Marcel Proust und das Judentum

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Kann man heute den siebenteiligen Roman Auf der Suche nach der verlorenen Zeit von Marcel Proust (1871-1922) noch lesen? Für viele potentielle Leser ist das schwierig, weil die Zeit verstrichen ist und sich die kulturellen Bedingungen geändert haben. Proust, dieser so gern zitierte Schriftsteller, ist in Wirklichkeit weitgehend unbekannt, weil er von einem immer eiligeren Publikum – das über unzählige historische und künstlerische Anspielungen und die Komplexität mancher Analysen stolpert – kaum gelesen wird.

Von Karl Pfeifer

Die Pariser Zeitschrift „Revue des deux Mondes“ hat in ihrer aktuellen Ausgabe einen Schwerpunkt: „Antisemitismus, Affäre Dreyfus, Assimilation PROUST UND DIE JUDEN“, der sich auch mit der Beschuldigung auseinandersetzt, Proust habe in seinem Werk dem Antisemitismus Vorschub geleistet. Fakt ist, Proust hätte – auch wenn er das gewollt hätte – nicht leugnen können, dass seine Mutter Jeanne Weil Jüdin war und nach ihrer standesamtlichen Heirat mit dem katholischen Mediziner Adrien Proust ihre Religion nicht gewechselt hatte. Marcel Proust wurde katholisch getauft und war selbst einige Mal Zielpunkt antisemitischer Angriffe.

„Proust von der jüdischen Seite“ (Proust du côté juif, Gallimard, 2022) von Antoine Compagnon, Mitglied der Académie Française, Schriftsteller und emeritierter Professor am Collège de France ist eines dieser seltenen, prägnanten und markanten Bücher, die ihren Gegenstand erneuern und viele der heutigen Missverständnisse ausräumen. Proust, der durch seinen Vater katholisch und ein leidenschaftlicher Dreyfusard war, hat sein Judentum nie verleugnet. Aber Prousts Zugehörigkeitsgefühl und sein Interesse an der zionistischen Sache nach dem Krieg von 1914 wurden bei weitem nicht richtig eingeschätzt. In seinem neuen Buch, das das Ergebnis einer Untersuchung mit zahlreichen Wendungen und ebenso vielen entscheidenden Entdeckungen ist, wirft Antoine Compagnon unvorhersehbare Lichter auf ein Thema, das wieder Bedeutung erlangte:

„Revue des Deux Mondes – Stehen all diese Arbeiten und Ihr letztes Buch nicht in Zusammenhang mit dem Aufkommen und der Radikalisierung von Analysen, die die Idee eines antisemitischen Proust aus Gründen der Verneinung seines Wesens oder der Vorsicht durchsetzen wollen?

Antoine Compagnon: Es stimmt, dass diese Tendenz in den letzten zwanzig Jahren zugenommen hat und dass sie nicht gerade durch subtile Analysen glänzt, ob es sich nun um den historischen Kontext handelt, der Proust eigen ist, oder um die Erzählstimmen, die sich in À La Recherche kreuzen. Der Erzähler ist dort nicht einfach ein Alter Ego von Proust und er selbst, der durch seine Mutter jüdisch ist, hat nicht alle Juden in seinem Roman zu so exemplarischen Figuren gemacht wie Swann. Mein letztes Buch ist vor allem das Ergebnis einer Untersuchung von Prousts Familie mütterlicherseits, die niemand zuvor soweit geführt hatte.

Am Anfang steht ein Zitat, das mich lange Zeit fasziniert hat und das alle Biografen des Schriftstellers erwähnen, ohne es jemals erläutert zu haben.

Es ist Proust, der spricht, aber wir wussten nicht, zu wem und wann. Hier ist, was er an den unbekannten Adressaten schreibt: ‚Es gibt niemanden mehr, nicht einmal mich, da ich nicht aufstehen kann, der entlang der Rue du Repos den kleinen jüdischen Friedhof besucht, auf dem mein Großvater jedes Jahr nach dem Ritus, den er nie verstanden hatte, einen Stein auf das Grab seiner Eltern legte.‘ Der Text soll aus Prousts letzten Lebensjahren stammen, als ihn die Krankheit oft ans Bett fesselte und es ihm unmöglich machte, etwas zu tun, was wohl eine Pflicht zur Erinnerung war, ein Ritual, das fast unklar geworden war, an dem er aber festhielt.“

Prousts Urgroßvater Baruch Weil (1780-1828), ein gebürtiger Elsässer, verbrachte einen Teil seiner Kindheit in Deutschland, von wo er eine große Meisterschaft in der Porzellanherstellung mitbrachte. Das Familiengeschäft verlagerte sich während des Direktoriums nach Frankreich und erreichte seinen Höhepunkt während des Kaiserreichs und der Restauration. Baruch wurde anlässlich der Krönung von Charles X.(1824) zum Ritter der Ehrenlegion ernannt. Dieser Honoratior der Restaurationszeit war dennoch stark in das Leben seiner Glaubensbrüder eingebunden, da er der anerkannte Beschneider der aschkenasischen Gemeinde in Paris war und alle seine Söhne, aus erster und zweiter Ehe selbst beschnitt.

Es wäre natürlich eine grobe Verkürzung, wenn man übersehen würde, wie verwurzelt im seinerzeitigen Katholizismus Proust war. Unter den Befürwortern eines Goncourtpreis (1919) für Proust war auch der Antisemit Leon Daudet, der nach der Preisverleihung jubelte: „Seit der Gründung der Akademie im Jahr 1903 haben wir kein Werk ausgezeichnet, das so so kraftvoll, so neu, so voller Reichtümer war, darunter einige davon völlig originell“.

Der Kollaborateur Robert Brasillach publizierte auf der Titelseite von « Je suis partout“ vom 12. Februar 1943 einen Artikel und fragte ob man sich „in der Welt noch für Proust interessieren“ kann. Er gestand, dass er nie aufgehört hat, ihn zu lesen seit seinem 17. Lebensjahr (d. h. 1926). „Denn man muss auf die Wahrheit zurückkommen. Proust ist ein großer französischer Romanschriftsteller, einer der größten französischen Romanciers.“

Der wütende Judenhasser Céline reagierte darauf. „Proust ist in erster Linie ein jüdischer Schriftsteller, der die Aufgabe erfüllt hat, die ihm seine Herkunft auferlegt: die Ausrottung der arischen Eliten vorzubereiten! Als Argumentationshilfe dienen auch hier wieder Analogie und Metapher: Der Proustsche Stil ist „eine Art Tüll, ein Lack, schillernd, makellos“, der wie der Schleim der Raupe „alles, was er berührt und schleimt, einfängt, erstickt, reduziert“. Und Proust hat auf diese Weise die „verrotteten Eliten des mondänen Adels, der Invertierten usw. im Hinblick auf ihre Abschlachtung“ umgarnt.“ (« Du côté de chez Proust par L.-F. Céline », Révolution nationale, 20.02.1943).

Tatsache ist, dass Proust während der deutschen Besatzung auf keiner Verbotsliste stand und so dürfen wir uns auch nicht wundern, dass der geschäftstüchtige Verleger Gallimard während dieser Zeit Prousts Bücher in großen Auflagen drucken und verkaufen konnte.

Unter dem Vichy-Regime wurde Proust Bestandteil der Lehrpläne der Schulen. Dies ist Pierre Clarac zu verdanken, einem prominenten Proustianer, der 1942 Generalinspektor für das öffentliche Bildungswesen wurde. Dazu wählte man natürlich nicht irgendeinen Text. Die Wahl fiel auf die erste Beschreibung von Combray, einer kleinen Gemeinde, die sich eng um ihren Kirchturm und ihre althergebrachten Rituale schmiegt. Proust wurde als Schriftsteller der Provinz und nicht des modernen Paris gelesen.

Wie viele Häftlinge und Internierte haben Proust in ihren Kerkern gelesen? Es gibt mindestens zwei berühmte Proust-Leser: Emmanuel Levinas und Jean Zay. Der jüdische Philosoph Emmanuel Levinas, ein gebürtiger Litauer, der unter anderem durch das Abschreiben ganzer Sätze von Proust Französisch gelernt hatte, wurde von Juni 1940 bis April 1942 im in Rennes inhaftiert, bevor er nach Fallingbostel, Deutschland verlegt wurde. Während seiner fünfjährigen Haft las er À La Recherche erneut, wie man aus seinen Tagebüchern aus der Gefangenschaft erfährt.

Leutnant Jean Zay, der von 1936 bis 1939 Bildungsminister war, wurde am 4. Oktober 1940 in einem Scheinprozess in Clermont-Ferrand zur gleichen Strafe wie Hauptmann Dreyfus (Deportation und Degradierung) verurteilt und zahlte einen hohen Preis für seine Teilnahme an der Volksfront. Er wurde schließlich im Gefängnis von Riom inhaftiert, Bücher wurden ihm verboten und als sie dann wieder erlaubt wurden, bat er seine Schwester um À La Recherche. Die Schwiegertochter von Léon Blum versorgte ihn mit den wertvollen Bänden, die er von Juli bis Dezember 1942 las. Proust inspirierte ihn am 12. Mai 1943, an seinem tausendsten Tag in Haft, zu einer schrecklichen Feststellung:

„Die Gefangenschaft verändert nach und nach den Begriff der Zeit, bringt ihre Dimensionen durcheinander. Erst im Gefängnis versteht man Proust. Er wollte die Zeit fixieren, das heißt, sie abschaffen, denn das ist dasselbe“.

Am 20. Juni 1944 wurde Jean Zay von drei Milizionären in den Wäldern von Cusset in der Nähe von Vichy ermordet. Nur wenige Kilometer entfernt lebte ein elfjähriger Junge, der sich in einem Internat versteckte, ein Waisenkind, das es noch nicht weiß und das zu einem großen Historiker des Nationalsozialismus und einem verdammt guten Proust-Leser werden wird – Saul Friedländer.

Dieser Breitrag erschien zuerst in der Illustrierten Neuen Welt.