werst (3)                                            250 000

                                                                                                             zusammen 1 450 000

Selbst wenn wir diese Zahl auf eine Million reduzieren, ist das eine ungeheure Menschenmasse, die plötzlich in fremden, ohnehin mit Personen gleichen Berufs und Glaubens übervölkerten Orten auf das Pflaster geworfen wird. Jetzt ist das Kesseltreiben erst in den Anfangsstadien, und doch ist schon jetzt das Elend, welches die Übervölkerung hervorgebracht hat, niederschmetternd. Die Juden waren in Folge ihres Familiensegens und der drückenden Steuern – etwa 150 Prozent der Steuern, welche Dissidenten zu tragen haben – immer die ärmste Klasse aller Russen gewesen, aber die Zusammendrängung in die Städte, macht ihre Armut noch viel größer. In Berditschew, dem „russischen Jerusalem“, sollen mehr als 25 000 mosaische Arme sein, und innerhalb des Niederlassungsgebiets können Tausende von Familien nur eine Mahlzeit am Tage halten, und auch nur dann, wenn das Oberhaupt der Familie während des Tages Arbeit gefunden hat. Die Überfüllung in den Städten läßt ihnen keinen anderen Beruf, als den Kleinhandel und diejenigen Gewerbe, welche die schlechtesten Löhne zahlen. Sie müssen oft zu 15 Personen in demselben Zimmer arbeiten und wohnen. Kein Wunder, daß diejenigen, welche in England Zuflucht suchen, das Leben eines Neueingewanderten in einer Spelunke von Ost-London immer noch besser finden, als solch ungeheures Elend. Jüdische Philanthropen in London, die sich einiger Opfer des „sweating system“ („Schwitz-Systems“) annahmen und sie nach Rußland zurückschicken wollten, erhielten überall die Antwort, so kümmerlich auch hier ihr Leben sei, im Vergleich zu ihrem Schicksal in den russischen Ghettos sei es ein angenehmes und behagliches.

Die Internierung in die Städte beginnt bereits ihre entsetzliche Wirkung auf den Gesundheitszustand und die Mortalität der russischen Juden auszuüben, die im Gegensatz zu ihren Glaubensgenossen in anderen Ländern eine weit geringere Lebenskraft besitzen, als ihre Umgebung. Bisher hielt man die Juden für immun gegen Schwindsucht, aber in den letzten Jahren wurden auf Grund dieser Krankheit, welche nicht simuliert werden kann, 6,5 % unter den jüdischen Gestellungspflichtigen militärfrei, dagegen nur 0,5 % der anderen Russen. Auf Grund sonstiger Krankheiten oder zu schwacher Konstitution wurden nicht weniger als 61,7 % der jüdischen Rekruten zurückgewiesen, dagegen 27,2 % der anderen Russen. Solche Zahlen reden eine fürchterliche Sprache; dieselben beweisen, daß die Verfolgung der Juden eine Verfolgung bis in den Tod bedeutet.

So traurig die physische Entartung ist, noch beklagenswerter ist die moralische, welche als Resultat der Überbevölkerung eintreten muß. Wenn zehn Menschen leben sollen, wo nur drei ihren Lebensunterhalt finden könnten, muß die Heftigkeit des Kampfes um’s Dasein zu Betrug und Ränken führen; wo ein anderer nicht offen bleibt, müssen sie sich notwendig alle auf die Kleinindustrie und den Kleinhandel werfen, und jeder muß bestrebt sein, billiger als sein Konkurrent zu verkaufen. D e r  g r o ß e n  M a s s e  d e r  r u s s i s c h e n  J u d e n  d r o h t  d e r  H u n g e r t o d , vor welchem sie jetzt nur die sonderbare Weise, in der sie sich gegenseitig helfen, schützt. Ist es ein Wunder, wenn sie alle Mittel anwenden, um dem Hungertode zu entgehen? Die Beschuldigungen der russischen Beamten, daß die Juden zum Betruge neigen, bedeuten für jeden Unbefangenen die herbste Verurteilung einer Politik, welche dies Neigungen künstlich großzieht.

Verfolgung durch Ortsbehörden.

Dies sind die unmittelbaren Folgen der Internierung. Mittelbar zieht dieselbe als ein Beweis der feindlichen Haltung der russischen Zentral-Regierung den Juden viele Verfolgungen zu. Niemand beobachtet den politischen Horizont genauer als die russische „Tschinownik“ (Beamtenwelt).  Geht die Regierung gegen die Juden vor, so fühlen sich die Subalternen veranlasst, die Unterdrückungsmaßregeln, von denen das russische Staatsgesetz wimmelt, gegen dieselben in Kraft zu setzen. Sie führen sogar neue Regulative ein, um die unglücklichen Juden noch mehr zu bedrängen, deren drückende Steuern einen Teil der Einkünfte jener Beamten bilden. Diese Zusatz-Bestimmungen sind eine neue Waffe in der Hand der „Tschinownik“, sie bieten weitere Gelegenheit zu Erpressung. Es ist natürlich unmöglich, mehr als einige wenige Beispiele jener Tyrannei der Ortsbehörden anzuführen, welche die systematische Verfolgung durch die Central-Regierung so wirkungsvoll ergänzt.

Besonders demütigend unter den Verfolgungen geringerer Art ist ein Erlaß der Generalgouverneure von Odessa, Wilna, und Mohilew, welcher der Ortspolizei die Bestrafung eines Juden gestattet, falls derselbe es an der „erforderlichen Achtung auf der Straße“ fehlen lässt. Um ihrer Entrüstung Ausdruck zu geben, beschlossen die Juden in Odessa, kein öffentliches Lokal mehr zu besuchen, und es scheint, daß dort der Befehl zurückgezogen wurde. Aber die Juden müssen ihren Hut vor jedem Beamten ziehen, wenn sie nicht wegen des undefinierbaren Verbrechens „Mangel an Achtung“ bestraft werden sollen.

Ein weiteres Ungemach, welches die Juden neuerdings seitens der Ortsbehörden zu erleiden haben, ist die rücksichtslose Ausführung der gegen die Anstellung von Juden im Regierungsdienst erlassenen Gesetze. Man hat diesen Gesetzen jetzt sogar rückwirkende Kraft gegeben. So wurden infolge eines Zirkulars des stellvertretenden Gouverneurs von Kowno, welches die Entlassung aller in Regierungs- und städtischen Büros, sowie an Gerichtshöfen beschäftigten jüdischen Schreiber und Angestellten anordnete, 10 Juden in Nowo-Alexandrowsk, welche mehr wie 15 Jahre als Beamte sich der Achtung und des Vertrauens ihrer christlichen Kollegen erfreut hatten, plötzlich entlassen. Sie und ihre Familien sind jetzt gänzlich existenzlos und auf Bettelei angewiesen. Sogar nach ihrer Entlassung werden frühere Regierungsbeamte unbarmherzig verfolgt. Einige jüdische Beamte, die auf Befehl der Regierung aus den Notariats-Kanzleien von Odessa entlassen waren, taten sich zusammen und gründeten ein Büro zur Anfertigung von Gesuchen und Schriftsätzen, um hierdurch einen, wenn auch kärglichen, Lebensunterhalt zu gewinnen. Der Generalgouverneur von Odessa ließ aber dieses Büro durch die Polizei schließen, und die Familien dieser Männer haben infolge dessen mit bitterster Armut zu kämpfen.

Auch sonstige Verordnungen werden mit äußerster Konsequenz durchgeführt. Wie aus Kiew berichtet wird, stellte der Chef-Arzt des Kirilow-Hospitals einige jüdische Wärterinnen an; der Gouverneur der Stadt dekretierte aber, daß Personen jüdischen Glaubens im Hospital nicht beschäftigt werden dürfen. Demgemäß wurden die Jüdinnen entlassen, wahrscheinlich, weil Wärterinnen als Regierungsbeamte zu betrachten sind. Auch Privatlehrer gehören auf Grund einer unbegreiflichen Auslegung zu dieser Kategorie. Den Direktoren der verschiedenen Lehrinstitute in Kischineff ist vom Kultusminister eröffnet worden, daß jüdische Lehrer in christlichen Häusern nicht unterrichten dürfen.

Verfolgung der „fremden Vagabunden“.

Noch willkürlicher und grausamer verfolgt das Gesetz diejenigen, welche es als „ausländische Vagabunden“ bezeichnet. Fremde Juden dürfen, trotzdem sie lange Jahre in Rußland ihren Wohnsitz hatten, jetzt nicht mehr im Lande bleiben und werden, wenn sie den Ausweisungsbefehlen nicht sofort Folge leisten, als „Vagabunden“ verfolgt. Aber die Beamten erklären sehr oft auch Juden, die in Rußland geboren sind, für Ausländer. Zwei solche Fälle werden aus Letitschew (Podolien) berichtet. Die Herren S.C. und T. D., beide in dieser Stadt geboren und erzogen, ersterer ein sehr achtbarer und wohltätiger Mann, der ein Haus und ein kleines Vermögen von seinem Vater ererbt hat, und letzterer ein fleißiger, ordentlicher und geachteter Fuhrmann, wurden von dem Distrikts-Gericht und im weiteren Verfahren von dem Kriminal-Gericht in Odessa als „Vagabunden“ erklärt. Sie sind schon seit 18 Monaten im Gefängnis, und dort werden sie wahrscheinlich auch bleiben, bis ihre Verwandten den Nachweis erbringen, daß sie geborene Russen sind. Das ist aber keineswegs leicht, wenn die Angeschuldigten ältere Leute sind, denn die Eintragung von Geburten fand unter den russischen Juden früher nur in sehr ungenauer Weise statt. Die erwähnten beiden Angeklagten figurieren Jahr für Jahr in den städtischen Registern als Steuerzahler, gleich anderen russischen Untertanen. Es erscheint wirklich etwas verspätet, daß man sie jetzt noch für Ausländer erklärt und als Lumpen und Vagabunden ins Gefängnis sperrt, nur weil sie Juden sind und ihren Geburtsort nicht aktenmäßig nachweisen können. In einem anderen Falle erschien kürzlich F. C. aus Trostianez (Podolien), ein armer, unwissender Mann, als „Vagabund“ vor dem Distriktsgericht weil er seinen Geburtsort nicht nachweisen konnte. Man ließ ihm 7 Tage Frist, den Nachweis zu schaffen, aber er konnte ihn nicht erbringen und wurde deshalb zu 4 Jahren Gefängnis und zu lebenslänglicher Verbannung nach Sibirien verurteilt. Später konnte zwar der verlangte Beweis geführt werden, aber das  G e r i c h t   l i e ß   i h n   n i c h t   z u   u n d   w o l l t e   a u c h   n i c h t   s e i n   U r t e i l   k a s s i e r e n. Der Mann hat Frau und sieben Kinder, die so ihres Ernährers beraubt und dem Hungertode preisgegeben sind.

Die Behandlung der Bessarabischen Juden ist in dieser Hinsicht besonders lehrreich. Ein Teil dieser Provinz wurde Rußland durch den Berliner Vertrag abgetreten. Die dort wohnenden Juden wurden von den Rumänen als „Fremdlinge“ betrachtet, Rußland folgte diesem Beispiele, und so haben sie keine Nationalität und sind der Gnade der Ortspolizei überantwortet, der es freisteht, sie zu verfolgen oder zu vertreiben. Als Fürst Bismarck vor einigen Jahren alle russischen Untertanen aus Preußisch-Polen vertrieb, weigerte sich Rußland in gleicher Weise, die Juden aufzunehmen, und so blieben sie ohne Nationalität und ohne einen Wohnsitz in der weiten Welt. Es ist also keine bloße Formalität, wenn die russische Regierung ihre Juden als Ausländer bezeichnet; ohne die Gastfreundlichkeit des westlichen Europa wären diese „Ausländer“, die an kein Land ein Recht hatten, in das Meer getrieben worden.

Diese Beispiele zeigen zur Genüge, daß den russischen Ortsbehörden die unfreundliche Haltung der Zentral-Regierung als Vorbild gedient hat. Man kann mit großer Leichtigkeit nach unten zu verstehen geben, es den Juden möglichst heiß zu machen, und neue Verordnungen sind zur Ausführung des Winkes nicht nötig. Soll aber eine neue Maßregel gegen die Juden zur Anwendung gebracht werden, so geht die Regierung diese Beamten um Auskunft und Rat an. Haufen von Anfragen werden an die Lokalgouverneure gerichtet, deren bloßer Tenor die gewünschte Antwort erkennen lässt. (Auf Grund solcher Berichte wurden z.B. die Maigesetze geschaffen). Jede neue Maßregel gegen die Juden bietet dem Beamten neue Gelegenheit zur Erpressung. Sein Gutachten über die Rätlichkeit (sic!) neuer Bedrückungen steht also dem des Reineke Fuchs über die Regulierung des Hühnerhofs an Wert gleich.

Es gibt kein einziges wirksames Mittel, durch welches die Juden ihre Sache gegen die Anschuldigungen ihrer Feinde führen könnten. Es existiert tatsächlich keine Körperschaft, welche sich in einer die Gesamtheit der russischen Juden berührenden Frage an die Regierung wenden könnte.   I h r e   e i n z i g e   H o f f n u n g   a u f   A b w e n d u n g   der   v i e l e n   R e c h t s v e r l e t z u n g e n,   a u f   E r l e i c h t e r u n g   i h r e r   L e i d e n   b e r u h t   a u f   d e m   E i n g r e i f e n   d e s   A u s l a n d e s,   a u f   d e m   P r o t e s t    d e r    e u r o p ä i s c h e n    P r e s s e !

Vorwürfe, welche gegen die russischen Juden erhoben werden.

Die systematische, zermalmende Unterdrückung, der die russischen Juden ausgesetzt sind, könnte vermuten lassen, daß Juden und jüdischer Einfluß aus zwingenden Gründen vom orthodoxen Rußland ferngehalten werden; aber tatsächlich ist bis jetzt noch kein einleuchtender Grund für die Erhaltung dieser mittelalterlichen Verhältnisse im Rußland des 19. Jahrhunderts beigebracht worden. Die versuchten Rechtfertigungen sind außerordentlich schwach und beruhen größtenteils mehr auf Vorurteilen, als auf Tatsachen. „Der russische Jude will nicht Handarbeit tun,“ so behaupten häufig die offiziellen Verteidiger der Regierungsmaßregeln. Dabei geht aus der offiziellen russischen Statistik hervor, daß von den 2 404 253 Juden, welche i. J. 1888 im Niederlassungsgebiet wohnten, nicht weniger als 293 507 d.h. 12 % der Gesamtheit Handwerker (remesslenik) waren. Das Verhältnis der Handwerker beträgt in Frankreich 10 %, in Preußen 9,1 % der Gesamtbevölkerung. Eine große Anzahl russisch-jüdischer Handwerker lebt zudem außerhalb des Niederlassungsgebiets, was ja, wie bemerkt, erlaubt ist, so daß verhältnismäßig weit mehr russische Juden Handwerker sind, als andere Russen, die hauptsächlich Ackerbau treiben. „Ja, aber die Juden wollen sich nicht mit dem Ackerbau beschäftigen,“ so plappert gedankenlos der russische Judenhasser, und er weist auf die Mißerfolge der von Nikolaus im Süden Russlands begründeten jüdischen Kolonien hin. Der Entwicklung dieser Kolonien stand die unsinnige Bedingung entgegen, daß jedes Grundstück immer zwei Familien zusammengehören sollte. Zudem hatten die Kolonisten mit den moralischen, materiellen und physischen Schwierigkeiten zu kämpfen, die man bei der Niederlassung ihnen in den Weg legte. Trotzdem sind die Kolonien nicht so erfolglos gewesen, als behauptet worden ist. Noch i. J. 1880 sprach sich ein Regierungsinspektor sehr günstig über dieselben aus und bemerkte, daß den jüdischen Kolonisten Fähigkeit für das Leben eines Ackerbauers durchaus nicht abgehe. Während der letzten 10 Jahre ist in Palästina und in den Vereinigten Staaten durch russische Juden eine große Zahl Ackerbau-Kolonien begründet worden, welche für ihre Neigung und Befähigung zur Landwirtschaft rühmendes Zeugnis ablegen. Übrigens sind die neuen Beschränkungen, welche den russischen Juden den Kauf und die Pachtung von Ländereien untersagen, an sich hinreichend, um dieselben vom Ackerbau fernzuhalten, denn auch diejenigen, die in Dörfern wohnen dürfen, können höchstens ländliche Arbeiter werden.

Es ist töricht, die Masse der russischen Juden des Wuchers und der Ausbeutung zu beschuldigen, da mindestens 80 % derselben so arm sind, daß sie von der Hand in den Mund leben, und die übrigen zur Hälfte Handwerk betreiben. Zweifellos sind unter den russischen Juden, wie unter den russischen Christen, einzelne Geldverleiher, welche die Bauern ausbeuten; aber diese Klasse ist verschwindend klein, verglichen mit den Massen von Trödlern und Handwerkern, die in den Städten ein Leben bitterer Armut und harter Arbeit führen. Gleichfalls übertrieben ist der behauptete verderbliche Einfluß der jüdischen Schankwirte, welchen die wohlbekannte Trunksucht der russischen Bauern zugeschrieben wird; diese neigen aber ebenso, wenn nicht mehr im Innern Rußlands zur Trunksucht, wo es jüdische Schankwirte nicht gibt. Die russischen Juden zu verfolgen, weil einige ihrer Glaubensgenossen trunkenen russischen Bauern Branntwein liefern, ist genauso unvernünftig, als die englischen Zwischenhändler zu verfolgen, weil einige von ihnen durch Verkauf von Spirituosen der Trunkenheit der Engländer Vorschub leisten.

Eine alte Anklage gegen die russischen Juden lautet, daß sie sich dem Militärdienste entziehen. Wenn dies wahr wäre, würde es nicht überraschen, weil den religiösen Gefühlen der Juden während der Dienstzeit nicht Rechnung getragen wird, und weil sie keine Aussicht auf Avancement haben. Tatsächlich aber ergibt die offizielle Statistik, aus der wir im Anhang (4) einen Auszug beifügen, in überzeugender Weise das gerade Gegenteil: tatsächlich stellen die Juden einen wesentlich höheren Prozentsatz von Soldaten als sie ihrer Bevölkerungsziffer nach zu stellen hätten.

Zu prüfen bleibt der Vorwurf, daß die russischen Juden „die Hauptquelle des Nihilismus und der Unzufriedenheit“ bilden. Sollte dies der Fall sein, so wäre es entschieden zu verurteilen, aber immerhin psychologisch begreiflich, denn der russische Jude hat wenig Ursache, eine Fortsetzung des gegenwärtigen Regimes zu wünschen. Tatsächlich aber sind die russischen Juden ein höchst loyales und geduldiges Volk und wären ganz zufrieden, wenn sie ihren Lebensunterhalt in Ruhe erwerben dürften. Es gab allerdings einige Juden und Jüdinnen unter den Nihilisten, aber alle hatten ihr Judentum und jede Beziehung zu demselben aufgegeben, viele waren zur griechisch-orthodoxen Kirche übergetreten. Mitglieder des Adels und sogar der Geistlichkeit befanden sich in ungleich größerer Zahl unter den Nihilisten, aber man hat diesen Ständen keinen Vorwurf daraus gemacht; warum also diese Vorwürfe gegen die Juden?

Es ist eigentlich hier in England überflüssig, auseinanderzusetzen, daß die russischen Juden keine Teufel in Menschengestalt sind, wie ihre russischen Feinde zur Beschönigung ihrer unmenschlichen Handlungsweise behaupten. Wir haben so viele von ihnen auf der Durchreise gesehen und können einige Tausend beobachten, die in unseren großen Städten geblieben sind. Sie bringen sicherlich einige ungesunde Gewohnheiten mit, die aber in Rußland allgemein sind und durch die Zusammendrängung in den Städten vielleicht sich tiefer eingefressen haben. Sehen wir aber hiervon ab und vielleicht von ihrer Bereitwilligkeit, achtzehn Stunden des Tages für kümmerlichen Erwerb wie ein Sklave zu arbeiten, so ist nichts Verächtliches oder Gehässiges in ihrem Charakter und Benehmen beobachtet worden. In der kurzen Zeit ihres hiesigen Aufenthalts haben viele von ihnen eine Fähigkeit zur Entwicklung unter freieren Verhältnissen bewiesen, welche ihre besten Freunde in Erstaunen gesetzt hat. Besonders zeigt die Schnelligkeit, mit der sich ihre Kinder an englische Denk- und Handlungsweise gewöhnen, wie gute Bürger sie werden können, wenn sie freies Feld für die Entwicklung ihrer Fähigkeiten erhalten. Die Herren, welche unter Leitung von Mr. Charles Booth Untersuchungen über die Armut im Osten Londons angestellt haben, erklären, daß die russischen Juden keine soziale Gefahr bedeuten, trotz des Elends, in dem sie sich bei der Einwanderung befinden. An Selbsthilfe und gegenseitigen Beistand gewöhnt, leben sie (in) der Gewißheit, daß sie sich aus ihrer Armut und Erniedrigung erheben werden.

Die wahren Ursachen der Verfolgung.

Diese Fähigkeit, ihre Lage zu verbessern, ist die wahre Ursache der russischen Antipathie gegen die Juden. In ein altes wirtschaftliches System mit hergebrachten Preisen und langen Krediten legen sie mit dem Prinzip kräftiger Konkurrenz Bresche; sie setzen die Preise und die Gewinne zu Gunsten der Konsumenten herab, aber nicht zum Vorteil der handeltreibenden Klassen, welche deshalb gegen die Juden als ihre tüchtigeren Konkurrenten aufgebracht sind. Dasselbe ist in hohem Grade in den Gewerben der Fall, wo der Jude durch große Energie und Beharrlichkeit seinen sorglos dahinlebenden Konkurrenten den Vorsprung abgewinnt. Unter der Regierung Alexanders II. hat die Lage der jüdischen Bevölkerung sich allgemein gebessert, und diese Tatsache ist der wahre Grund, daß man sie angriff. Es war ärgerlich für die religiöse und Rassen-Überhebung der Russen pur sang, daß die verachteten Juden im geschäftlichen und gewerblichen Leben die Tète nahmen. „Diese Juden wagen es, uns, die reinen Russen, aus dem Felde zu schlagen,“ soll Herr Pobedonoßzeff gesagt haben, und er hat sein Möglichstes getan, um dieses Streben zu unterdrücken.

Nichts ist unsinniger, als Rassenhaß gegen die Juden in einem Reiche, das vielleicht aus ebenso vielen Nationen wie Österreich-Ungarn besteht. Herr Pobedonoßzeff hat, um gerecht zu sein, ebenso eifrig den Einfluß der Finnen, Polen und Deutschen zu unterdrücken gesucht; aber die Konsequenz macht die Ungerechtigkeit um nichts geringer. Gegen die Juden liegt noch ein anderer Grund zum Übelwollen vor. Mitten in all‘ ihrem Elend und ihrer Unterdrückung halten sie fest an ihrem alten Glauben und widerstehen den vielen Versuchungen, ihn zu wechseln. Sobald ein Jude sich zur orthodoxen russischen Kirche bekehrt, ist er sofort von allen erniedrigenden Beschränkungen in der Wahl seines Aufenthalts und Berufs befreit. Er erhält sofort eine Barsumme, bis vor Kurzem war er außerdem fünf Jahre steuerfrei. Ist er verheiratet, so bringt sein Übertritt die Ehescheidung mit sich, obgleich seine Frau, wenn sie nicht gleichfalls getauft ist, sich nicht wieder verheiraten darf. Durch seinen Übertritt kann ein Jude auch den Folgen einer Schädigung von Glaubensgenossen entgehen, denn es heißt im Gesetz: „In einem Verfahren gegen Juden, die das Christentum angenommen haben, können Juden nicht als Zeugen zugelassen werden, falls gegen ihre Zulassung Einsprache erhoben wird.“

Um einem Prozeß zu entgehen, den ein Glaubensgenosse angestrengt hat, braucht der Beklagte sich also nur taufen zu lassen, und sein Opfer ist machtlos. Trotz dieser Versuchungen lassen sich aber von den fünf Millionen russischer Juden jährlich nur etwa 1300 bereit finden, unter dem Drucke des Zwanges von ihrem Glauben, wenn auch nur dem Namen nach sich los zu sagen. Herr Pobedonoßzeff betrachtet dies zweifellos als einen ferneren Beweis jüdischer Nichtswürdigkeit, aber außerhalb Rußlands werden nur Wenige seine Meinung teilen. Auch in ihrem Haß gegen alle nicht zur orthodoxen Kirche gehörenden Sekten ist die neuere Politik des Herrn Pobedonoßzeff konsequent (Lutheraner und römisch-Katholische, Raskolniks und Molokhanier erleiden die gleiche Verfolgung von dem Prokuror des heiligen Synods und religiösen Großwesir aller Russen); aber die Juden allein vereinigen   a l l e   Eigenschaften, gegen welche das offizielle Rußland jetzt einen ununterbrochenen Krieg führt. Sie sind geschäftlich veranlagt, sind Städtebewohner, und die russische Beamtenwelt ist vielleicht mit Recht überzeugt, daß das gegenwärtige System der Autokratie und Bürokratie nur so lange möglich ist, als die armen, unwissenden und abergläubischen Bauern vorherrschenden Einfluß im russischen Volksleben ausüben. Die Juden sind ferner keine Sklaven und bilden   n o l e n s   v o l e n s   einen beständigen Protest gegen den Panslavismus. Zudem sind die Juden nicht einmal Christen, noch viel weniger orthodoxe russische Christen, und auch deshalb stehen sie denen im Wege, die Rußland für die Russen wollen, das heißt für die orthodoxen, slavischen, bürokratischen Russen… Alle diese Ursachen haben zu den neuesten Versuchen geführt, den „jüdischen Einfluß“ durch Vernichtung der Juden zu zerstören. Der Urgrund ist Rassenhaß, der Entschluß um jeden Preis die Juden zu hindern, sich den Russen überlegen oder auch nur ebenbürtig zu erweisen.

Rußlands Verluste durch die Verfolgungen.

Gegenüber so fanatischer Intoleranz ist es vielleicht müßig, den Schaden darzulegen, den russischer Handel und russische Industrie durch diese Zerstörung eines Haupt-Elements des Fortschritts erleiden. Die Russen geben selbst zu, daß der bedeutende Fortschritt Westrußlands in den letzten Jahren zum großen Teil durch die kaufmännische Tüchtigkeit der dortigen Juden befördert, wenn nicht ganz geschaffen wurde. Bereits treten Zeichen der verursachten Schäden in der Mühlen-Industrie hervor, die bisher in den Händen jüdischer Vermittler lag. Die letzte Messe von Nischni-Nowgorod hatte einen vollständigen Mißerfolg durch die erzwungene Abwesenheit jüdischer Händler, die früher die treibende Kraft des Platzes waren. Wie selbst judenfeindliche Blätter zugeben, hat das Verbot, den Juden Ländereien zu verkaufen oder zu verpachten, in breiten Strichen Rußlands, zumal im Süden, eine Entwertung des Grundbesitzes zur Folge, welche zu einer Krisis führen muß. Durch das Fehlen der jüdischen Pächter sinkt der Pachtzins, infolge dessen mehren sich die Subhastationen, und da die Juden nicht als Käufer auftreten dürfen, erfolgt der Zuschlag zu einem Schleuderpreise, welcher in den seltensten Fällen auch nur der Höhe der Hypotheken-Schulden entspricht. Unter den ca. 270 000 russischen Juden, die während der letzten 10 Jahre hauptsächlich nach Amerika ausgewandert sind, waren zahlreiche jüngere und tatkräftige Elemente, die vielleicht zur Entwicklung des Landes viel beigetragen hätten. Ihre Abwesenheit wird vielleicht von den russischen Judenhassern nicht bedauert, die wahrscheinlich froh wären, wenn die übrigen 5 Millionen folgen würden; aber solch ein Auszug ist unmöglich, da die benachbarten Staaten ihn nicht erlauben würden, und mittlerweile ersetzt die normale Zunahme der Bevölkerung den Verlust mehr als reichlich, wobei allerdings hilflose Kinder an die Stelle tüchtiger Arbeiter treten.

Welcher Vorteil kann Rußland aus dieser Verleugnung der elementaren Forderungen der Gerechtigkeit gegenüber einem Zwanzigstel seiner Bevölkerung erwachsen? Sie dient nur dazu, die „Judenfrage“ noch akuter zu machen und Haß und Verachtung auf den russischen Namen zu häufen. Vom Standpunkte der Panslavisten aus macht sie die Juden Rußlands nicht im geringsten besser, sondern verschärft nur ihre Charakter-Eigentümlichkeiten, welche sie von den anderen Russen unterscheiden. Dieses System stößt eine große Anzahl der tüchtigsten Juden in die weite Welt hinaus, welche naturgemäß einer Regierung, die sie von Haus und Hof gejagt, feindlich gesinnt sein müssen; es treibt die Zurückbleibenden der Masse der Unzufriedenen zu und zwar gerade in dem Teile des Reichs, in dem die patriotischen Gefühle am Tage des Kampfes mit den benachbarten Feinden die stärksten sein sollten, und als schlimmste aller Wirkungen zeitigt, oder richtiger hat es bereits gezeitigt ein Übermaß von Armut, welche bald zu einer Krisis führen muß: entweder wird die Staatshilfe angerufen werden müssen, um dem äußersten Elende vorzubeugen, oder eine Seuche wird alle Städte des westlichen Rußlands verwüsten.

Das Heilmittel.

Sicherlich wäre es klüger und humaner, den russischen Juden die rein elementaren Menschenrechte, die Freiheit der Bewegung und der Berufswahl einzuräumen. Alle Erfahrungen sprechen für eine solche Politik. Während des letzten Jahrhunderts haben sämtliche Staaten West-Europas dieselbe angenommen, und die Vorteile, welche die Juden den Nationen, unter denen sie wohnen, gebracht (haben), wird außer einigen Fanatikern niemand leugnen. Für ein großes Volk, wie Rußland, ziemt es sich nun einmal nicht, Furcht zu haben vor dem überwiegenden Einfluße, den ein Zwanzigstel seiner Mitglieder über die übrigen neunzehn Zwanzigstel ausüben könnte. Ebenso wenig schickt es sich für einen christlichen Staat, wie Rußland, in dieser Hinsicht hinter seinem alten Feinde, der Türkei, zurückzubleiben. In der Tat wurde immer und immer wieder von den Kommissionen, welche hintereinander mehrere Zaren speziell dazu eingesetzt haben, die “Judenfrage“ zu studieren, empfohlen, den Juden jene Freiheiten zu gewähren.

Es sollte überhaupt keine „Judenfrage“ geben. Noch nie haben die russischen Beamten eine Entschuldigung vorbringen können, welche es gerechtfertigt erscheinen lässt, daß man die unglücklichen Hebräer Rußlands behandelt, als ob sie von einer moralischen Wasserscheu befallen wären. Das gegenwärtige System barbarischer Unterdrückung demoralisiert die ganze russische Nation, indem es sie an den Anblick von Grausamkeit und Unterdrückung gewöhnt: die russischen Judenhetzen stehen auf einem tieferen moralischen Niveau, als die spanischen Stiergefechte. Ferner ist das System eine beständige Bedrohung der Juden, welche in fortwährender Angst vor den Ausbrüchen der Volkswut leben, da sie ja durch eine besondere Gesetzgebung von den übrigen Landsleuten geschieden sind. In den Zeiten nationaler Erregung, wie z.B. in den Tagen unmittelbar nach dem Morde des letzten Zaren, steht ihr Leben und die Ehre ihrer Frauen ständig in Gefahr. Die russische Regierung beansprucht Gehorsam und außerdem viele schwere Opfer von ihren jüdischen Untertanen. Was bietet sie ihnen als Gegenleistung? Nicht einmal Sicherheit für ihre eigene Person, oder Schutz für ihre Frauen und Kinder. Ja, kann man angesichts der neuesten Ereignisse noch behaupten, daß sie ihnen auch nur das Recht gibt, sich das tägliche Brot zu verdienen?!

Es gibt nur ein einziges Mittel, um dieser unglücklichen, heillosen Lage ein Ende zu machen: Vollständige Befreiung der russischen Juden von den erniedrigenden Beschränkungen, die sie nach jeder Richtung hin bedrücken, ist die einzig mögliche Lösung. Die Niederlassungsgrenze muß verschwinden; die Bildung muß allen Juden offenstehen, eine ehrenvolle Laufbahn im Geschäft und im Staatsdienst muß den russischen Juden ebenso zugänglich sein, wie den russischen Christen. Es ist kein Privileg, das sie verlangen, es ist ein Recht, das Recht jedes Staatsbürgers, in den Augen des Gesetzes als gleichwertig mit allen dazustehen.

Einem West-Europäer läßt sich schwer das Elend und die Erniedrigung verständlich machen, welche diese Verfolgung der russischen Juden in Gesetz und Verwaltung zeitigt. Die öffentliche Meinung, welche stets so gern Mitgefühl empfindet, wo einzelne Individuen physisch leiden, kann es nicht ruhig dulden, daß in einer großen Gemeinschaft alle Männlichkeit, alle Hoffnungen auf ein wahrhaft menschenwürdiges Dasein langsam vertilgt wird, und wir hegen die Hoffnung, daß die obige Schilderung der traurigen Lage und der noch traurigeren Aussichten der Juden Rußlands alle menschlich Fühlenden veranlassen werde, ihrem Entsetzen in einer Weise Ausdruck zu verleihen, daß es bis zum Zaren dringen wird. Auf seiner Majestät dem Zaren ruhen die Hoffnungen der russischen Juden. Er kann durch einen Federstrich Millionen seiner Untertanen das Leben schenken, von denen man jetzt kaum sagen kann, daß sie leben. Er hat wiederholt und in gnädigster Weise zu verstehen gegeben, daß die Interessen seiner jüdischen Untertanen ihm ebenso sehr am Herzen liegen, wie die der meisten orthodoxen Russen. Er kann nicht gestatten, daß eine neue Klasse von Leibeigenen in seinem Reiche entsteht, und die Lage der Juden ist auf dem besten Wege eine schlimmere zu werden, als die der Leibeigenen war, welche wenigstens Herren hatten, die für sie verantwortlich waren, während die Juden allmählich die Leibeigenen der russischen Polizei werden.

Alexander II. hat den unvergänglichen Ruhm, der Befreier der russischen Leibeigenen gewesen zu sein. Möge Alexander III. einen Schritt weiter zur Befreiung Russlands tun, indem er der Befreier der russischen Juden wird!     

Die jüdische Bevölkerung Rußlands.

Die Statistik liegt in Russland sehr im Argen. Die Resultate, zu denen das Kaiserliche Statistische Büro gelangt, sind sehr unvollständig und werden selten so veröffentlicht, daß man sie kontrollieren kann. Dies gilt ganz besonders für die Statistik der russischen Juden, deren Zahl so wenig feststeht, daß sie verschieden auf 3 und auf 6 Millionen angegeben wird. Die neuesten Ziffern, welche veröffentlicht wurden, sind in einem der Pahlen’schen Kommission im Jahre 1885 erstatteten Berichte enthalten, welcher angeblich die Zahl der jüdischen Bevölkerung im Niederlassungsgebiet während des Jahres 1884 feststellt. Wahrscheinlich sind die Ziffern jedoch der letzten Einschätzung, im Jahre 1879, entnommen, sie sind im günstigsten Falle nur ein Minimum und sollten wahrscheinlich um 30 % größer sein.

[Die erste Zahl gibt die Gesamtbevölkerung an, die zweite die Anzahl der Juden und die dritte den prozentualen Anteil, den die Juden stellen.]

  1. West-Rußland.

Grodno                       1 163 525                   229 574                      19,7

Kowno                        1 419 493                   269 399                      19,0

Minsk                         1 410 754                   283 194                      20,1

Mohilew                     0 835 244                   151 055                      18,1

Podolien                     2 239 514                   418 858                      18,7

Wilna                          1 191 992                   175 996                      14,8

Witebsk                      1 037 892                   133 785                      12,9

Wolhynien                 1 946 438                   289 820                      14,9

 

  1. Die Ukraine (Klein Rußland).

Kiew                            2 332 421                   339 557                      14,6

Pultawa                      2 399 400                   084 041                      03,5

Tschernigow               1 896 450                   083 117                      04,4

Charkow                     2 160 203                   008 474 (5)                 00,4

 

  • Süd-Rußland.

Bessarabien               1 385 743                   267 827                      12,1

Cherson                      1 479 303                   140 162                      09,5

Jekaterinoslaw           1 459 066                   047 304                      03,2

Taurien                       0 898 945                   021 197                      02,5

Odessa, Kertsch,

und Sebastopol          0265 813                    077 279                      29,4

==========================================================

Insgesamt:                 25 481 896                 2 920 639                   11,5

 

Zu dieser Summe von 2 920 639 sind hinzuzurechnen:

  1. Die Juden Polens, deren Zahlen man auf 1 078 000 oder 14,4 % der Bevölkerung schätzt;
  2. Die Juden außerhalb des Niederlassungsgebiets, die sich wahrscheinlich auf 750 000 belaufen.

Demnach würde im Jahre 1884 (1879) die Gesamtzahl aller Juden im Russischen Reiche 4 748 640 betragen haben. Es kann also kaum einem Zweifel unterliegen, daß sie gegenwärtig   m e h r   a l s   f ü n f   M i l l i o n e n    zählen, obgleich notorisch in Folge der Maigesetze die Kinder-Sterblichkeit unter ihnen sehr zugenommen hat, und innerhalb der letzten sechs Jahre mindestens 200 000 Juden aus Rußland ausgewandert sind.

Einige interessante Details werden der Pahlen’schen Kommission betreffs der Verhältniszahl der Juden in den Städten des Niederlassungsgebiets mitgeteilt. In 4 Städten waren es über 80 %, in 14 Städten 70-80 %, in nicht weniger als 68 Städten zwischen 50 und 70 %, in 28 Städten zwischen 20 und 40 %. Unter diesen 114 Städten befinden sich wahrscheinlich alle die Städte und Marktflecken, in denen die Juden wohnen dürfen.

Fußnoten:

(1) Temporäre Gesetze sind solche, welche als Beschlüsse des Ministeriums angenommen sind. Gesetzgebende Körperschaft ist der Reichsrat, welcher aus hohen Beamten von der Krone zusammengesetzt wird und welchen der Großfürst Michael präsidiert. Der Reichsrat hatte solche Gesetze damals nicht erlassen; so griff Ignatieff zu dem in dringlichen Fällen gestatteten Mittel, die Maigesetze als Beschlüsse des Ministeriums annehmen zu lassen. Durch die kaiserliche Billigung wurden sie temporäre Gesetze. Ein temporäres Gesetz kann aber ewig dauern, wie denn auch die Maigesetze tatsächlich bereits über acht Jahre gültig sind.

(2) Während des Drucks dieser Zeilen wird aus Zeitungsberichten bekannt, daß des Zaren Aufmerksamkeit auf diese Ungerechtigkeit gelenkt und einer Anzahl jüdischer Advokaten die Ausübung der Praxis erlaubt worden sein soll. Ohne offizielle Bestätigung, die bisher nicht erfolgte, scheint die Nachricht wenig glaubwürdig.

(3) Es ist den Juden nicht erlaubt, innerhalb 50 Werst (33 englische Meilen) von der Grenze zu wohnen, aber dieses Gesetz wurde obsolet und soll erst jetzt wieder in Kraft treten.

(4) „Zusammenstellung der Special- und Ausnahme-Gesetze“ Kap. III („Militärpflicht“) § 23 Anm.

(5) Diese Zahl bezieht sich auf die Handwerker usw., welche das Recht haben, außerhalb des Niederlassungsgebiets zu wohnen, da Charkow nicht innerhalb desselben liegt.

Erläuterungen und Glossar:

„Ipso facto“: durch die Tat selbst

Ignatieff: Ignatiew, Nikolaj Pawlowitsch, Graf (1832-1908), Russischer Staatsmann (Minister, Diplomat), der als Initiator der judenfeindlichen Gesetze der 1880er Jahre und als Unterstützer einer rücksichtslos-aggressiven und auf kontinuierliche Gebietserweiterung gerichteten russischen Expansionspolitik gilt.

Niederlassungsrayons: In der Fachliteratur wird häufig auch der Begriff „Ansiedlungsrayon“ verwendet

Wilna: Vilnius, heute Hauptstadt Litauens

Kowno: Kaunas, heute Litauen

Witebsk: Wizebsk, Viciebsk, heute Belarus/Weißrussland

Grodno: Hrodna, heute Belarus/Weißrussland

Minsk: heute Hauptstadt Weißrusslands (Belarus’)

Mohilew: Mahiljou, Mogiljow, Mogilew, heute Belarus/Weißrussland

Wolhynien: Wolyn, Wolynien, historische Landschaft, gelegen in der nordwestlichen Ukraine, größer als die heutige ukrainische Verwaltungseinheit Oblast Wolyn

Podolien: Podillja, Podole, Podolje, Podolia, historische Landschaft, heute auf dem Territorium der südwestlichen Ukraine und eines nordöstlichen Teils der Republik Moldau

Tschernigow: Tschernihiw, Czernihów, heute in der nördlichen Ukraine gelegen

Pultawa: Poltawa, heute nordöstliche Ukraine

Jekaterinoslaw: Dnepropetrowsk, Dnipropetrowsk, Dnipro, Dnepr, heutige Zentralukraine

Taurien: Tawrija, alter Name der Halbinsel Krim (heute umkämpft zwischen Russen und Ukrainern); zugleich Name eines historischen russischen Gouvernements, das auch die Gebiete nördlich der Krim miteinschloss

Beßarabien: Basarabia, Bessarabija, historische Landschaft zwischen Schwarzem Meer und den Flüssen Pruth und Dnjestr, heute hauptsächlich auf dem Gebiet der Republik Moldau gelegen, während die südlichen Regionen des ehemaligen Beßarabien zur Ukraine gehören

Zar Alexander II.: 1818-1881, Zar von 1855 bis 1881

Nihilist: Von Lateinisch nihil = nichts; früher Bezeichnung für Regimegegner, Umstürzler, Revolutionäre, Anarchisten, Attentäter etc., kurzum für Individuen, die die Wertesysteme ihrer Gesellschaft für nichtig erachteten und bekämpften.

Pobedonoßzeff: Konstantin Petrowitsch Pobedonoszew (1827-1907), russischer Rechtsgelehrter, Staatsbeamter, Philosoph und Autor; war einflussreicher Vertreter des russischen Konservativismus und erklärter Gegner der Juden; Zitat: „Ein Drittel (der russischen Juden) wird (bei Pogromen) sterben, ein Drittel wird auswandern, und das letzte Drittel wird im russischen Volk völlig assimiliert werden.“

„des heiligen Synod“: die oberste kirchliche Behörde der russisch-orthodoxen Kirche bis 1922

„den gegenwärtigen Zaren“: (1891) Alexander III. (1845-1894), Zar 1881-1894

Präjudiz: Vorentscheidung; vorgefasste Meinung

Großfürst Michael: Michael Nikolajewitsch Romanow (1832-1909), Sohn des Zaren Nikolaus I., wurde nach dem Tod des Zaren Alexander II. von dessen Nachfolger Alexander III. zum Vorsitzenden des Staatsrates des Russischen Kaiserreiches ernannt und behielt dieses Amt bis zu seinem Tode.

„durch die dolose Deutung“: so viel wie böswillig, arglistig

Smolensk: Stadt im Westen Russlands, nahe der Grenze zu Belarus

Simbirsk: Sinbirsk, Uljanowsk (seit 1924), russische Stadt an der Wolga

„Schüler der Prima“: Schüler der beiden letzten Klassen eines Gymnasiums

Livland: Livonia, Liwonija, Inflanty, historische Landschaft im Baltikum, umfasste Gebiete der heutigen Staaten Estland und Lettland (die Liven, ein finnougrischer Stamm, sind in den Letten aufgegangen oder ausgestorben).

Melitopol: lag nach Ende der Sowjetunion auf südukrainischem Territorium, im Oblast Saporischschja, und gehört heute zu den zwischen Russen und Ukrainern umkämpften Gebieten.

Odessa: Odesa, ukrainische Hafenstadt am nordwestlichen Schwarzen Meer gelegen

Kischeneff/Kischineff: Kischinau, Kischinew, Kischinjow, Hauptstadt der Republik Moldau

Baron Hirsch: Moritz Freiherr von Hirsch auf Gereuth, Baron Maurice de Hirsch (1831-1896); aus Bayern stammender Unternehmer, Bahnbaupionier, Investor, Bankier, Philanthrop, Begründer der „Palestine Jewish Colonization Association“; hielt sich zumeist in der Donaumonarchie auf und war eng mit dem Habsburger Kronprinzen Rudolf befreundet; beide standen in Gegnerschaft zu einer Allianz mit dem Deutschen Reich und besonders zu Kaiser Wilhelm II.

Vinitza (Podolien): Winnyzja, Winniza, Winnica; Oblasthauptsatdt in der Westukraine

S. S. von Poljakoff: Samuil Solomonowitsch Poljakow (1837-1888), genannt „der Eisenbahnkönig“; schuf als Unternehmer ein Viertel aller Bahnen im Russischen Kaiserreich, war Russischer Staatsrat, Philanthrop und Mitgründer der jüdischen Berufsbildungsorganisation O.R.T.; hatte zunächst hohe Summen auch an nichtjüdische Einrichtungen und Stiftungen gespendet, wechselte aber nach den Judenverfolgungen von 1881 sein Verhalten und unterstützte nur noch jüdische Projekte.

Charkow: Charkiw, im Osten des Landes gelegene zweitgrößte Stadt der Ukraine; bedeutendes Wissenschafts- und Bildungszentrum mit zahlreichen höheren Bildungseinrichtungen

Ukas: Erlass, Verordnung (aus dem Russischen)

Kommis: Kaufmännischer Angestellter (aus dem Französischen)

Riga: heute Hauptstadt der Republik Lettland

Dissidenten: Andersdenkende, anders glaubende Menschen; auch: jemand, der zu keiner offiziellen/anerkannten Religionsgemeinschaft gehört

Berditschew: Berdytschiw, Berdyczów, Stadt und Industriezentrum in der nordwestlichen Zentralukraine

Berditschew, dem „russischen Jerusalem“: die Stadt war eines der bedeutendsten Zentren jüdischen Lebens Polens und später des Zarenreichs; 1789 waren drei Viertel ihrer Bewohner jüdisch; 1861 war Berditschew die Stadt mit dem zweithöchsten Anteil von Juden an der Gesamteinwohnerzahl einer russischen Stadt; 1897 betrug, trotz zunehmender Auswanderung, der Anteil der Juden 80 %, zur Zeit der deutschen Besetzung, im Juli 1941 ca. 50 %; diese, über 30 000 Menschen, wurden fast alle von Deutschen ermordet.

Schwindsucht: Tuberkulose

Tschinownik: Heißt eigentlich Beamter, auch: Beamten-/Schreiberseele, Bürokrat

Subalterne: Untergeordnete, gemeint sind die Beamten der Exekutive, die die Einhaltung der Gesetze zu kontrollieren haben

Regulative: Vorschriften

Zirkular: Rundschreiben

Nowo-Alexandrowsk: Nowoalexandrowsk, russische Stadt, im äußeren Südwesten des Landes, in der Region Stawropol, gelegen

Dekretieren: ein Dekret erlassen, anordnen, verordnen

Letitschew (Podolien): Letytschiw, in der westlichen Zentralukraine gelegene Stadt; im Zweiten Weltkrieg ermordeten Deutsche dort 7200 jüdische Stadtbewohner

Trostianez (Podolien): sehr häufig vorkommender Orts- und Siedlungsname in der Ukraine; die in Podolien gelegene Ansiedlung dieses Namens liegt im Oblast Winnyzja und hatte gegen Ende des 19. Jahrhunderts einen jüdischen Anteil an ihrer Einwohnerschaft von über 30 %.

Berliner Vertrag: am 13. Juli 1878 unterzeichneter Vertrag zwischen Vertretern des Deutschen Reiches, Österreich-Ungarns, Frankreichs, des Vereinigten Königreiches, Italiens, Russlands und des Osmanischen Reiches zur Beendigung der Balkankrise und zur Einleitung einer neuen Friedensordnung für Südosteuropa. Der Vertrag trug zu einer Verschlechterung des deutsch-russischen und zu einer vorübergehenden Verbesserung des deutsch-britischen Verhältnisses bei.

Reineke Fuchs: die Bearbeitung einer mittelalterlichen Tierfabel diente Goethe zur Vorlage für seine Fassung dieses Epos, in dem Tiere, die einem Hofstaat angehören, menschliche Rollen übernehmen. Der deutsche Nationaldichter beabsichtigte wohl eine Form von Kritik am höfischen Leben seiner Zeit. Das Epos, von dem auch zahlreiche, „entschärfte“, illustrierte Kinderbuchfassungen existierten, ist extrem grausam und blutrünstig. Protagonist Fuchs Reineke siegt zum Schluss auf allerunfairste Weise.

„wohlbekannte Trunksucht der russischen Bauern“: Das Bild vom exzessiv trinkenden Russen war und ist in Europa weit verbreitet. So wiesen etwa deutsche Nachschlagewerke (Enzyklopädien) aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in ihren Russland-Einträgen den Russen gern Trinkfreudigkeit als gleichsam charakteristische Eigenschaft zu.

Blickt man in die aktuelle Statistik „Konsum an reinem Alkohol pro Person (über 15 Jahre) in Litern pro Jahr“, so steht Deutschland weltweit an fünfter Stelle, Russland erst an 16., Belarus an 27., die Ukraine gar an 60. (und Israel an 124.) Stelle.

(Quelle: Wikipedia: „Liste der Länder nach Alkoholkonsum“, aufgerufen am 13.10.2022)

Russen, und andere Osteuropäer, sind in ihren Trinkgewohnheiten vielfach offener, daher werden sie als Alkoholkonsumenten stärker wahrgenommen als etwa Deutsche, deren Suchtverhalten oft von Verheimlichen, Verbergen, Vertuschen bestimmt wird.

Avancement: Beförderung

Griechisch-orthodoxe Kirche: Damals häufig übliche Bezeichnung für die Kirche der „Rechtgläubigen“ Russlands, also für die russisch-orthodoxe Kirche

Charles Booth: britischer Philanthrop und Sozialforscher (1840-1916), der die Lebensverhältnisse der unteren Schichten in London untersuchte; Booth erlebte noch mit, dass die von ihm propagierte staatliche Rente eingeführt wurde. Für sein Lebenswerk wurde der Pionier der Stadtforschung hoch ausgezeichnet.

„der Russen pur sang“: „reinen Blutes“/“reinrassiger“ Russen (aus dem Französischen)

„die Tète nahmen“: = die Spitzenstellung nahmen (tète = Kopf; französ.)

Raskolniks: die sogenannten „Altgläubigen“ (Starowery), Bezeichnung für christliche Richtungen und Glaubensgemeinschaften, die sich ab 1667 von der Russisch-orthodoxen Kirche abspalteten, nachdem der Patriarch Nikon Texte und Riten einer Reform unterzogen hatte.

Molokhanier: Molokanen (Molokane, Malakanlar), „Milchtrinker“, Gemeinschaft des spirituellen Christentums, deren Mitglieder an den Fastentagen Milch trinken; ebenfalls Abtrünnige der Russisch-orthodoxen Kirche, für die nur die Bibel als Anleitung zur Lebensführung Autorität besitzt. Von der russischen Zentralregierung als potentieller Unruheherd wahrgenommen und immer wieder zu Umsiedlungen in Randgebiete gezwungen, wanderten Gemeinschaftsmitglieder nach Australien und in die USA aus.

Großwesir: (Wasir-e Azam/Sadr Azam), der zweite Mann im Staate nach dem Herrscher in Funktion eines Chefs der Regierung; in der Regel bezogen auf das Osmanische Reich, das Mogulreich, die Seldschuken, Safawiden und Ghaznawiden. Hier ironisch gemeint.

„nolens volens“: Lateinisch, so viel wie: ob man will oder nicht, wohl oder übel

Panslavismus: auch „Allslawische Bewegung“ mit dem Ziel eine politische, kulturelle und religiöse, wie auch immer geartete, Einheit der slawischen Völker Europas zu erreichen. Von Russen und Serben gerne mit Führungsanspruch durch den eigenen Stamm gleichgesetzt und letztendlich gescheitert.  

Nischni-Nowgorod: fünft- oder sechstgrößte Stadt Russlands, die von 1932 bis 1990 Gorki/Gorkij hieß; etwa 400 km östlich von Moskau gelegen. Von Juden wegen der strengen Gesetze erst ab etwa 1840 dauerhaft bewohnt, zunächst nur von Händlern und ehemaligen Soldaten. In den 1880er Jahren entstand eine Synagoge und 1913 lebten dort etwa 3000 Juden. Sämtliche jüdischen Einrichtungen wurden bis 1938 geschlossen und konnten erst ab 1991 wieder ihrer ursprünglichen Bestimmung übergeben werden. Gegen Ende des ersten Jahrzehnts des neuen Jahrtausends betrug die Anzahl der Juden in N.-N. ca. 15 000.

Subhastationen: veralteter Ausdruck für Zwangsversteigerungen, Zwangsverkauf

„Judenfrage“: „Jewish question“, Stellvertreter für: Wie soll man mit der Emanzipation der Juden umgehen? Ein Schlagwort, das Mitte des 18. Jahrhunderts aufkam und sich bis ins 20. Jahrhundert in vielen Konversations-Lexika, Enzyklopädien und Fachbüchern vor allem Deutschlands nachweisen lässt; ein Schlagwort, das ganzen Legionen von Publizisten, Politikern und Klerikern Stoff zu Stellungnahmen lieferte, und das seit Offenlegung der Shoah nicht mehr gebraucht wird; ein Schlagwort, das in der deutschen Sprache zum Tabuwort geworden ist.

„westliches Rußland“: Teile der heutigen Ukraine, Teile des heutigen Moldawien, Weißrussland/Belarus, Teile Polens, Teile des Baltikums.

hinter seinem alten Feinde, der Türkei, zurückzubleiben“: An Verfolgung und Repression im Osmanischen Reich und in der modernen Türkei litten vor allem Christen; das Schicksal der Juden in Kleinasien gilt im Vergleich zu Russland als günstiger. Jedoch wäre es verfehlt, Osmanen bzw. Türken von Vorwürfen des Antijudaismus, Antisemitismus und Antizionismus freizusprechen, wie die neuere und neueste Forschung gezeigt hat:

Efrat Aviv: Antisemitism and Anti-Zionism in Turkey. From Ottoman Rule to AKP (Israeli History, Politics and Society, Vol. 60). Routledge 2019.

Dilek Güven: Nationalismus und Minderheiten. Die Ausschreitungen gegen die Christen und Juden der Türkei vom September 1955. München 2012.

Corry Guttstadt: Die Türkei, die Juden und der Holocaust. Berlin und Hamburg 2008.

Marc David Baer: Sultanic Saviors and Tolerant Turks. Writing Ottoman Jewish History, Denying the Armenian Genocide (Indiana Series in Sephardi and Mizrahi Studies). Indiana University Press 2020

Turkay Salim Nefes: Online Antisemitism in Turkey. Palgrave Pivot 2015.

Matthew Milzman: Russian and Ottoman Answers to the „Jewish Question“. A Comparison of the Treatment of Jews in the Russian and Ottoman Empires. Seminar Paper, GRIN Publ. 2015.

„nach dem Morde des letzten Zaren“: Die Ermordung des Zaren Alexander II., 1881, gilt als Auslöser bzw. Beginn schwerer Verfolgungen von Juden (Pogromen) im kaiserlichen Russland.

Zar Alexander III.: lebte von 1845 bis 1894 und war Kaiser von Russland von 1881 bis zu seinem Tode.

Pahlen’sche Kommission: Konstantin Johann Georg von der Pahlen (1861-1923) war baltendeutsch-russischer Staatsmann und Forschungsreisender; bereits der Vater hatte in russischen Diensten gestanden. Pahlen verfasste 1903 ein geheimes Memorandum zur Situation der Juden in Russland, das im Jahr darauf vom Allgemeinen Jüdischen Arbeiterbund, so hieß eine jüdisch-sozialistische Partei in Russland, in der Schweiz veröffentlicht wurde. Es enthielt Vorschläge zur Überarbeitung der bestehenden, höchst unmenschlichen, russischen Judengesetze.

 

Nachwort:

Kein nichtjüdischer Deutscher sollte sich nach Lektüre obigen Textes behaglich zurücklehnen und, in seinen Vorurteilen vermeintlich bestätigt („Ja, ja, die Russen, wir haben‘s ja immer schon gewusst…“), bei „Alexa“ seinen Lieblingssong samt Kuschelbeleuchtung ordern. Denn der Blick, zum Beispiel in bayerische Judengesetze aus dem gleichen 19. Jahrhundert, belehrt, dass Deutsche jenen nämlichen, peinlichen Mangel an Zivilisiertheit mit „Russen“ sehr, sehr lange teilten. — Weit schlimmer noch, es sind Deutsche, und nicht Russen, die, nach Jahrhunderten gesehen, die längste Judenverfolgungsgeschichte zu verzeichnen und schließlich die Shoah zu verantworten haben.

1 Kommentar

  1. Die Einschätzung zur Authentizität des im Beitrag von Robert Schlickewitz reproduzierten Teils, der 1891 in Berlin gedruckten Broschüre erlaube ich mir zu bestätigen. Anders als Schlickewitz kann ich dazu jedoch nicht auf eine Basis jahrzehntelanger Erfahrung zurückgreifen, sondern habe die Zahlen zu den im russischen Reich (inkl. Polen) lebenden Juden anhand anderer Dokumente überprüft. (*)

    Der gesamte Beitrag ist bestechend informativ und wäre eine mindestens interessante Erweiterung, für unsere 16 (-1)verschiedenen Landesbildungsabsichten zur Shoa. Doch werden es Bürger der Formate Prof. Salzborn und Prof. Schapiro an der Spitze Deutscher Bundespolitik sein, die hierzu eine genormte und psychologisch sinnvolle Heranführensweise unserer Kinder gewährleisten werden. Erst dann wird der Deutsche Antisemitismus schrumpfen und die Normalität von Streifenwagen vor Synagogen zu einem schlechten Traum vergangener Nächte.

    Dem von Schlickewitz angeführtem Autor, Werner Bergmann widerspreche ich dahin gehend, dass Goethe weder als Dichter noch als Denker international eine bedeutende Rolle spielt. Für Kant gilt Gleiches; der aber tatsächlich über den Deutschen Provinzmuff hinaus anerkannte Moses Mendelssohn fehlt. Trotzdem bleibt Bergmann in meinem Regal, weil er eben jemand ist an dessen Sicht ich mich auftanken kann. Widerspruch erzeugt die Energie.

    Das was die deutschen Nichtjuden noch nicht verstanden haben, verstehen können, wird somit zum jüdischen Lackmustest auf ihrem Weg zur Erfüllung des heiligen Pakts; deutsche Nichtjuden werden es nicht alleine packen. Die 4.700 NIE WIEDER der letzten 10 Jahre in der deutschen Bundespolitik ist doch wohl aussagekräftig genug. Es ist Zeit für offene Worte, für Ehrlichkeit, für die Umsetzung dessen was durch Auschwitz gilt, Zeit für wahre Freundschaft.

    Ich lese nun noch zwei andere Beiträge von Schlickewitz, nur weil ich wissen will ob er Kurs hält.
    Danke und Shalom

    Alexander A. Dellwo

    (*) Zeitschrift für Demographie und Statistik der Juden, 10. Jahrgang, April 1914, Heft Nr. 4.
    Herausgegeben vom Bureau für Statistik der Juden
    Berlin C. 2, An der Spandauer Brücke 15
    Schriftleitung: Dr. Bruno Blau, Berlin

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