Nummer Zwei eskaliert

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Aus Gaza werden wieder Raketen auf israelische Städte abgeschossen. Doch diesmal ist es der Islamische Jihad, von dem die Aggressionen ausgehen. Die regierende Hamas hält sich aus dem aktuellen Schlagabtausch heraus – im Moment jedenfalls.

Von Ralf Balke

Auf den ersten Blick sieht es aus, als ob sich ein altbekanntes Ritual wiederholt. Wie bereits in den Jahren zuvor werden aus dem Gazastreifen hunderte Raketen auf israelisches Gebiet abgeschossen. Fast alle von ihnen werden vom Abwehrsystem Iron Dome vom Himmel geholt. Und Israel nimmt als Reaktion auf die Angriffe die militärische Infrastruktur der Terrorgruppen und ihr Führungspersonal ins Visier. So weit, so vertraut das Bild – doch diesmal ist einiges anders. Der erneute Schlagabtausch begann am Freitag, kurz nachdem Israels Armee Tayseer al-Jabari, einen ranghohen Kommandeur des Islamischen Jihad, der zuständig für das Raketenarsenal der radikalen Islamistengruppe war sowie ihr Verbindungsmann zur Hamas, gezielt getötet hatte. Daraufhin flogen bald schon die ersten Geschosse Richtung Sderot und die Kibbuzim im Umland des Gazastreifens sowie nach Ashkelon und Ashdod. Der sich in Teheran aufhaltende Anführer des Islamischen Dschihad, Ziad al-Nakhalah, schwor in der den Islamisten eigenen pathetischen Diktion, die Ermordung von Jabari zu rächen. „Wir ziehen in die Schlacht, und es wird kein Waffenstillstand nach diesem Luftangriff geben“, erklärte er. „Dieser Krieg wird für das palästinensische Volk vorteilhaft ausfallen. Der Feind muss mit einer Schlacht rechnen, nicht mit einem Waffenstillstand.“ Im Moment jedenfalls, und das ist das Besondere an dieser aktuellen Runde im Konflikt zwischen Israel und dem Gazastreifen, steht der Islamische Jihad, die Nummer Zwei unter den Terrorgruppen vor Ort, aber so ziemlich alleine da. Die „Schlacht“ muss wohl ohne die Hamas an seiner Seite stattfinden.

Und es gibt eine Vorgeschichte und die beginnt ganz woanders: So hatten am Montagabend israelische Sicherheitskräfte bei einer Razzia in Jenin den 61-jährigen Bassem Saadi verhaftet, einem laut Inlandsgeheimdienst Shin Bet „bedeutenden militärischen Akteur der Organisation im nördlichen Westjordanland im Allgemeinen und in Jenin im Besonderen“. Daraufhin verschärfte Israel die Sicherheitsmaßnahmen, beispielsweise wurde der zivile Verkehr im Umland des Gazastreifen stark eingeschränkt, weil es konkrete Hinweise darauf gab, dass sich der Islamische Jihad für die Gefangennahme von Bassem Saadi revanchieren würde, und zwar durch gezielte Attacken auf Zivilisten und Militärangehörige. Tayseer al-Jabari gehörte ganz offensichtlich zu den Personen, die genau das geplant hatten, wie Ran Kochav, Sprecher der israelischen Armee im TV-Sender „Arutz 12“ am Freitagabend betonte. Hinweise auf Aktivitäten dieser Art habe es schon Wochen vor der Verhaftung in Jenin gegeben. Zudem hatte sich Tayseer al-Jabari in der Vergangenheit mit genau solchen Aktionen hervorgetan – schließlich war er es, der im Mai vergangenen Jahres die Raketenangriffe des Islamischen Jihads auf Israel koordiniert und die Attacken mit Panzerabwehrraketen auf israelische Fahrzeuge im Umland des Gazastreifens befohlen hatte, wobei mehrere Personen zu Schaden gekommen waren. Kurzum, Israel hatte mit Tayseer al-Jabari noch die eine oder andere Rechnung offen.

Am Sonntagmorgen dann meldete die israelische Armee dass man im Rahmen der „Operation Morgendämmerung“ – so nun die offizielle Bezeichnung – weiteren ranghohen Kommandeurs des Islamischen Jihad getötet hatte. Diesmal sollte es Khaled Mansour treffen. Veröffentlicht wurde ein Video des Luftangriffs, bei er zusammen mit zwei weiteren Anführern, und zwar Mansours Stellvertreter Ziad Madalal sowie Khattab Amassi, Kopf der Rafah-Brigade des Islamischen Jihads, neutralisiert wurde. Generalmajor Oded Basiuk, zuständig für die Militäroperation Israels, erklärte daraufhin, dass man „auf Basis aller zur Verfügung stehenden Informationen“ sagen könne, dass das Führungspersonal der Terrororganisation nun getötet worden sei. Zudem habe man in der „Operation Wellenbrecher“ im Westjordanland am Wochenende weitere 20 Islamische Jihad-Terroristen dingfest gemacht. Nichtsdestotrotz vermochte es der Islamische Jihad bis Sonntagmittag mehr als 600 Raketen auf Israel abzufeuern. Wieder einmal ertönten in Ashdod und Ashkelon die Sirenen, diesmal aber auch in Modi’in und sogar in Jerusalem. Mehrere dutzend Personen wurden dabei verletzt, als sie versuchten, so schnell wie möglich in einen Schutzraum zu gelangen. Im Gazastreifen dagegen kostete der aktuelle Schlagabtausch nach Angaben des Hamas-eigenen Gesundheitsministeriums bis dato 29 Menschenleben, darunter sechs Kinder. Ihr Tod geht offensichtlich auf ein fehlgeleitetes Geschoss des Islamischen Jihads zurück, dass in das Flüchtlingslager Jabaliya im Gazastreifen einschlug. Denn nicht alle der Richtung Israel abgeschossenen Raketen kommen dort auch an. Bis Samstagnachmittag wurden rund 70 Raketen gezählt, die auf dem eigenen Territorium landeten und dort erhebliche Zerstörungen verursachten, weshalb neun der 29 Toten wohl selbst verschuldet waren.

Bis Sonntagnachmittag gab es keinerlei Anzeichen dafür, dass die im Gazastreifen herrschende Hamas sich an den Kämpfen beteiligen wird. Zwar gab es die üblichen Deklarationen von der Solidarität untereinander. Auch wurde der gemeinsame Widerstand beschworen – doch zurzeit sind das alles nur Lippenbekenntnisse. So ließ der Hamas-Anführer Ismail Haniyeh verlauten, er habe „bei Gesprächen mit dem ägyptischen Geheimdienstchef bekräftigt, dass für alles, was gerade im Gazastreifen geschieht, allein das Besatzer-Regime die Verantwortung“ trage. Zugleich aber betonte er, „die Notwendigkeit, die Bombardierung des Gazastreifens zu beenden“ – Kampfeswille sieht definitiv anders aus. Eine weitere Erklärung, diesmal von Fawzi Barhoum, Sprecher der Hamas, enthielt ebenfalls keinerlei Hinweis darauf, dass sich seine Gruppe an den Kämpfen beteiligen wolle. „Der Widerstand ist in diesem Kampf vereint und wird unser Volk im Gazastreifen mit allen Waffen, die er besitzt, verteidigen und die Besatzung schlagen, wie er sie in allen Schlachten zuvor schon geschlagen hat.“

Die Hamas ist gewiss weiterhin fern davon, einen friedlichen Ausgleich mit Israel zu suchen. Doch aktuell will man nicht in eine weitere militärische Konfrontation mit Israel hineingezogen werden. Das bringt die regierenden Islamisten in eine Zwickmühle. Einerseits ist die wirtschaftliche Situation in dem Küstenstreifen derart desolat, dass jederzeit soziale Unruhen drohen. So sah man sich gezwungen, zum 1. August massive Steuererhöhungen auf Dinge des täglichen Gebrauchs zu beschließen – ein Indiz dafür, dass man finanziell wieder einmal aus dem letzten Loch pfeift. Maßnahmen dieser Art machen die Hamas im Gazastreifen, wo sich die Arbeitslosigkeit der 50-Prozent-Marke nähert, gewiss nicht beliebter. Und ein größerer Krieg würde die Situation nur noch verschlimmern, weshalb man über die vom Islamische Jihad ausgelöste Eskalation nicht gerade begeistert ist. Andererseits steht die Hamas unter Druck, möchte auf keinen Fall als Kollaborateur oder Zögerer wahrgenommen werden und letztendlich der Konkurrenz damit das Feld des Handelns überlassen. Denn mit dem Islamischen Jihad ist ihr dank massiver Hilfen aus dem Iran ein gefährlicher Rivale herangewachsen. Und die Verhaftungen der vergangenen Wochen im Westjordanland zeigen, dass die Terrorgruppe auch dort zu einer Bedrohung geworden ist, diesmal aber für die Palästinensische Autonomiebehörde.

Die Tatsache, dass der Islamische Jihad unabhängig von der Hamas Entscheidungen trifft, die auf eine militärische Konfrontation mit Israel hinauslaufen, und die Organisation über ein eigenes,  derart großes Arsenal an Raketen verfügt, bereitet nicht nur den Verantwortlichen in Jerusalem große Sorgen, sondern ebenfalls der ideologisch mit dem Islamische Jihad eng verwandten Hamas. Deshalb wäre die Hamas-Führung aktuell gar nicht so unglücklich, wenn Israel ihr ein wenig die Schmutzarbeit abnimmt, und der Nummer Zwei eine Lektion erteilt, also sie deutlich schwächt. Genau deshalb handelt es sich bei dem aktuellen Schlagabtausch auch um einen Konflikt, der exklusiv zwischen Israel und dem Islamischen Jihad stattfindet. Das ist auch daran zu erkennen ist, dass weder das Personal der Hamas, noch ihre Infrastruktur im Moment von Israel angegriffen werden. Und in seiner Ansprache am Freitagabend hatte Ministerpräsident Yair Lapid eigens betont, dass „Israel nicht an einem größeren Konflikt in Gaza interessiert ist, aber auch nicht davor zurückschrecken würde“. Ferner verwies er darauf hin, dass der „Islamische Dschihad ein iranischer Stellvertreter ist“ und die Anführer, die sich nicht im Gazastreifen aufhielten, im Iran oder in Syrien befinden. Damit weicht Lapid von der üblichen israelischen Haltung ab, für alles, was im Gazastreifen geschieht, automatisch die dort regierende Hamas verantwortlich zu machen und entsprechend zur Rechenschaft zu ziehen.

Die Hamas ihrerseits hofft nun, dass Ägypten oder Qatar einen Waffenstillstand zwischen Israel und dem Islamischen Dschihad zustande bringen, und zwar so schnell wie möglich. Ansonsten könnte der Druck zu groß werden, sich an Seite des Islamischen Jihad doch noch an dem Konflikt zu beteiligen, was dann der Fall wäre, wenn die Auseinandersetzungen sich hinziehen und die Zahl der Opfer im Gazastreifen in die Höhe schnellt. Die Hamas weiss aus eigener Erfahrung, was ihr ansonsten drohen könnte. Schließlich war sie es, die in den 1990er Jahren die Palästinensische Autonomiebehörde herausgefordert hatte, diese als schwach und Handlanger der Zionisten denunzierte sowie eine Art Staat im Staate schuf. Das führte letztendlich im Sommer 2007 dazu, dass die Islamisten nach einem blutigen Zwist mit den Nachfolgern von Yassir Arafat, die das Feld räumen mussten, die Herrschaft über den Küstenstreifen übernahmen. Nun hat die Hamas Angst, dass sich die Geschichte wiederholen könnte. Die kommenden Tage werden zeigen, ob das alles so funktioniert, wie es die Islamisten wollen. Ist kein schneller Waffenstillstand in Sicht, wäre die Hamas im Konflikt mit Israel zwangsweise bald an der Seite der bisherigen Nummer Zwei beteiligt. Und Israel hätte dann zwei gefährliche Feinde gleichzeitig zu bekämpfen.