Jüdische Kinder- und Jugendausbildung nach der Shoa

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Grundschulklasse im jüdischen DP Children’s Center Rosenheim, Repro: nurinst-archiv (Sammlung G. K. Richman)

Ein neues Überblickswerk gibt Einblick in ein kaum bekanntes Kapitel der Bildungsgeschichte

Nach der Shoa war es eigentlich undenkbar, dass sich in Deutschland wieder ein vielfältiges jüdisches Leben etablieren könne. Gleichwohl lebten in den Nachkriegsjahren rund 200.000 jüdische Displaced Persons (DP) in zahlreichen Camps mitten im „Land der Täter“. Dabei handelte es sich vornehmlich um osteuropäische Juden, die auf ihre Auswanderung nach Israel oder Übersee warteten. Es kam zu einer kulturellen Blüte, mit eigenen Theatern, Zeitungen, Sportvereinen und jüdischen Schulen und Kindergärten. Diese zivilisatorische Renaissance in den DP-Camps war zwar nur temporär, legte aber den Grundstein für den Neuanfang jüdischen Lebens in Deutschland – mit eigenen kulturellen Institutionen und Bildungseinrichtungen. Nach der Gründung des Staates Israel und der Liberalisierung der Einwanderungsbedingungen der USA, Kanadas oder Australiens wurden die jüdischen „Wartesäle“ bis zum Anfang der 1950er-Jahre geschlossen. Nur wenige DPs ließen sich in Deutschland nieder und bildeten mit den deutschen Überlebenden sowie den aus der Emigration zurückgekehrten Juden die Keimzelle der neuen Israelitischen Kultusgemeinden. Doch auch diese kleine Gemeinschaft benötigte Schulen und Kindergärten, war doch die Vermittlung von jüdischer Bildung Voraussetzung für das Überleben des deutschen Judentums.

Diese autonomen jüdischen Bildungseinrichtungen, die ab 1945 in Deutschland entstanden waren, beschreibt der Historiker Matthias Springborn in seinem Überblickswerk „Jüdische Kinder – und Jugendbildung in Deutschland seit 1945“, wobei er in chronologischer Abfolge neben den temporären Schulen in den „Wartesälen“, auch die Entwicklung der jüdischen Bildungsarbeit in den deutsch-jüdischen Gemeinden bis in die Zeit der Wiedervereinigung und der Zuwanderung von Juden aus der ehemaligen Sowjetunion ausführlich darstellen.

Da im Judentum das Lernen einen traditionell hohen Wert hat, nahmen schon wenige Monate nach der Niederschlagung des Nationalsozialismus Lagerschulen ihren Unterricht auf. „Englisch- und Hebräischkurse finden bereits statt, doch es werden dringend Lehrbücher und Unterrichtsmaterial benötigt“, beklagte etwa Judah Nadich, US Special Consultant on Jewish Affairs, nach einer Inspektionsreise durch die jüdischen Camps im September 1945. Ab 1946 sorgte die US-amerikanisch-jüdische Hilfsorganisation American Jewish Joint Distribution Committee, kurz Joint genannt, für Abhilfe, indem sie massenhaft Reproduktionen hebräischsprachiger und anderer Lehrwerke druckte und an die Schulen verteilen ließ. Mit der Gründung des Zentralkomitees (ZK) der befreiten Juden und ihrer Referate kümmerten sich zunächst das Kulturamt und später das Board for Education und Culture, ein Fachausschuss, der sich aus Vertretern des ZK, des Joints und der Jewish Agency zusammensetzte, um die Bildungsarbeit in den Schulen und Kindergärten. Während das ZK und die Jewish Agency einen Lehrplan mit einer klaren zionistischen Ausrichtung anstrebten, favorisierte der Joint eine eher offene Bildungsvermittlung, die nicht ausschließlich die Alija, also die Auswanderung in den jüdischen Staat zum Ziel hatte. Letztlich gelang es, ein ausgewogenes Curriculum für die fünf Jahrgangsstufen umfassenden Volkschulen zu erarbeiten, das sich an den säkularen Tarbut-Schulen im Vorkriegspolen orientierte. Nachdem auf einer Lehrerkonferenz im Frühjahr 1947 die Forderung nach einer „Hebräisierung“ der Schulen nicht mehr zu überhören war, wurde das Curriculum überarbeitet. Im Mittelpunkt stand nun der als „muttersprachlich“ bezeichnete Hebräischunterricht, gefolgt von den Fächern Mathematik, Religion, Palästinografie, Biologie und Sport. Zudem wurde die Wochenstundenzahl deutlich erhöht und betrug in der ersten Klasse 24 Stunden und in der sechsten Jahrgangstufe 35 Stunden.

Anhand der nach dem hebräischen Nationaldichter Chaim Nachman Bialik benannten „Bet Bialik Schule“ im DP-Camp Stuttgart zeichnet Springborn exemplarisch den Lehrbetrieb in den Lagerschulen nach. Als ein weiteres Beispiel thematisiert der Autor das abweichende Curriculum in der jüdischen Schule im internationalen DP-Children’s Center Prien. Diese Einrichtung beherbergte nicht nur jüdische Jungen und Mädchen, sondern auch nichtjüdische Kinder und Jugendliche aus zahlreichen osteuropäischen Ländern. Beide Gruppen hatten jedoch ein gemeinsames Ziel: die Auswanderung in den angloamerikanischen Raum. Daher standen in der jüdischen Schule weder Hebräisch und Palästinografie auf dem Stundenplan, sondern Fächer wie Englisch, Mathematik, aber auch jüdische Geschichte. Nicht ohne Grund: Im Mai 1948 waren zwei Drittel aller Bewohner des Children’s Center Prien im Besitz eines kanadischen Visums. Bereits zuvor hatten nicht wenige die Reise nach Nordamerika angetreten.

Da sich das Selbstverständnis der Israelitischen Kultusgemeinden in Deutschland stark von der jüdischen DP-Community unterschied, ist es nicht verwunderlich, dass die hebräische Sprache und der Zionismus in der Bildungsarbeit keine zentrale Rolle mehr spielten. Die Führung der liberal-konservativen deutschen Gemeinden knüpfte mehr oder weniger an die Tradition des deutschen Judentums vor der Shoa an. Es galt zuerst jüdische Religion und Kultur an die junge Generation zu vermitteln. Dafür steht beispielsweise der schon in den frühen 1950er-Jahren wieder aufgenommene Religionsunterricht in der Jüdischen Gemeinde Frankfurt/Main und die 1966 eröffnete „Isaak-Emil-Lichtigfelt-Schule“, die erste jüdische Grundschule in der Bundesrepublik Deutschland. Auch jüdische Kindergärten wurden von den Gemeinden gegründet. Schon Ende 1946 konnten 17 Jungen und Mädchen den Kindergarten der Jüdischen Gemeinde Berlin in der Joachimsthaler Straße besuchen. Eine weitere Tagesstätte in der Rykestraße nahm kurz darauf ihren Betrieb auf. Viele der Jungen und Mädchen stammten aus sogenannten Mischehen oder waren mit ihren Eltern aus dem Exil zurückgekehrt. Obwohl die Quellenlage zu den jüdischen Kindergärten bis in die 1950er Jahre sehr spärlich ist, gelingt es dem Autor einen kleinen informativen Überblick vorzulegen.

Mit der Gründung der Zentralwohlfahrtsstelle der Juden in Deutschland (ZWST) im Jahr 1951, die sich zunächst hauptsächlich mit „Wiedergutmachungsfragen“ beschäftigte, gelangten jedoch bald auch Bildungsfragen in den Fokus der Vereinigung. Ein eigenes Jugendreferat bot allgemeine Wissensvermittlung und musisch-künstlerische Erziehung sowie Freizeiten an. Der Jugendreferent Harry Maor übersetzte beispielsweise ein israelisches Lehrbuch der jüdischen Geschichte ins Deutsche und war als Hochschullehrer der Soziologie „richtungsweisend für die intellektuelle Auseinandersetzung der Jugenderzieher mit ihrer eigenen Identitätsproblematik“, wie Springborn schreibt. Gemeint war damit der bei vielen jungen deutschen Juden vorhandene Konflikt im „Land der Täter“ zu leben und sich als Jude und Deutscher zu definieren.

Im Jahr 1955 konnten durch die Einrichtung eines eigenen Kulturdezernats beim Zentralrat, unter der Leitung von Hans Lamm, konkrete Schritte in der Bildungsarbeit eingeleitet werden. Es wurde ein Curriculum für jüdische Fächer entworfen und die Beschaffung von Lehrbüchern und die Weiterbildung von Pädagogen in Angriff genommen. Doch von regelmäßigen Fortbildungen und klaren Vorgaben konnte noch keine Rede sein. Das änderte sich erst nach der zentralen Lehrertagung im Dezember 1960, auf der ein verbindlicher Lehrplan für den jüdischen Religionsunterricht diskutiert wurde. Lange Zeit war die bereits erwähnte Lichtigfeld-Schule die einzige allgemeine jüdische Schule in der Bundesrepublik. Erst 1969 öffnete die Sinai-Schule der Israelitischen Kultusgemeinde München ihre Pforten und 1986 die Heinz-Galinski-Schule in Berlin.

Mit der Wiedervereinigung und dem darauffolgenden Zuzug von sogenannten Kontingentflüchtlingen aus den Staaten der ehemaligen Sowjetunion waren die jüdischen Gemeinden mit großen Herausforderungen konfrontiert, auch und gerade in Fragen der Bildungsarbeit. Viele Zuwanderer hatten nur wenige Kenntnisse von jüdischer Kultur und Tradition und teilweise nur geringes Interesse an religiösen Inhalten. Zudem verfügten sie kaum über ausreichende Deutschkenntnisse. Mit von den Gemeinden oder der ZWST veranstalteten Ferienlagern und dem Aufbau von Jugendbegegnungsstätten wurde versucht, ihre Sprachkompetenz zu fördern und sie ans Judentum heranzuführen. Allein in den 1990er Jahren kam es in vielen Städten zur Gründung von Bildungs- und Begegnungsstätten, wie in Leipzig, Dortmund, Berlin, Chemnitz, Stuttgart, Düsseldorf oder Bremen – zahlreiche weitere folgten, die letzte dieser Einrichtungen war 2018 die „Jewish International School -Masorti Grundschule“ in Berlin.

Matthias Springborns Studie beschreibt auf breiter Quellenbasis fußend den Aufbau und die Entwicklung der jüdischen Bildungseinrichtungen für Kinder und Jugendliche im „Land der Täter“ seit der Shoa. Allein ein Drittel seiner Arbeit beleuchtet kenntnisreich den kulturellen Neuanfang im Transit der DP-Camps. Dabei knüpft er an die grundlegende Arbeit von Jacqueline Giere „Wir sind unterwegs, aber nicht in der Wüste“ über Erziehung und Kultur in den „Wartesälen“ an, deren 1993 vorgelegte Dissertation leider nie als Buch verlegt wurde. Obwohl mittlerweile zahlreiche Veröffentlichungen zur Geschichte des deutschen Judentums nach 1945 vorliegen, wurde die deutsch-jüdische Bildungsgeschichte ab 1950 zumeist nur am Rande erwähnt. Mit seiner Darstellung zur jüdischen Bildungsarbeit in den Israelitischen Kultusgemeinden bis 1989 und ihre Neuorientierung und Erweiterung aufgrund der bedeutenden Zuwanderung von russischsprachigen Juden, legt Springborn ein fundiertes historisches Überblickswerk vor. Eine sinnvolle Ergänzung und anregende Lektüre zur leider auch nicht veröffentlichten Dissertation „Institutionelle Erziehung und Bildung jüdischer Kinder in Deutschland“ von Kristina Dietrich (Universität Dresden 2013), die ihre Forschungsarbeit eher aus einer erziehungswissenschaftlichen Perspektive anging. – (jgt)

Eine gekürzte Version erschien in der Zeitschrift für Geschichtsforschung (ZfG) 7/2022.

Matthias Springborn, Jüdische Kinder- und Jugendbildung in Deutschland seit 1945. Schulungskontexte und Wissensbestände im Wandel, be.bra Wissenschaftsverlag, Berlin 2021, 411 Seiten, 48 Euro, Bestellen?

Bild oben: Grundschulklasse im jüdischen DP Children’s Center Rosenheim, Repro: nurinst-archiv (Sammlung G. K. Richman)