Und tschüss!

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Seit rund zwei Monaten bereits kriselt es heftig in der Acht-Parteien-Koalition von Ministerpräsident Naftali Bennett und Außenminister Yair Lapid. Deshalb haben am Montag beide beschlossen, kommende Woche über die Auflösung der Knesset abstimmen zu lassen. Damit steuert Israel ziemlich zielsicher auf Wahlgang Nummer Fünf in nur dreieinhalb Jahren zu.

Von Ralf Balke

Sein Dienstjubiläum hatte Ministerpräsident Naftali Bennett sich gewiss anders vorgestellt. Am 13. Juni sollte er genau ein Jahr an der Spitze eines Bündnis von Linkszionisten, zentristischen Gruppierungen sowie rechten Nationalisten und einer arabischen Partei stehen. Doch nach Feierlaune war an diesem Tag wohl niemandem zumute. Denn bereits seit April war es Essig mit der ohnehin hauchdünnen Mehrheit von 61 Stimmen in der Knesset mit ihren 120 Abgeordneten. Erst verabschiedete sich Idit Silman aus Bennetts eigener Yamina-Partei aus der Acht-Parteien-Koalition, dann brachten Ghaida Rinawie Zoabi, die arabische Vertreterin von Meretz im Parlament, sowie Michael Biton von Blau-Weiß die Regierung in Bedrängnis, in dem beide ihr die Gefolgschaft verweigerten. Last but not least kam es noch zum handfesten Krach mit Nir Orbach, ebenfalls ein Partei-Kollege des Ministerpräsidenten. Kurzum, von Koalitionsdisziplin und konstruktiver Zusammenarbeit war schon länger keine Rede mehr. Mehrheiten, wie zuletzt bei der Abstimmung über die Verlängerung der Ausweitung des israelischen Zivilrechts auf jüdische Siedlungen im Westjordanland, sollten einfach nicht mehr zustande kommen. Oder anders ausgedrückt: Die Regierung war schon seit geraumer Zeit schlichtweg handlungsunfähig.

Am Montagabend kam dann der Befreiungsschlag. „Vergangenen Freitag wurde mir von Sicherheitsexperten und Rechtsberatern berichtet, dass mit dem Auslaufen der Bestimmungen für Judäa und Samaria der Staat Israel ins Chaos stürzen könnte. Das werde ich auf keinen Fall zulassen“, erklärte Bennett in einer eilig zusammen mit Lapid einberufenen Pressekonferenz. Daher hätte er sich mit seinem „Freund Yair Lapid“ darauf verständigt, „die Knesset aufzulösen und einen Termin für Neuwahlen zu bestimmen“. Die Rede ist vom 25. Oktober diesen Jahres. „Im Gegensatz zur Opposition, die die Sicherheit Israels zu einem politischen Spielball gemacht hat, habe ich mich geweigert, diese auch nur einen Tag lang zu gefährden“, so Bennett weiter. Denn durch diesen Schritt verlängert sich die Ausweitung des israelischen Zivilrechts auf jüdische Siedlungen im Westjordanland automatisch um weitere sechs Monate. Eine erneute Abstimmung ist also erst einmal nicht notwendig.

Doch mit dem Verweis auf das sogenannte „West Bank Bill“ wollen Bennett und Lapid von ihren eigentlichen Motiven ablenken. Mit der Entscheidung, nun die Auflösung der Knesset einzuleiten, will das Duo nämlich etwas völlig anderes erreichen, und zwar einen Urnengang zu ihren Konditionen. Auf keinen Fall möchte man durch eine Stichwahl im Parlament von der Opposition zum Rücktritt gezwungen werden. Das käme einer Demütigung gleich und hätte für beide einen massiven Imageverlust zur Folge. Dabei ist dieses Szenario noch gar nicht vom Tisch.

So verkündete Benjamin Netanyahu unmittelbar nach der Pressekonferenz der beiden, dass sich seine Partei zwar nun auf den baldigen Wahlkampf vorbereite, man aber eine solche Kampfabstimmung keinesfalls ausschließen würde. Ob diese wirklich von ihm initiiert wird, das bleibt also noch offen. Abtrünnige aus den Reihen der Koalition, die sofort die Seiten wechseln, um mit ihm eine Alternativregierung zu bilden, dürften sich schnell finden – vor allem in den Reihen von Gideon Sa’ars Gruppierung Tikva Hadasha oder auch in Yamina. Bei ersterer grassiert die Angst, man könnte seinen Platz in der Knesset verlieren, weil die Partei unter die 3,25 Prozent-Hürde fallen dürfte, bei letzterer war mancher ohnehin unzufrieden darüber, mit den Linkszionisten und Ra‘am zusammenarbeiten zu müssen. Es ist also alles nur eine Frage des richtigen Angebots.

„Heute ist etwas Großartiges passiert“, freute sich denn auch der ehemalige Ministerpräsident nach der Pressekonferenz von Bennett und Lapid. „Die Menschen lächeln heute Abend, weil sie das Gefühl haben, dass wir endlich die schlimmste Regierung in der Geschichte Israels loswerden“, sagte er zu Reportern, sprach von einer Kapitulation der jetzigen Koalition vor dem Terrorismus und fügte hinzu, dass es mit ihm an der Spitze einer neuen Regierung keine Zusammenarbeit mit der islamistischen Ra’am-Partei und ihrem Vorsitzenden Mansour Abbas geben werde. „Die Lebenshaltungskosten haben einen Rekord erreicht, es gibt neuerdings einen Verlust an Nationalstolz und Menschen, die Angst haben, die israelische Flagge zu zeigen,“ so Netanyahu weiter. Spätestens hier hätten die Journalisten einhaken müssen – schließlich war er es, der im Frühjahr 2021 nichts unversucht gelassen hat, um Mansour Abbas von der Ra‘am-Partei als Koalitionspartner zu gewinnen und ihn heftig umwerben sollte. Und es geschah in den Jahren seiner Regierung, dass die Lebenshaltungskosten völlig außer Kontrolle gerieten und in ungeahnte Höhe schießen konnten.

Geradezu begeistert reagierten auf die Ankündigung von Bennett und Lapid zur Auflösung der Knesset die politischen Vertreter der Ultraorthodoxie, und zwar die aschkenasische Vereintes Torah-Judentum-Partei und die sephardische Shass. Denn die noch amtierende Acht-Parteien-Koalition stellte seit vielen Jahren die erste Regierung, an der keine der beiden beteiligt war. Deshalb vermuteten sie hinter ihrem Scheitern sogar göttliche Intervention. „Sein Name sei gepriesen in der Welt“, jubilierte beispielsweise Rabbi Shalom Cohen, das geistige Oberhaupt von Shass. „Eine Regierung, die dem Judentum und der Heiligkeit Israels großen Schaden zugefügt hat und immer wieder versuchte, beides zu zerstören, ist aus der Welt vertrieben worden. Der Heilige, gepriesen sei er, hat sich des Volkes Israel erbarmt.“ Ob sich jemand nach den Wahlen ihrer Parteien erbarmen wird, muss sich noch zeigen.

Denn der nächste Ministerpräsident heißt erst einmal Yair Lapid – das jedenfalls bestimmt der Koalitionsvertrag für den Fall einer vorzeitigen Auflösung der Knesset. Bennett muss nun den Stab an den jetzigen Außenminister weiterreichen. Lapid würde demnach geschäftsführender Ministerpräsident werden, und zwar so lange, bis nach dem Wahlen im Herbst eine neue Regierung gebildet wird. Und das kann sich locker noch bis in den Winter hineinziehen. Sollte er nach dem 25. Oktober selbst in der Lage sein, eine Koalition auf die Beine zu stellen, bleibt er im Amt. Falls das nicht der Fall sein wird, muss Lapid den Sessel letztendlich für jemand anderen freimachen. In der Rolle eines Regierungschefs auf Abruf wird er jedenfalls auch US-Präsident Joe Biden empfangen, der im Juli auf Staatsbesuch nach Israel kommt.

Die Entscheidung für eine Auflösung der Knesset sei beiden „nicht einfach“ gefallen, so Bennett auf der Pressekonferenz vom Montagabend. Aber es wäre „der richtige Entschluss“ gewesen, nachdem man wirklich alles unternommen habe, die Regierung am Leben zu erhalten. „Glauben Sie mir, wir haben nichts unversucht gelassen.“ Er wünschte Lapid alles Gute, nannte ihn auf Jiddisch einen „Mensch“, was durchaus als Kompliment zu verstehen ist, und versprach, für einen reibungslosen Übergang an der Regierungsspitze zu sorgen. Im Gegenzug äußerte sich Lapid anerkennend über Bennett, dass er „das Land über seine persönlichen Interessen gestellt“ habe und betonte, wie ihre Freundschaft sie alle politischen Differenzen hat überwinden lassen. Und die gegenseitigen Lobeshymnen sollten kein Ende nehmen. „Es geht um das, war wir zusammen geschafft haben und nicht darum, was ich alleine erreicht habe“, so Bennett und hob erneut hervor, „wie gut es war, zusammenzuarbeiten.“ Und Lapid beendete seine Ausführungen mit den Worten: “Nur gemeinsam werden wir siegen.“

Und zur Zusammenarbeit dürften beide verdammt sein, wenn sie sich erneut behaupten wollen. Denn in den letzten Meinungsumfragen – die jüngste wurde rund einer Woche vor der Pressekonferenz vom Montagabend gemacht – liegt der Likud mit aktuell 36 möglichen Sitzen in der Knesset weit vor Yesh Atid mit etwa 20 Abgeordneten. Sowohl Netanyahu als auch Lapids Partei brauchen demnach mehr als nur einen Partner, um überhaupt eine regierungsfähige Koalition bilden zu können, was in Israels fragmentierter Parteienlandschaft kein einfaches Unterfangen ist. Und selbstverständlich kann bis Ende Oktober noch einiges geschehen. Fakt aber ist, dass gleich mehrere Parteien aktuell um ihr politisches Überleben kämpfen müssen. Sowohl die Linkszionisten von Meretz, die arabische Ra‘am-Partei, aber auch Tikva Hadasha könnten an besagter 3,25 Prozent-Hürde scheitern, weshalb es nicht ganz unwahrscheinlich ist, dass sie Listenverbindungen eingehen werden, um nicht gänzlich im Nirvana zu verschwinden, beispielsweise Meretz mit der Arbeitspartei von Merav Michaeli. Ideologisch gäbe es da keine gravierenden Differenzen. Und auch die Frage, ob Yamina zerfällt oder Bestand haben wird, steht im Raum. Zu offensichtlich zeigt Ayalet Shaked, Bennetts Parteigefährtin an der Spitze von Yamina, eigene Ambitionen, weshalb ihr Zusammengehen mit den an Popularität gewinnenden Nationalreligiösen von Bezalel Smotrich eine Option sein könnte. Zudem – auch das eine israelische Spezialität – erscheinen urplötzlich immer wieder neue Parteien, oftmals von prominenten Einzelpersonen gegründet und ohne große politische Agenda, auf der Bildfläche, die dann das Zünglein in der Waage spielen, weshalb jede Form von Prognose über einen Wahlausgang reine Kaffeesatzleserei ist.

Und überhaupt, erst einmal muss kommende Woche am Mittwoch die Abstimmung über die Auflösung der Knesset reibungslos über die Bühne gehen – auch da kann es noch Überraschungen geben.

Bild oben: Der Anfang – Naftali Bennett und Yair Lapid im Gespräch nachdem sie Präsident Rivlin informierten, dass die Koalition steht, Foto: Courtesy Yesh Atid